Frame: "Universalität unter pragmatischem Anspruch - Philosophie im Bologna-Prozess" |
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Reflex Universalität
unter pragmatischem Anspruch Beitrag zum Symposium im Bereich: Lebenswissenschaften / Biologie / Medizin Eckhard Schiffer (unter Mitarbeit von Rudolf Süsske) Quakenbrück |
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Im Jahre 1850 wurde an deutschen Universitäten das Philosophikum im Rahmen des Medizinstudiums abgeschafft. Anstelle dessen hatten die angehenden Mediziner das Physikum zu absolvieren. Zwar waren zuletzt in dem Philosophikum nur noch Fragen zur Logik gestellt worden, aber es war schon ein deutliches Signal, das mit der Abschaffung des Philosophikums gesetzt wurde. 50 Jahre später eröffnete der Internist Bernhard Naunyn (1839 – 1925) den Kongress der Naturforscher in Aachen. Rhetorischer Höhepunkt seines Festvortrages war der programmatische Satz: „Die Medizin wird eine Naturwissenschaft sein, oder sie wird nicht sein!“ In der Kantschen Begrifflichkeit bedeutete dies eine Festlegung auf eine „Anthropologie in physiologischer Hinsicht“. Nun hat die Medizin, der ein solches Menschenbild zugrunde liegt, in der Transplantationsmedizin und der damit verbundenen Neudefinition des Todes, der Reproduktionsmedizin und der damit verbundenen Neudefinition des Lebensbeginnes wie auch im Rahmen der in vitro fertilisation – mit ihren katalogähnlichen Auswahlmöglichkeiten für einen idealen Menschen – zu Konflikten geführt, die mit dem naturwissenschaftlichen Denken allein nicht zu lösen sind. Dies gilt insbesondere dann auch für die Fragen, die mit den Ergebnissen der Neurobiologie entstanden sind. Der eigentümlichen Durchdringung des „bios“ der Biographie und der Biologie wird ein naturwissenschaftliches Denken allein nicht gerecht. Immer notwendiger wird die Besinnung auf eine „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Kant): „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus den Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht oder machen kann und soll“. (Antr. Vorr IV 3). Angesichts eines Potentials an medizinischen Machensmöglichkeiten mit gesellschaftlicher Sprengkraft („Zweiklassenmedizin“), das zunehmend nur aus ökonomischer und utilitaristischer Perspektive wahrgenommen wird, erscheint die Besinnung auf die Fragen Kants: „Was soll ich tun?“ und „Was ist der Mensch?“ dringlicher denn je – auch wenn die Antworten anders als von vor zweihundert Jahren lauten mögen. Wesentlich ist allein schon das reflexive und retardierende Moment gegenüber einer Medizin, die ihre eigenen Kinder zu fressen beginnt. Zwar gibt es in Deutschland Lehrstühle für Medizinethik und an einigen größeren Krankenhäusern Ethik-Kommissionen. Deren Aktivitäten werden jedoch mehr im Sinne von „ausgelagerten Dienstleistungen“ (outside resource using) genutzt und sind nicht in den klinischen Alltag integriert. Zudem sind die Lehrstühle unseres Wissens nicht mit medizinischen Examensprüfungen befasst. Nur eine Minderheit zeitgenössischer Ärzte versteht oder verstand die o. g. Problemstellungen als Aufforderung, Betrachtungsweisen auch jenseits des strikt naturwissenschaftlichen Diskurses in das allgemeine medizinische Denken zu integrieren. So z. B. der 2004 mit 96 Jahren verstorbene Thure von Uexküll: „Es fehlt der Medizin eine Definition des erlebenden Körpers. Eine Definition der Seele hat sie auch nicht, wenn beides getrennt formuliert wird. Das Menschenbild der Medizin ist technokratisch. Der biotechnisch nicht fassbare Inhalt geht verloren, um den kümmern sich die meisten Menschen nicht“.[1] So war es nur folgerichtig, dass Uexküll wieder ein Philsophikum für angehende Ärzte forderte. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war es der schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Ludwig Binswanger (1861 – 1966), der die wissenschaftliche Grundlegung von Psychiatrie und Psychoanalyse überwiegend in der Phänomenologie Edmund Husserl, späterhin in der dialogischen Philosophie Martin Bubers sah. Im Geiste Husserl schrieb er 1922: „Wir wollen zur Subjektivität als solcher vordringen und die wissenschaftlichen Versuche darstellen, die sich dieses Ziel gesetzt haben; andererseits wollen wir aber niemals den Zusammenhang mit der empirischen Psychologie verlieren, die für uns immer Ausgangs- und Endpunkt bleibt.