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Qualitative Forschung in der Psychotherapie1

 

 

Dipl.-Psych.
Rudolf Süsske

Vorbemerkung

In der Konzeptualisierung unserer abteilungsinternen Weiterbildung haben wir immer besonderen Wert auf einen interdisziplinären Blick über den medizinisch-psycho­therapeutischen Tellerrand gelegt. Ohne unser tiefenpsychologisch fundiertes Selbstverständnis zu verleugnen, wandten wir uns philosophischen, ästhetischen und – in jüngerer Zeit – auch neurobiologischen Fragestellungen zu.

Für unsere verschiedenen sprach-, leib- und kreativitätsorientierten Therapieverfahren eine gemeinsame Sprache zu finden, ist eine ständige Aufgabe, die uns immer wieder zu der selbstkritischen Frage führt:

     Was machen wir hier eigentlich?

  • eigentlich – dh. wir befragen das, was auf den ersten Blick selbstverständlich erscheint, auf seine Gründe, seine Be-gründung hin.

  • wir – damit fragen wir nach unserem professionellen Selbstverständnis, aber auch z.B. die nach dem Verhältnis eigener biografisch-lebens­welt­li­cher Erfahrung und angeeigneten wissenschaftlichen Theorien und Wissensbeständen.

  • hier – dh. gesellschaftliche bzw. institutionelle Vorgaben und Spiel­räume. Es meint aber auch die raum-zeitlich-situative Gebundenheit unseres Tuns.

  • machen – dh. Reflexion auf unsere, je spezifischen Handlungen in therapeut­ischen und – was oft unbedacht bleibt – außertherapeutischen Zusam­­menhängen. Mit welchen Voraussetzungen, auf welches Ziel, auf welche Aktionen unseres Gegenübers hin, spüren, sprechen, bewegen wir uns? Dabei bleibt manches unbemerkt. Wir werden verwickelt, täuschen uns, handeln spontan-intuitiv, scheinbar grundlos, zumeist überzeugt von unserem Tun, manchmal auch zweifelnd.

Auf diesem Hintergrund setze ich – mit den folgenden Ausführungen – meine Überlegungen fort [2], Therapieverläufe in ihrem Prozesscharakter zu betrachten.

Im Juni 2005 hatte ich die Gelegenheit, die Tagung: "Kommunikation von Angst in der Psychotherapie" in Tiefenbrunn zu besuchen. Es handelte sich dabei um das "13. Arbeitstreffen für qualitative Forschung in der Psychotherapie", an dem MedizinerInnen, Soziologen, Sprachwissenschaftlerinnen und Psychotherapeuten teilnahmen.

Mit besonderer Berücksichtigung der dort diskutierten qualitativ-sozialwissen­schaft­lichen Methode[n] möchte ich Ihnen einen Eindruck von dieser Tagung vorstellen und den theoretischen Kontext dieser Forschungsrichtung skizzieren.

 

Kontext der Tagung

Die meisten TeilnehmerInnen der Tagung kannten sich langjährig aus dem von Martin Schöndienst [Oberarzt am Epilepsie-Zentrum Bethel] 1995 angeregten  Forschungsprojekt:

"Linguistische Differentialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen" [3].

Den "Grundgedanken" des Projektes formulieren die AutorInnen wie folgt:

"In ärztlichen Sprechstunden und Klinikzusammenhängen schildern PatientInnen mit Anfallserkrankungen regelmäßig ihre Anfälle, ggfs. entsprechend vor­ausgehende Vorgefühle (Auren).  Die Grundidee dieses Projekts ist, dass die Art und Weise, wie über diese Phänomene gesprochen wird, auch etwas mit der jeweiligen Erkrankung zu tun hat. Gibt es spezifische Formulierungsmuster bestimmter Erkrankungen und wie sehen diese aus? Um das herauszufinden, werden Gespräche, wie sie im medizinischen Kontext natürlicherweise vorkommen - mit Einwilligung der PatientInnen - aufgezeichnet und linguistisch untersucht.  Ziel dieses Projektes ist, diese Analyseergebnisse differenzialdiagnostisch frucht­bar zu machen. D.h. über die Art der Anfalls- und Aurenbeschreibung, wie sie im Gespräch mit Medizinern zu Tage tritt, sollen diese Hinweise auf die Art der Erkrankung erhalten können. (…).

Als neuer Untersuchungsaspekt [trat] seit 2002 die sprachliche Darstellung von Angst im Umfeld von Anfällen zu den differenzialdiagnostischen Fragestellungen hinzu."  [4]  
 

Eine interdisziplinär zusammengesetzte Kooperationsgruppe am ZIF[5] setzt den letztgenannten Schwerpunkt unter dem Projekttitel

"Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst"  

fort. In der Einführung des Themas heißt es dort u.a.:

"Da jeder Angst kennt bzw. zu kennen glaubt, vermag die subjektive Phänomenologie von Ängsten und Angststörungen in der Forschung und auch in der Diagnose und Therapie von Angsterkrankten kaum besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So wurde bislang weder systematisch untersucht, in welchen diskursiven Formen wir Anderen unsere Ängste beschreiben, noch die Frage gestellt, ob die dabei zur Anwendung kommenden konversationellen Verfahren störungsspezifische Muster erkennen lassen. (…)

Mittels des methodischen und begrifflichen Instrumentariums der Konversationsanalyse sollen anhand aufgezeichneter Gespräche zwischen Patienten und Ärzten bzw. Psychotherapeuten die kommunikativen Darstellungen von Ängsten und Angststörungen analysiert werden." [6]

Die "Daten" der Forschungsgruppen bestehen in Audio- oder Videoaufnahmen, die eingehend transkribiert werden, wofür es verschiedene technische Verfahren[7] gibt. Nicht nur der semantische Sinn, sondern auch Sprachmelodie, Pausen, Geräusche und ggf. nonverbale Reaktionen sollen aufgezeichnet werden.

Bevor wir nun versuchen, die spezifische Forschungsmethode dieser Projekte zu skizzieren, sollten wir uns vergegenwärtigen, welchen Kriterien - üblicherweise - wis­senschaftliches Forschen unterliegt.

 

Kausalerklärung und Sinnverstehen

Schon seit Platon gibt es die Unterscheidung von Doxa, dem "bloßen Meinen" des Alltagsmenschen und der Episteme, dem "Wissen", das sich mit Vernunftgründen ausweisen lässt. Mit Kant können wir das Selbstverständnis auch moderner [natur]-wissenschaftlicher Forschung im Grund­zug beschreiben. In der Vorrede zur "Kritik der reinen Vernunft" schrieb er 1787:

"Sie [die Naturforscher – R.S.] begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt (…). Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien (…) in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." [8]

Der Einwand, wir redeten hier nur über die harten Naturwissenschaften, also über Physik, Chemie und Biologie, gilt nur eingeschränkt, da auch der Main­stream der Human- und Sozialwissenschaften diesem methodischen Paradigma folgte.

Die "Welt sprechender Subjekte" wird analog der "Welt der Gegenstände" interpretiert. D.h. das Erforschte – das Verhalten von Individuen oder Gruppen – muss klar definier- und quantifizierbar sein, am besten in einer "operationalen Definition", was immer wieder zu Problemen mit der Validität führt, also zur Frage: Ist das was wir messen, auch das, was wir zu messen vorgeben. Die Forscher bzw. die Forschungsinstrumente dürfen keinen Einfluss auf das Erforschte nehmen und die Untersuchungen müssen wiederholbar, dh. reliabel sein. Der strenge Operationalismus hat es sich leicht gemacht und antwortet z.B. auf die Frage, was Intelligenz sei: das, was der Intelligenz-Test misst (Bridgeman).

Auf diesem Hintergrund finden wir uns als "BürgerInnen zweier Welten":

  • Als Subjekte der Forschung sind wir "Experten", kontrollieren die "Situation", bestimmen im Voraus die "Variablen" und ihre wechselseitige Abhängigkeit durch experimentelle Anordnung und operationale Definitionen.

  • Als Objekte der Forschung sind wir "Laien" [Probanden/Patienten], durch Motive, Verhaltens- und soziale Strukturgesetzmäßigkeiten vollständig deter­miniert. Interpretationen des eigenen Erlebens und Handelns spielen eine nebengeordnete Bedeutung oder werden in determinierende Variablen umgedeutet.

Für die Humanwissenschaften gilt ein tiefes Misstrauen gegenüber ihren Forschungsobjekten und deren subjektiver Erfahrung, obgleich Objekt und Subjekt von gleicher Art sind, nämlich sozial organisierte, sprechende, handelnde und leidende Individuen.

Das gilt im besonderen Maße für unser eigenes therapeutisches Tun:

"Den Sinn von Handlungen zu ergründen, Verlauf und Diskontinuitäten einer Bio­graphie zu verstehen, einen gebrochenen Selbstverständigungsprozess therapeu­tisch zu rekonstruieren: Dies sind hermeneutische [Sinn verstehende – R.S.] Prozesse, in denen der Sinn von Handlungen und Gefühlen erst kommunikativ erarbeitet, entziffert werden muss. Die Wahrheit der Interpretation ist situationsgebunden, im nächsten Schritt verändert, aufgehoben, sie entzieht sich in ihrem prozessualen Charakter dem starren Raster von Verifikation und Falsifikation dessen, was »der Fall ist«." [9]

Wie wäre es also, das Verhalten der Akteure alltäglich-sozialer Handlungen nicht kausal zu erklären, sondern auf ihren Sinn hin zu verstehen? Mehr noch, davon auszugehen, dass die Handelnden den Sinn, die Bedeutung von sozialer Wirklichkeit selbst kommunikativ herstellen?

 

Qualitative Sozialforschung: Ethnomethodologie und Konversationsanalyse

Im Projektentwurf "Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst" hörten wir vom "methodischen und begrifflichen Instrumentariums der Konversationsanalyse", mittels derer Gespräche zwischen Angst-Patienten und Therapeuten analysiert werden.

Die "Konversationsanalyse" ist die methodische Fortführung einer sozio­lo­gi­schen Forschungsrichtung, die sich Ethnomethodolgie nennt und untrennbar mit dem Namen von Harold Garfinkel [*1917] verbunden ist.

Ohne Vorgabe von Konzepten und Definitionen einer "objektiven sozialen Wirk­lich­keit" – also strikt empirisch – sucht dieser Forschungsansatz nach "den grundlegenden formalen Methoden (Basisregeln)", die Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft (ethnos) "anwenden, um Ereignisse und Handlungen zu interpretieren, d.h. ihnen Sinn zu verleihen"[10].  Es geht um die Frage:

"[W]ie wissen die Akteure, was sie wissen, und wie verwenden sie das, was sie wissen?" [11]

Mit Wissen ist nicht in erster Linie explizites theoretisches, sondern praktisches Handlungswissen gemeint. Die Akteure sind Experten ihres eigenen Tuns. Sie stellen in und mit ihren Handlungen Wirklichkeit her, wobei der intendierte Sinn und die Handlungen sich wechselseitig erläutern [Reflexivität]. Ob der in der Handlung intendierte Sinn verstanden wird, zeigt sich im Fortgang der Interaktion. Die GesprächsanalytikerInnen sprechen hier von der Sequentiellen Organisation sozialen Handels.

"Indem die eine Person eine Handlung durchführt, produziert sie eine Verpflichtung für die andere Person, eine bestimmte nächste Handlung zu vollziehen. Derartige basale prozedurale Regeln (…) ermöglichen den Beteiligten, ihr Miteinander kooperativ abzuwickeln (…)"[12].

Auf eine »Frage« z.B. erwartet der oder die Fragende eine »Antwort«; auf einen »Gruß« einen »Gegengruß«. Wer nicht antwortet oder zurückgrüßt muss – bzw. wird zumeist – dieses Verhalten rechtfertigen: "Oh, ich hab' Ihre Frage gar nicht gehört"; "Ach, ich hab' Sie gar nicht gesehen".