[2] Binswanger verwies auf einen wichtigen Unterschied zwischen der rein deskriptiven Psychopathologie, die das „abnorme seelische Geschehen in ... Klassen, Gattungen und Arten einteile“ [3] und der psychopathologischen Phänomenologie, die das Gemeinsame suche: „Sich einleben, hineinversetzen, statt einzelne Merkmale oder Eigenschaften abheben und aufzählen!“ (1923) Es sind also nicht nur erkenntnistheoretische Fragestellungen im Hinblick auf das Leib/-Seeleproblem oder ethische Fragen im Kontext einer „Schöpfermedizin“, die einer philosophischen Reflexion bedürfen, sondern auch Fragen des methodisch abgesicherten Erkenntnisgewinnes jenseits z. B. des „doppelt verblindeten“ Untersuchungsverfahrens als heutigem „Goldstandard“ zum Wirksamkeitsnachweis von Medikamenten. Gemeint ist der Dialog mit dem Patienten, der nicht nur auf die Fragen antwortet, die ihm vom Untersucher gestellt werden, sondern sich mit vielerlei Ausdrucksmöglichkeiten – verbal, gestisch, mimisch – spontan zu sich selbst und seiner Befindlichkeit äußert. Hier geht es um ein intuitives Erfassen der Äußerungen des Patienten. Das Denken allgemein und damit auch das ärztliche Denken ist aber, dem Dictum Kants folgend, „nicht intuitiv“; sondern „diskursiv“. Widerspruch zu diesem in den Naturwissenschaften – und nicht nur in diesen – fest verankerten Topos kam und kommt bislang vorwiegend aus dem Lager der Psychoanalyse bzw. psychoanalytischen Psychosomatik. Insbesondere Daniel Stern hat unlängst auf die Bedeutung der Intuition im Kontext eines impliziten Beziehungswissens verwiesen, das erkennende Begegnungen im Sinne eines „moment of meeting“ ermöglicht. [4] Michael Balint hat mit seiner „flash-technik“ sowie dem Postulat, den Patienten als ein Kunstwerk zu betrachten und ihn als solches auch zu verstehen zu versuchen, zusätzlich noch ästhetische Momente in die Beziehungsdiagnostik mit eingebracht. Im Sinne einer „reflektierten Intuition“ kann dies im Rahmen der Balintgruppenarbeit gelehrt und gelernt werden.[5] Im Rahmen der Balintgruppenarbeit ist auch eine Eigenreflexion des Arztes im Hinblick auf seine Form der Begleitung des Patienten möglich. Gemeint ist Begleitung im Sinne eines Pendelns zwischen Nähe und Distanz, zwischen Verstehen und Erklären. Der Arzt kann dabei den Wahrnehmungsfokus bei existentiellen Erkrankungen seines Patienten wechseln. Er kann zusammen mit dem Patienten dessen und damit vielleicht auch seine eigene Sinnkrise durchschreiten, dann sich aber wieder zurücknehmen und bedenken, was praktisch-„technisch“ zu tun ist. Zudem ermöglicht die Balintgruppenarbeit, ihn für ideologische Positionen sensibel werden zu lassen, z. B. im Hinblick auf die Definition des Patienten als „Kunden“. In der Balintarbeit können auch die Erkenntnisgrenzen des naturwissenschaftlichen Ansatzes reflektiert werden und zwar im Hinblick auf die Eigenwilligkeit und Geschichtlichkeit des Subjektes. Die unterschiedlichen Sinnhorizonte von Arzt und Patient in der – dialogischen – Sprechstunde (nicht nur „Messstunde“) lassen sich nur hermeneutisch erschließen. Dies insbesondere auch im Hinblick auf die „apostolische Funktion des Arztes“ und seine Wirkungsweise als „Droge“.[6] Balintgruppenarbeit findet sich heute nicht nur in der Weiterbildungsordnung für Psychiater und Fachärzte für Psychosomatische Medizin, sondern u. a. auch für Allgemeinmediziner, Gynäkologen, Internisten und Kinderärzte. In welcher Form sie genutzt wird, hängt aber entscheidend von den einzelnen Teilnehmern der Gruppe ab. Es gibt auch keine Verpflichtung, nach Erwerb der Facharztqualifikation die Balintarbeit weiter fortzusetzen. An einigen Hochschulen gibt es Balintgruppenarbeit auch schon für Studenten in den klinischen Semestern. Donald Winnicott hat in der Beschreibung der Intermediärräume und in der Darlegung der Bedeutung des Spielens darauf hingewiesen, dass diese Gedanken durchaus „in philosophischen Arbeiten Berücksichtigung gefunden“ haben, ohne dabei explizit auf Schiller Bezug zu nehmen.