Dies sind Beispiele der o.g. Basisregeln der Interaktion. Die Akteure verfügen über ein praktisches, regelhaftes Wissen, um ihre Handlungen nicht nur zu interpretieren, sondern auch "Unerwartetes" zu normalisieren, dh. "in Ordnung zu bringen". Der fehlende Gegengruß kann – je nach Beziehungs- oder Situationskontext – mit der Annahme von Schwerhörigkeit, Unhöflichkeit oder mittels einer Nachfrage "erklärt", dh. normalisiert werden.

Das praktische Regel-Wissen der Interaktionsbeteiligten ist nicht explizit bewusst, gleichwohl wird ein Regelverstoß sofort bemerkt. Wie Freud aus der Psychopathologie Erkenntnisse über das "normale Seelenleben" zu gewinnen suchte, so erhellen z.B. die "Krisenexperimente" der Ethnomethodologie "normale" Regeln des so­zia­len Zusammenlebens.

Unfreiwillig führen einige unserer PatientInnen ein klassisches Krisenexperiment durch, insofern sie sich darüber beklagen, dass auf die Frage von Bekannten: "Wie geht es Dir?" – keine differenzierte Antwort über das seelische Befinden erwartet wird. Unbemerkt definieren sie aber die soziale Wirklichkeit um: aus einer konventionellen "Begrüßung" wird ein "vertrauensvolles Gespräch" unter Freunden mit dem Anspruch auf Authentizität. Dadurch, dass das Gegenüber diese Situationsinterpretation nicht teilt, entwachsen Enttäuschung und Probleme. Ergänzend ein Garfinkel'sches Beispiel:

 

1 V:   Hallo, Ralf: Wie geht es deiner Freundin?

2 E:   Was meinst du mit, Wie geht es ihr? Meinst du körperlich oder geistig?

3 V:   Ich meine, wie es ihr geht? Was ist los mit dir?

4 E:   Nichts. Erkläre mir nur etwas deutlicher, was du meinst.

5 V:   Vergiss es. Wie geht es mit deinen Bewerbungen für die Uni?

6 E:   Was meinst du mit, "Wie es damit geht?"

7 V:   < murmelnd, den Kopf schüttelnd > Du weißt, was ich meine.

8 E:   Ich weiß es wirklich nicht.

9 V:   < erregt > Was ist mit dir? Spinnst du?[13]

 

Garfinkels Studenten sprachen auch Gäste in Lokalen als Kellner an oder verhielten sich bei den Eltern wie höfliche Besucher. Daraus ließen sich die normalerweise erwarteten Regeln indirekt ableiten, zeigten aber auch, welche Verwirrung Regelbrüche bei den "Opfern" hervorriefen.

Wenn wir unser eigenes alltägliches Sprechen reflektieren, stoßen wir schnell auf Phänomene, die auch für die Ethnomethodologie wesentlich sind: die Vag­heit, Kontextgebundenheit und Kontingenz von Sprache.

"Vagheit des Sprechens

Es ist schlechterdings unmöglich, alles, was für eine vermeintlich vollständige Explikation eines Sachverhalts gesagt werden müsste, zu sagen. Alles lässt sich bis ins Unendliche weiter verfeinern, präzisieren, neu umreißen, ohne dass jemals präzise gesagt werden kann, was gemeint ist.

 Kontextabhängigkeit von Bedeutungen

Objektivität“ und Eindeutigkeit des Sprechens ist auch deshalb nicht erreichbar, weil dies voraussetzen würde, dass immer auch alle Kontextbezüge des Geäußerten mitexpliziert würden – was schlicht unmöglich ist.

 Kontingenz der Darstellungsmöglichkeiten

Es gibt immer unendlich viele Möglichkeiten Darstellung und Umschreibung eines Sachverhalts; alles lässt sich auch anders sagen."[14]

Stellen sie sich vor, Sie finden auf der Straße einen Zettel auf dem steht: "Es geht los. Wir treffen uns hier morgen früh um acht." –  es, wir, hier, morgen sind sogenannte "indexikalische Ausdrücke", dh. sind abhängig vom lokalen, zeitlichen, autor-, feld- oder beziehungsspezifischen Kontext. Garfinkel und seine Nachfolger sprechen deshalb – über die Verwendung dieser speziellen Wortformen hinausgehend – von "Indexikalität" als "normaler Begleiterscheinung des Sprechens im Alltag."[15]  Das impliziert:

"• Beim Sprechen werden Bedeutungen angezeigt, ohne dass sie jemals vollständig expliziert würden.

• Objektivierende Definitionen stellen nie eine endgültige und eindeutige Abgrenzung und Bestimmung einer Sache her. (…)

• Aussagen haben immer den Charakter von „Umschreibungen“. Deren Angemessenheit ist abhängig vom lokalen, zeitlichen, autor-, feld- oder beziehungsspezifischen Kontext.

• Nicht nur spezifisch „indexikalische Ausdrücke“ wie ich, du, er, hier, jetzt, dieses da, dort, bald, jetzt, morgen weisen die Eigenschaft der Indexikalität auf, sondern im Grunde alles, was geäußert wird (…) [kann] in unterschiedlichen Kontexten vollkommen Unterschiedliches anzeigen und bedeuten.

• Das Verstehen indexikalischer Äußerungen ist gebunden an ein kollektiv geteiltes Kontext- und Hintergrundwissen (betreffend z.B. die verhandelten Inhalte, die Person des Sprechers, die äußeren Umstände der Äußerung, die konversationsinternen Umstände der Äußerung in ihrer Sequentialität [Abfolge])." [16]

Nehmen wir zwei knappe Beispiele aus unserem therapeutischen Alltag:

 

Stundenbeginn:

1 T    < schaut den Patienten freundlich auffordernd an >

2 P    es geht schon wieder BESSER < kleine Pause >

3 T    hmm

4 P    ähh  < lächelt andeutungsweise >

5 T    wie kam es dazu?  Ha'm sie was gemACHT  oder  einfach SO?

6 P    Hab'  mir meine Malsachen g'nommen und an meinem Selbstbild
          weiterg'arbeitet. Sollt' ich doch MACHEN.

 

Die nonverbale Geste (1) des Therapeuten wird als Aufforderung interpretiert, was auf eine Einübung dieses Rituals hindeutet. Das es in "es geht schon besser" (2) wird im Fortgang  des Gesprächs nicht expliziert. Beide Teilnehmer gehen von einem gemeinsamen Vorwissen aus. Auf das hmm  des Th. (3) scheint der Patient nicht vorbereitet, Ähh und nonverbale Geste (4) deuten Verlegenheit an, fordern einen "Turn" (Sprecherwechsel) heraus. Der Th. folgt der Aufforderung und fragt (5) nach der Art und Weise des Umschlags ins Besser mit der Vorgabe einer Alternative: passives Geschehen vs. aktive Veränderung. Partient antwortet, wobei der Hinweis an seinem  Selbstbild weitergearbeitet zu haben auf den Kontext vorheriger Stunden verweist, wo dies Thema war. Der Satz "Sollt' ich doch machen" fordert – insbesondere mit dem Modalpartikel doch eine ausdrückliche Bestätigung, wenn nicht gar ein Lob des Th. für diese Aktivität heraus.

 

Erstgespräch:

1 T    was führt sie zu uns?

2 P    hab' ja schon gesagt [..] die Anfälle fingen an […] das war schlimm.

          Meine Mutter …]

3 T                           Sie meinen ihre Angstattacken !?

4 P                                                                           [… war ganz aufgerecht.

5 T    < Stimme etwas nachdrücklicher > Sie meinen al[..]so ihre Angstzustände?

           Wie haben sie das erlebt und wann haben die angefangen?

 

Nach der Begrüßung folgt eine konventionelle Eröffnung (1) des Gesprächs seitens des Therapeuten. Der Patient knüpft mit "hab' ja schon gesagt" (2) an einen vorherigen, möglicherweise mit einem anderen Teammitglied geführten Dialog an und spricht ganz implizit von "Anfällen", geht zu deren Beginn ohne eine Zeit oder eine Situation zu benennen. Er will aber über eine situative Folge (2/4) sprechen: "Meine Mutter ... war ganz aufgeregt".

Der Th. sieht seine unausgesprochene Erwartung, der Patient möge seine Probleme schildern, enttäuscht und unterbricht P. mitten im Satz. Aus der Stimmhebung (3) am Ende von "Sie meinen ihre Angstattacken?" kann eine gewisse Ungeduld gefolgert werden, die sich in der Folge zu bestätigen scheint, da mit Nachdruck zwei Fragen auf einmal gestellt werden (5). Damit ist der Patient im Fortgang seines Sprechens bereits festgelegt.

Psychodynamisch hat der Therapeut mit dem Fokus auf der Befunderhebung möglicherweise eine Chance verpasst, etwas über die der Mutterbindung des Patienten zu erfahren. Konversationsanalytisch kann man die Reaktion des Therapeuten als Versuch verstehen, Indexikalität aufzulösen, um die unausgesprochenen Kontexte zu explizieren und verständlich werden zu lassen.

Das Ausmaß der De-Indexi­kali­sierung richtet sich nach pragmatischen Kriterien, dh. danach, was ich hier und jetzt zur Verständigung mit dem Patienten wissen muss und/oder was institutionelle Vorgaben der "Dokumentation" und Legitimation erfordern. Einen vollständigen Ausweis aller Voraussetzungen unseres Sprechens und Handelns kann es – wie oben erwähnt – nicht geben.

 

Kommunikation von Angstgefühlen – Zur Außendarstellung innerer Wirklichkeiten

Unter dieser Überschrift stand der erste Vortrag der Tagung von Jörg Bergmann, Prof. für Soziologie in Bielefeld und ein führender Fachmann auf dem Gebiet der Ethnomethodologie und Konversationsanalyse.   

Er begann mit dem methodologischen Problem, wie es möglich sei, dass sich Menschen über Psychisches unterhalten, wo doch Fremdpsychisches intransparent ist. Es auszuschließen – wie es die Wissenschaft lange tat – widerspricht unserer alltäglichen Erfahrung. Nach kurzer Erwähnung der mikro-soziologischen Forschun­gen Goffmans[17] und Garfinkels kennzeichnete er 6 Punkte in Beantwortung auf die Frage:

Was tun Patienten, um ihre innere Welt anderen zugänglich zu machen?

Der Datencorpus bestand aus transkribierten Psychotherapiesitzungen mit Angstpatienten zu Beginn der Therapie.

1.    Sehr rasch zu Beginn der Sitzungen griffen die Patienten ein Element aus der Erfahrung heraus: z.B. ein Wort: "Panikattacke" oder einen Satz: "dann habe ich meine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle". Bergmann spricht hier von der Etablierung eines Referenzobjektes.

2.    Es folgt dann zumeist eine Qualifizierung und Bewertung des Objektes. AngstpatientInnen neigen zu extremen, superlativistischen Formulierungen: "schreckliche Nächte", "fürchterliche Attacken", verwenden oft Worte wie nie, immer, total, alles, Tod u.ä.

3.    In Widerspruch zu 2. stehen Äußerungen, die extreme Qualifizierung in Frage zu stellen, also epistemische Zweifel in Form von Einschränkungen (hatches), Zweifel, Unsicherheitsmarkierungen und Vagheiten zu formulieren: "Todesangst … würde ich da nennen", "irgendwie", "weiß nich' genau wie ich's sagen soll", "man bildet sich a auch viel ein". Damit werden Vorbehalte gegenüber den eigenen Formulierungen, ggf. auch gegenüber den eigenen Erfahrungen angesprochen. [Ergänzend sei angemerkt, dass diese Einschränkungen den Therapeuten auch zum Widerspruch reizen sollen, womit der epistemische Zweifel funktionalisiert würde. – R.S.]

4.    Kontextualisierung: Um das Erleben verständlich zu machen – also Plausibilität zu erzeugen – verwenden  PatientInnen oft Vergleiche: "das war da und da genau so" und Kontraste: "heute geht es besser…"Sätze wie: "kann ich gar nicht mehr schlafen", "geht gar nichts mehr", "fehlt mir der Antrieb" oder "kann ich gar nicht mehr steuern" formulieren kontrastiv mittels Negationen, was im eigenen Erleben von den "normalerweise" erwarteten Alltagserfahrungen abweicht. Die Beschreibungen haben passiven Charakter, es gibt z.B. keine positiv bestimmten Verben.