[7] In den spielerisch-dialogischen bzw. dialogisch-spielerischen Intermediärräumen ist eine passagere Aufhebung der Subjekt-Objekttrennung möglich. Dieses gehört mit zu der ärztlichen Kunst, mit ihrer einfühlenden Teilnahme an der inneren und äußeren Lebenswelt des Patienten. Die Teilnahme ermöglicht ein handlungsleitendes Verstehen vor aller Explikation. Allerdings: der Begriff ärztliche Kunst ist schon seit Jahren aufgrund der Schwierigkeiten, ärztliche Kunst zu quantifizieren, evaluieren und judikatorisch zu erfassen, aus dem Sprachgebrauch getilgt worden. In der Rechtssprechung ist der Terminus Kunstfehler gegen den Terminus Behandlungsfehler eingetauscht worden. Dennoch: der von Georg Overbeck, dem langjährigen Direktor der Frankfurter Uniklinik für Psychosomatische Medizin, herausgegebene Vortragssammelband zu dem Kongress der Georg-Groddeck-Gesellschaft 1993 hat den schönen, etwas provozierenden Titel: „Auf dem Wege zu einer poetischen Medizin“ (1996), was bei Georg Groddeck nicht verwunderlich ist. In seinem Vorwort zitiert Georg Overbeck den amerikanischen Chemiker und Nobelpreisträger Roald Hoffmann: „ ... Komplexität, nicht Einfachheit ist das Wesen des Lebens. So sind manche Dinge besser durch Poesie und Kunst als durch Gleichungen zu erklären.“ Um eben diese wechselseitige Ergänzungsbedürftigkeit zu erkennen und in der Therapie zu realisieren, bedarf es schon einer philosophienahen Reflexionsbereitschaft, um nicht als Opfer und Agent wissenschaftlicher Verhältnisse zu scheitern. In der Skizzierung einer personalen Psychotherapie betont Rudolf Faber (1975, persönliche Mitteilung), dass die Person als Träger (Subjekt) des Selbstbewusstseins sowie der Selbstverfügung die Würde einmaliger personaler Individualität wie auch die Freiheit in einer relativen Autonomie habe. Dies spreche nicht gegen somatische, psychische oder soziale Determinanten, wohl aber gegen einen mehr oder weniger radikalen Determinismus, auch psychotherapeutisch-analytischer Prägung. Faber bezieht sich hierbei aber auf ein Verständnis der Psychoanalyse, das deren Doppelgesichtigkeit insofern ignoriert, als weniger das Novellenhafte der Patientenbiografie, sondern vielmehr die Physikalität der Freudschen Begrifflichkeit, die Therapieorientierung bestimmt. Noch einmal zurück zu Winnicott und die Bedeutung der intermediären Erfahrungsbereiche. Auf das dem intermediären Erfahrungsbereich inhärente salutogenetische Moment hat Winnicott (1971) schon zwanzig Jahre vor der Ausformulierung des Salutogenesemodells durch Antonovsky hingewiesen.[8] Ein entscheidendes Moment in dem Salutogenesemodell stellt das Kohärenzgefühl dar, das sich entscheidend aus dem Erleben von Sinnhaftigkeit eines Menschen speist. Sinnhaftigkeit lässt sich aber nicht mit einem Doppelblindversuch erfassen, dennoch kann ein salutogenetisches Denken möglicherweise das entscheidende Korrektiv zu dem bis vor kurzem ausschließlich am Pathogenesemodell orientierten medizinischen Denken darstellen. Im Salutogenesemodell ist Gesundheit mit Leiden vereinbart, ist der gesunde Mensch eben nicht nur ein Mensch, der nur noch nicht ausreichend durchdiagnostiziert worden ist. (Schiffer, E.: Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Weinheim/Basel, 2001) Balintgruppenarbeit, Intuition, Sinn-Suche gründen in einer reflektierten Vermittlung von kausal-analytischem Fachwissen und einer sinn-erschließenden lebensweltlichen Hermeneutik. Um jedoch auf die Fallstricke des „gesunden Menschenverstandes“ und seine unbemerkten metaphysischen Implikate nicht hereinzufallen, bedarf es immer wieder der Reflektion auf das Unreflektierte unseres Denkens und Tuns. Für diese Analyse und Erweiterungen unserer Leit- und Strukturmetaphern ist die philosophische Reflexion unabdingbar.