5.    Inneres manifestiert sich im Äußeren wenn Patienten Versuche beschrei­ben, durch Verhalten auf ihr Erleben Einfluss zu nehmen: "die Angst ging  dann weg als ich aufgestanden bin", "ich nehme mir dann immer meine Malsachen vor und dann wird's oft besser". Es finden sich aber immer wieder Übergänge zwischen 4. und 5. in der einen oder anderen Richtung: "bin zwar aufgestanden und rumgelaufen, aber es ging dann auch nich' ", "zuerst konnte ich zwar gar nicht, gab mir dann aber einen Schubs…".

6.    Der letzte Punkt behandelte die Verwendung von Modalpartikeln. Beispiel: "da ging's halt wieder los", "dann krieg' ich halt nichts mehr mit". Mit diesem halt  trivialisiert der Sprecher sein Erleben, unterstellt in dieser Relativierung aber auch ein gemeinsam geteiltes Wissen, hat somit eine appellative Funktion. Deutlicher wurde das bei einer Patientin, die ihre Beschreibungen immer mit einem Zustimmung heischenden nee! abschloss. Modalpartikel schränken das Gesagte ein oder bewerten es besonders z.B. mit: sicherlich, vielleicht, bedauerlicherweise, leider. Besonders interessant ist – wir kennen es alle – die Verwendung des Wortes eigentlich"Ich weiß eigentlich, was ich dann machen muss" oder "eigentlich ist es ja kein Problem". Vielleicht könnte man hierbei von einer Authentizitäts-Einschränkung sprechen: ich sage und mache das, was ich nicht bin. Oft ist es aber auch die Differenz von Wissen und "Umsetzung"

In der Diskussion des Vortrages ergaben sich einige kritische Anmerkungen. Die ausgeführten Punkte seien – mit Blick auf die AngstpatientInnen – relativ unspezifisch. Zudem müsste das Problem der Intransparenz des Fremdpsychischen differenziert werden: die Nichtzugänglichkeit der Erfahrung, z.B. bei Epilepsiepatienten im Anfall, ist etwas wesentlich anderes als die Nichtbeschreibbarkeit von emotionalen Erlebnissen bei psychosomatischen bzw. Alexithymie-Patien­ten.

 

Angst – Analyse ausgewählter Therapiesequenzen eines Patienten

Um einen etwas konkreteren Eindruck vom verwendeten Material der Analysen zu vermitteln, referiere ich im Folgenden ausschnitthaft einen Text von Jörg Bergmann und Maria Egbert, der sich mit dem Therapieprotokoll eines Patienten beschäftigt.

Von der Phänomenologie zur Interaktion (Zif-Mitteilungen 2004)[18]

Der Patient (P.) ist 40 Jahre alt, verheiratet und hat 2 Kinder. Er schildert seine Ängste als innere Schwäche, die er mit körperlicher Stärke auszugleichen versucht. Sie beruht "auf einem Gefühl des Alleinseins, Verlassenseins und der Hilflosigkeit, welches durch den Verlust wichtiger Bezugspersonen im Kindes- und Jugendalter entstand. Als er vier Jahre alt war, starb seine Mutter. Die Bedeutung dieses Todes beschreibt er an anderer Stelle in der Sitzung folgendermaßen: »alles das was wichtig war kann ich nich mehr haben« [9:35]. Anderen verstorbenen Bezugspersonen gegenüber fühlt er sich verpflichtet, insbesondere seinem Großvater, dem er als Kind auf dem Todesbett versprochen hat, dessen Handwerksbetrieb weiterzuführen. (…) Die Ansprüche seiner Bezugspersonen beschreibt [P.] als Ausnutzen und kontrastiert dieses mit seinem eigenen starken Wunsch nach Geborgenheit.

 

[20:55]

P:  und ich wollte einfach nur anjenommn werden

                                                                               Geste ›Wiegebewegung‹

                                                                               ______|_____...

                                                                              |

un, .hh ich wollte einfach nur n bisschen geborgenheit

und (bei) diesen ganzen ängsten

die ich (jetz) so hat(te) nech

                                                      Zuckt mit rechter Schulter

                                                                                 ___|____

                                                                                |                 |

.hhh da bin ich da irgendwie reingerutscht HHHhhhh  [19]

 

P. "stellt seine Hilflosigkeit in den Vordergrund, insbesondere durch die Wahl der Passiv-Konstruktion »anjenommn werden«, die Wortwahl »geborgenheit« und die Metapher »reingerutscht«. Zusätzlich bezeichnet er den Prozess des Reinrutschens mit einem vorangestellten »irgendwie« als diffus. Auf der nonverbalen Ebene zeigt der Patient seine Einstellung (...) zu dem verbal Beschriebenen, indem er es mit einem Schulterzucken als ausweglos kommentiert. (...). Artikulatorisch unklar ist die Tempusbestimmung im Fragment »die ich (jetz) so hat(te) nech«, so dass der Patient hier auf der Lautebene eine Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart andeutet.

 

[21:10] [20]

P: .hh und dann wie ich: wie ich: dann verheiratet war,

m- mein erster sohn geborn wurde=

und ich denn auf einmal selbstständig sein musste,?

               P zeigt mit rechter Hand und

           ausgestrecktem Zeigefinger auf seine Stirn

              ____|___

             |                |

wo ich das dann bewusst wahrgenommen habe

.HHHH tch ja und da bin ich ja krank geworden.=hhh

da is das dann ausjebrochen=

 

In dieser Sequenz ist wiederum die Passivität von P. auffällig. "Die neue Familiensituation »verheiratet war, m- mein erster sohn geborn wurde« charakterisiert der Patient als etwas, auf das er reagieren »musste«, nämlich »auf einmal selbstständig sein«. In dieser Darstellung sind Heirat und Elternschaft keine Ereignisse, für die er sich entschieden hat und an denen er aktiv mitgewirkt hat. Vielmehr stellt er die Geburt des ersten Sohnes als etwas dar, was einen plötzlichen Wechsel zur Selbstständigkeit erforderte. (…) Interessant ist an genau dieser Stelle der Wechsel zur grammatischen Aktivform: »wo ich das dann bewusst wahrgenommen habe«. Die Veränderung von unbewusster zur bewussten Wahrnehmung wird (…) eindrücklich durch den Fingerzeig auf seine Stirn untermalt." P. wird mit dem "bewusst werden" aber nicht aktiv, sondern krank: »und da bin ich ja krank geworden«. In diesem Satz formuliert er sich selbst noch als Agens »ich«, welches den Beginn der Krankheit erfährt, jedoch nicht initiiert. Im nächsten Satz wählt der Patient als grammatisches Subjekt die Krankheit selbst: »da is das dann ausjebrochen«, so dass er selbst als Handelnder nicht mehr in Erscheinung tritt und die handelnde Kraft »das« diffus wird."

In der Logik des Patienten zeigt sich paradoxal[21] einerseits die Autonomiestrebung, sich von Verpflichtungen zu befreien, andererseits ist Alleinsein jedoch mit Angst verbunden. Kompromisshaft folgt der körperliche Zusammenbruch. "Verstandesmäßig ist ihm klar, dass seine Kindheit und Jugend vorbei sind, emotional jedoch »klammert« er sich noch immer daran. Die Krankheit bietet ihm eine Möglichkeit, Zuwendung zu bekommen und seine Bedürfnisse zu äußern, ohne Verpflichtungen nachkommen zu müssen." Dies bestätigt die folgende Sequenz:

 

[29:25] [22]

P. :  ich denk mal

       dass das damit auch zusammenhängt

       dass man .hh zuwendung oder das was ich nich=

       oder das was ich vermisst habe

       bekommt man ja dann meistens

       wenn man krank is ne?

Th.: mhm

P.:   ne? da kümmert sich doch jemand um einen

 

Bei der Erzählung, der narrativen Rekonstruktion, einer Panikepisode fehlt jeder Bezug auf hilfreiche andere – nicht mal der Notarzt wird erwähnt – dafür finden sich ausführliche Beschreibungen körperlicher Symptome. Andere kommen nur in Schilderungen der Verpflichtung und Belastung vor. Diese Selbstbezüglichkeit, ineins mit der Ausblendung der Anderen findet eine Entsprechung im Hier-und-Jetzt der Interaktion mit dem Therapeuten.

 

[21:20]

P.:   .HHHH tch ja und da bin ich ja krank geworden.=hhh

        da is das dann ausjebrochen=

                                      P führt rechte Hand auf Brustmitte

                                                          __|___

                                                         |

         =da hab ich ja dann:  (0.7)   quasi   (noch)

             P klopft mit Faust auf Brustmitte

               __|___

              |

         das herz   (weh)  (ober) = (rippen)   (            ) war d-

             P führt rechte Hand rauf und runter, bricht ab

           zeigt mit rechter Hand/Zeigefinger auf Bauch

             __|___

            |

         meine meine ganzen eingeweide

             P bewegt Hand nach oben und unten

              __|___...

             |

         das ging ho:ch und ru:nter da drin

        das hab ich noch nie erle(he)bt

        und das werd ich auch nie=h wieder habn wolln.=

®      T nickt leicht

            __|___

           |          |

         .hhh ich konnt nich mehr kucken,

 

"Im Kontrast zu anderen Phasen in dieser Sitzung produziert der Therapeut während dieser Panikdarstellung weder Verbalisierungen noch Hörersignale. Seine Körperposition ist durch seltene und kaum wahrnehmbare Veränderungen gekennzeichnet, er beschränkt seinen interaktionellen Beitrag auf das Halten des Blickkontaktes. Darüber hinausgehende Handlungen platziert er allesamt an Stellen, an denen eine Beendigung der Narration sequentiell möglich ist." [ »und das werd ich auch nie=h wieder habn wolln.=«] "Der Höhepunkt der Geschichte ist ein Moment in der Interaktion, in welchem der Patient einen peak of involvement  erreicht [ »das ging ho:ch und ru:nter da drin das hab ich noch nie erle(he)bt« ], der komplementär zum low of involvement des Therapeuten verläuft."

 

         hhh .hh das was alles: total wirr und (0.5) tz (0.2)

                          P führt beide Hände ausgestreckt in Stirnhöhe

                                    __|___

                                   |

         tja da=hab=ich=also  das  war wirklich so:   schlimm=

         =war  das  dann=

                P reibt linkes Auge mit linkem Mittelfinger

                                   __|___

                                  |

         da hab ich dann nur noch gelegen

                                          P schüttelt Kopf

                                                    __|___

                                                   | 

         und .hh der ganze körper hat verrückt gespielt ne,?

®          T nickt leicht

                                  _|_

                                |        |

              (0.3)           (0.2)

 

"Der Therapeut produziert ein leichtes Nicken, welches als Reaktion auf das vorangegangene »ne?« des Patienten gewertet werden kann. Die interaktionelle Funktion des deutschen »ne besteht darin, eine ausgebliebene Reaktion einzufordern. Diese erfolgt zwar, jedoch um 0.3 Sekunden verzögert."[23]

 

                           P führt Hände von Stirnhöhe herunter und

                          legt sie auf sein Knie ab

                              __|___

                             |

          ja hab=ich=dann valiumspritzen gekricht

          und alle so n mist

          .HHHH und abends war das hhh  (0.5)

          .hh und dann hab ich viele jahre lank=

          hab ich mich auch nich mehr auf den se (he) ssel gesetzt

          wo mir das passiert is nech,?