Anmerkungen: [1] Bartens, W.: Zum 100. Geburtstag von Thure von Uexküll. Süddeutsche Zeitung, 14.03.2008. [2] Binswanger, L.: Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie. Berlin: Springer, 1922. [3] Binswanger, L: Über Phänomenologie. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 82, 1923. [4] Stern, D. M.: Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt/M.: Brandes u. Apsel, 2005. [5] Schiffer, E.: Warum Tausendfüßler keine Vorschriften brauchen. Intuition: Wege aus einer normierten Lebenswelt. Weinheim/Basel: Beltz, 2008. [6] Balint, M., Balint, E.: Psychotherapeutische Techniken in der Medizin. Stuttgart: Klett, 1976. [7] Winnicott, D. W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta, 1971. [8] Antonovsky, A.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag, 1997.
Ergänzende Literaturangaben: Schiffer, E.: Vom entfremdeten Hungern und Helfen, in: Psychotherapie und Innere Medizin (Hrsg): Rechenberger, H.-G. u. H.-V. Werthmann. München: Pfeiffer, 1988. Schiffer, E.: Der entfremdete Hunger. Basel/Baunatal: RECOM, 1990. Schiffer, E., Süsske, R.: Der Therapeut als Opfer und Agent wissenschaftlicher Verhältnisse. Psyche – Z Psychanal, 36, 726 – 732, 1982. Schiffer, E., Süsske, R.: Psychosomatische Grundversorgung als Wiedergewinnung ärztlicher Kunst. Niedersächsisches Ärzteblatt 64, Nr. 16, 5 – 8, 2001. Süsske, R.: Divide et Impera. Phänomenologisches Vagabundieren im Gehäuse der "Theorie des kommunikativen Handelns", in: Danielzyk, R ./ Volz, F.R. (Hrsg.): Vernunft der Moderne? - Zu Habermas Theorie des kommunikativen Handelns, Münster 1980. Süsske, R. : Das Leiden an der vergangenen Zukunft – Phänomenologische Streifzüge durchs Feld verleiblichter Zeitlichkeit im therapeutischen Gespräch, in: Kupke, C. (Hrsg.) Zeit und Zeitlichkeit. Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche, 139 – 156, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2000. Süsske, R.: Diesseits der Worte - Daniel Sterns Forschungen zum 'impliziten Beziehungswissen' in Therapieverläufen, Vortrag: CKQ Abt. f. Psychotherapeutische Med./Psychosomatik, 2002. http://www.text-galerie.de/suesske_stern.htm Süsske, R. : "Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen". Sprache und nicht-sprachliche Interaktion im psychotherapeutischen Dialog, in: Psychoanalyse & Körper Nr. 43, Heft I, 2004. Süsske, R.: „Zerebrale Gymnastik“ oder „können Neuronen traurig sein?“ - Kursorische Anmerkungen zur Gehirn-Geist-Debatte, Vortrag: CKQ Abt. f. Psychotherapeutische Med./Psychosomatik, 2008. http://www.text-galerie.de/index_neuro.htm . Link: |
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