                          Lächelstimme

                            __|___...

                           |

          he he so ne vermei (he) dungsstrategie wa (ha) r das  wohl  oder  was

          .HHH tz also ich hab immer n schlechtes gew-

          n  schlechtes gefühl dabei

          da wenn ich mich auf dieses ding gesetzt hab

          °°hab=ich fh=

          =aber ich habs, ab und zu hab ichs gemacht

          nur um zu testen halt nech

          .HHH[H

®              [

T .              [mh[m

                            [

P.                         [ja.

 

"Der Therapeut reagiert hier mit dem Hörersignal »mhm« auf das »nech« des Patienten im vorangegangenen Redezug. In der darauf folgenden Stille (s. u.), der Endphase der Erzählung, aktiviert der Therapeut seine Körperbewegung, indem er seine nonverbalen Handlungen mit denen des Patienten koordiniert. Diese interaktionelle Synchronisierung signalisiert eine wachsende Orientierung auf den Patienten, welche im Gegensatz zu der starken Zurückhaltung während der Erzählung der Episode steht." [24]

 

®         P  führt linke Hand                       T  führt linke Hand zum Gesicht

               zum Gesicht                                  und stützt Kopf darauf

                 __|__                                               __|__

                |         |                                             |         |

              (0.1)                                         (0.4)

                 P  führt  Hand  herunter  zum  Knie

                         __|___...

                        |

P: .    hh  ((schneuzt))   ja

          (0.5)

P:      so bekloppt kann das leben laufen hhh

 

"Der Patient endet seine Darbietung mit der zusammenfassenden und generalisierenden Bewertung »so bekloppt kann das leben laufen hhh«. An dieser Stelle manifestiert er seine Haltung der Passivität, indem er das Leben selbst als Agens darstellt." [25]

 

Ergänzungen und Folgerungen für unsere klinische Arbeit

An dem vorliegenden Material der Transkripte lassen sich noch viele weitere Frage­stel­lungen explizieren. Wir können dies hier nicht ausführen, haben mit dem letzten Beispiel aber hoffentlich einen kleinen Eindruck vermitteln können. Einige Forschungsfragen möch­te ich aber doch nennen:

Relevanzmarkierungen: Mit welchen sprachlichen und nonverbalen Mitteln heben PatientInnen die Bedeutung von Erzähleinheiten hervor? (Marlene Sator)

Ein eigenes spannendes Thema ist die Frage, ob und wie Patienten in der Beschreibung ihres Erlebens auf konventionelle Metaphern, Routinen zurückgreifen oder in der Formulierung eigene Kreativität entwickeln. (Elisabeth Gülich)[26]

In der Abschlussdiskussion wurden die unterschiedlichen Interessenlagen der Teil­neh­merInnen nochmals deutlich. Soziologen, Linguisten und Psychotherapieforscher verwiesen u.a. auf die zu undifferenzierte Notation der non-verbalen Interaktions-elemente, plädierten also für eine noch höheren Aufwand in der "Datenerhebung".

Die Information, eine Konversationsanalyse der Therapiesequenz weniger Stun­den hätte die Arbeit von mehreren Monaten zur Folge, bestärkte die KlinikerInnen auf der Tagung in ihrem Eindruck, Aufwand und Ertrag stünden in einem Missverhältnis. Genauer: die Kenntnisnahme dieser Forschung könne die Selbstwahrnehmung sensibilisieren, aber selbst kaum durchgeführt werden. Ulrich Streeck jedoch verwies in diesem Zusammenhang auf langjährige Erfahrungen – in Tiefenbrunn – mit Videoaufnahmen zu Forschungs- und Supervisionszwecken.[27]

Für meine Ausgangsfrage: Was machen wir hier eigentlich? erscheinen mir die vorgestellten, sozialwissenschaftlichen Forschungen eine höchst interessante Bereicherung. Sie selbst durchzuführen, liegt aber außerhalb unserer Möglichkeiten.

Zudem gibt es Fragen an den Ansatz, der mit dem eigentümlichen "Gegenstand" unserer Arbeit zu tun hat:

Die spezielle ethnomethodologische Konzeption des Individuums gerät in Gefahr, Emotionen, Affekte, Wünsche u.a.m. gänzlich in Interaktion aufzulösen.[28]

Psychosomatisches Arbeiten bewegt sich im Feld "zwischen" Kausalerklärung und Sinnverstehen. Wenn es um die Eigendynamik des Körpers geht, sind wir auf Physik, Chemie, Experiment und Messung angewiesen. Den gelebten und erlebten Leib in einen Gesetzen gehorchenden Körper zu "verwandeln", verdankt sich einer – oft notwendigen – methodischen Reduktion; ganz im Sinne Kants im Zitat am Anfang unseres Vortrages. Doch müssen wir das so gefundene technische Wissen in den Kontext einer Biographie – unserer eigenen oder der unserer PatientInnen – rückübersetzend zu verstehen suchen. Einschränkungen unserer Lebensmöglichkeiten oder Schmerz durchstimmen unser gesamtes Erleben, unsere Gefühle, unser Selbst- und Weltverhältnis, unsere Beziehung zu anderen Menschen und Dingen. Eine solche Wand­lung aller Bezüge zu verstehen, darauf zielt unsere oft gestellte Frage:

"Was macht 'das' mit ihnen?" – Die Frage selbst und die Antworten des Patienten, unser Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden, sind wiederum soziale Interaktionen, deren Regeln über die Intentionen der beteiligten Akteure hinausgehen. Neben dem dynamischen und kognitiven[29] Unbewussten, gibt es – und das ist eine der Lehren der skizzierten Konversationsanalyse – so etwas wie ein "soziales Unbewusstes"[30], das uns situativ voraus und nie gänzlich explizierbar ist.  

 

Literatur

Bergmann, J./ M. Egbert (2004): Angst – Von der Phänomenologie zur Interaktion. Zif-Mitteilungen  http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/Publikationen/04-4-Bergmann_Egbert.pdf  Printversion in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft, 4/2004, 227-242

Kant, I. (1787): Kritik der reinen Vernunft. Digitale Bibliothek - Sonderband: Kant: Werke

Peuckert, R. (1995): Stichwort "Soziologische Theorien. In: Schäfers, B. (Hrsg.). Grundbe­griffe der Soziologie. 4. verb. u. erw. Aufl., 1995

Schallberger, P. (?): Soziologische Theorie 2: Harold Garfinkel – Ethnomethodologie, http://www.soz.unibe.ch/studium/ss05/downloads/soztheorie2_garfinkel.pdf

Schiffer, E. und R. Süsske (1982): Der Therapeut als Opfer und Agent wissenschaftlicher Verhältnisse. Zum Dialog zwischen Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie, in: PSYCHE, 36: 26-732

Schneider, W.L. (2005): Grundlagen der soziologischen Theorie, Bd. 2, Wiesbaden (2.Aufl.)

Schüßler, G. (2002) Aktuelle Konzeption des Unbewußten – Empirische Ergebnisse der Neurobiologie, Kognitionswissenschaften, Sozialpsych. und Emotionsforschung, Z Psychosom Med Psychother 48, 192-214

Streeck, U. (1998): Verborgene Wege der Wunscherfüllung, in: Boothe, B./R. Wepfer/ A.v.Wyl (Hg.) Über das Wünschen. Ein seelisches und poetisches Phänomen wird erkundet, Göttingen 1998, 48-66

Ders. (2004): Auf den ersten Blick. Psychotherapeutische Beziehungen unter dem Mikroskop, Stuttgart.

Süsske, R. (1998): Das Leiden an der vergangenen Zukunft -  Phänomenologische Streif­züge durchs Feld verleiblichter Zeitlichkeit im therapeutischen Gespräch, über­arb. Fassung in: Christian Kupke (Hrsg.): Zeit und Zeitlichkeit – Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche, Band II, Würzburg 2000, 139-156

Ders. (1999): Über den Austausch von Doppelgängern - Metaphern im psychoanalytisch-psychotherapeutischen Dialog, online www.text-galerie.de  

Ders. (2002): Diesseits der Worte - Daniel N. Sterns Forschungen zum »impliziten Beziehungswissen« in Therapieverläufen, online www.text-galerie.de

Ders. (2003): Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen,  in: Psychoanalyse und Körper, 3.Jg., Heft 1, 2004, 41-63  online www.text-galerie.de

 

Weblinks

FQS – Forum Qualitative Sozialforschung. Mehrsprachiges Online-Journal für qualitative Sozialforscher(innen). http://www.qualitative-research.net/fqs/fqs.htm

Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Hrg. A. Deppermann und. M. Hartung, ISSN1617–1837 http://www.gespraechsforschung-ozs.de/index.htm

Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst - ZiF: Kooperationsgruppe  http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/KG/2004Angst/index.html

Linguistische Differentialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen,  Home­page des interdisziplinären Forschungsprojektes an der Universität Bielefeld. http://www.uni-bielefeld.de/lili/projekte/epiling/index.html

 

Anmerkungen

[1] vorgestellt in der Fortbildung der Abt. f. Psychotherapeutische Medizin/Psychosomatik am Christlichen Krankenhaus Quakenbrück – 11/2005

[2]  Vgl. Süsske: 1998, 1999, 2002, besonders 2003

[3]  Interdisziplinäres Forschungsprojekt an der Uni Bielefeld

[5]  Zif = Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld
http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/KG/2004Angst/index.html

[7] Vgl. Bibliographie der Transkriptionsverfahren, online z.B. http://www.daf.uni-muenchen.de/DTR/DTR__TRV.HTM

[8] Kant: 1787, 431f

[9] Schiffer/Süsske: 1982, 729

[10] Peukert: 1995, 332

[11] ebd.

[12] Streeck: 1998a, 55

[13] frei nach Schneider: 2005, 19

[14] Schallberger:

[15] ebd.

[16] ebd.

[17] Goffmans Hauptthematik lag auf der Identitätsproblematik, der Selbstpräsentation [Presentation of Self] in unterschiedlichen sozialen Settings – angesichts der strukturellen Verletzlichkeit des Ichs. Titel seiner Werke Asylum, Stigma, Wir alle spielen Theater, Das Individuum im öffentlichen Austausch.

[18] Bergmann/Egbert: 2004, 4. Ich zitiere und paraphrasiere im Folgenden ausgiebig aus diesem Text.

[19] ebd. "Das Transkript dieser Interaktion hält den Wortlaut, die Art des Sprechens, Vokalisierungen und auffälliges Atmen sowie nonverbale Handlungen fest. Hierfür werden spezielle Notationen verwendet: ».hh« steht für einatmen, »hh« für ausatmen. Erhöhte Lautstärke wird durch Großbuchstaben transkribiert, Betonung durch Unterstreichung. Unklar artikulierte sprachliche Fragmente sind in Klammern gesetzt. Oberhalb der Zeile, die den Wortlaut wiedergibt, werden nonverbale Handlungen in kursiv beschrieben. Die Zahl zu Beginn des Transkripts zeigt die verstrichene Zeit seit Beginn der Sitzung an."

[20] ebd., 5

[21] Sprachlogisch scheint ein Paradox vorzuliegen, psychodynamisch eher ein Konflikt.

[22] ebd., 6

[23] ebd., 8

[24] ebd., 9

[25] ebd.

[26] Die Analyse des Gebrauchs von Metaphern in Theorie, Selbstverständigung und Patientenäußerungen werden Thema einer eigenen, geplanten Fortbildungsveranstaltung sein.

[27] Die Teilnahme ist freiwillig, aber schon gewünscht [mündl. Mitteilung von Mitarbeitern]. Ergebnisse finden sich u.a. in Streecks jüngstem Buch, Streeck: 2004

[28] Die Fülle der Daten und der Aufwand der Analyse – so viel wir dadurch auch an Erkenntnis gewinnen – erinnern mich sehr an eine alte chinesische Geschichte, in der der Kaiser seinen Hofzeichner den Auftrag gab, eine genaue Karte des Reiches zu erstellen. Jeder Entwurf, der ihm gebracht wurde, war ihm nicht präzise genug. Am Ende war die Karte so groß wie das chinesische Reich selbst.

[29] Vgl. z.B. Schüßler: 2002

[30] Diese Hilfsformulierung hat – das dürfte deutlich geworden sein – nichts mit dem "kollektiven Unbewussten" C. G. Jungs gemein.

 

 

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erstellt: 04.11.2005

 

frame - Rudolf Süsske: "Die Außenwelt der Innenwelt" - Qualitative Forschung in der Psychotherapie - frame