-----..Kein sicherer Ort ?

Spätfolgen von
Missbrauch und
Gewalterfahrungen
bei Männern



 
Rudolf Süsske
Vortrag vom 08.05.2001
Diakonisches Werk Oldenburg
Ref. für Wohnungslosenhilfe

 

siehe dazu:
Leben ist nicht einfach ... - Reaktion eines Betroffenen    

1.
2.
3.

4.
5.
Themenstellung
Die Familie – Ort der Gewalt
Ausmaß, TäterInnen und Umstände sexueller
Gewalt gegen Jungen

Langzeitfolgen des sexuellen Missbrauchs
Der "Zirkel der Gewalt"
6.
7.

8.
9.
Exkurs zum Trauma-Begriff
Weitere Spätfolgen im Kontext des Trauma-Begriffs
Theorien der ‚Trauma-Verarbeitung‘
Salutogenese - Therapie – Unterstützung
Anhang, Anmerkungen mit Literatur

 

Herzlichen Dank für die Einladung ... ...

"Kein sicherer Ort?" – der Titel meines Vortrages – spielt mit dem Doppelsinn von Wohnungslosigkeit und der klinischen Erfahrung mit Traumapatienten, die in sich einen "sicheren Ort" finden müssen, von dem aus sie sich der Bearbeitung des Traumas & seiner Folgen stellen können.

 

1. Themenstellung

Obgleich wir es in unserer klinischen Tätigkeit auch mit Männern als Opfer traumatisierender Erfahrungen zu tun haben (jedoch in geringerem Ausmaß), ist doch das öffentliche Bewußtsein zumeist von der Gleichsetzung "Männer = Täter" bestimmt - oder wie Ursula Enders dies Ende der 80iger Jahre schon formulierte: "Jungen sind keine Opfer! Opfer sind weiblich!" (1) Zu dieser Sicht möchte ich hier vorerst nur sagen: Es gehört zur menschlichen Natur, zur "condition humaine" von Mädchen & Jungen / Frauen & Männern, traumatisierbar zu sein. Das gesellschaftlich und individuell wirksame Rollenstereotyp – vor dem das "männliche Opfer" wie ein kulturelles Paradox erscheint (2) - prägt jedoch nicht nur die spezifischen Reaktionsweisen der Betroffenen.

"Die überwiegende Zahl des sozialen, pädagogischen, therapeutischen, juristischen und medizinischen Fachpersonals verharmlost (noch) die an Jungen und Männern begangenen gewalttätigen Übergriffe oder weigert sich, diese überhaupt wahrzunehmen. (...) Männliche Opfer scheinen Beratern und Therapeuten Angst zu machen, weil sie eine dunkle Seite des Helfers berühren: die eigene Erfahrung des Sich-zur-Verfügung-Stellens. Die Helfer wollen die Opfer nicht sehen, weil sie selbst nicht mit ihrer eigenen schwachen - als weiblich denunzierten - Seite gesehen werden wollen" - so der Männerforscher Hans-Joachim Lenz (3)

In den folgenden Ausführungen möchte ich Ihnen einige wissenschaftliche Forschungsergebnisse und Erklärungsmodelle vorstellen, die sich fast ausschließlich auf Jungen bzw. Männer beziehen und sich wesentlich mit den Folgen sexueller Traumata beschäftigen.
Möglicherweise mutet dies etwas abstrakt an, aber der anschauliche Reichtum von oft bitteren Lebensgeschichten liegt in Ihrer täglichen, professionellen Erfahrung. Meine Ausführungen haben sich lediglich die
bescheidene Aufgabe gestellt, mittels empirischer Trends und klinischer Modelle zur Reflexion dieser Erfahrung beizutragen.

 

2. Die Familie – Ort der Gewalt

Wer von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt spricht, darf von der Familie nicht schweigen. Nur ganz kurz: In einem Drittel aller deutschen Ehen kommt es zu gewalttäigen Auseinandersetzungen zwischen den Partnern; die Zahl der Kindesmisshandlungen schwankt – je nach Studie - zwischen 80.000 und 400.000. Die Bundesregierung spricht von ca. 150.000 Fällen von sexueller Ausbeutung von Kindern pro Jahr (4).

Was die Familie für Gewalt & Traumatisierung so anfällig macht, ist gleichzeitig das, was sie positiv auszeichnet:

# Das Zusammenleben verschiedener Geschlechter und Generationen,
# die starke Emotionalisierung und
# die Enge der innerfamiliaren Beziehungen
# sowie der Körperkontakt (5).

Kinder benötigen emotionale Nähe und Zärtlichkeit, verläßliche und tragende Beziehungen, Freiräume & Grenzen, Herausforderungen zur Selbst- und Welterfahrung ohne Überforderung oder gar Ausbeutung. Ohne auf die Ursachen hier eingehen zu können, müssen wir aber feststellen, daß Kinder vernachlässigt und ihr aufkeimendes Selbstbewußtsein entwertet wird. Wievielen Erwachsenen klingt es noch heute in den Ohren: "das kannst du doch sowieso nicht" oder "es wäre besser, du wärst besser gar nicht geboren". Kinder werden eingesperrt, geschlagen, missbraucht und emotional ausgebeutet.

In der Bundesrepublik Deutschland erleiden 6 - 62% der Mädchen und 3 - 31% der Jungen sexuelle Übergriffe (6). Auch bei den Jungen stammen 57 – 84% der Täter & Täterinnen aus ihrem unmittelbaren Umfeld (7).
Die weite Streuung in den Statistiken ergibt sich aus den unterschiedlichen Methodiken der Studien, auf deren Problematik wir hier nicht eingehen können. Alle folgenden Angaben Unterliegen dieser
Einschränkung, so daß wir lediglich von empirischen Trends sprechen und auf detallierte Zahlenangaben verzichten werden.

 

3. Ausmaß, TäterInnen und Umstände
sexueller Gewalt gegen Jungen
(8)

Bis in die 80iger Jahre blieb sexueller Missbrauch an Jungen in der Forschung weitgehend unbeachtet; es gibt relativ wenige autobiographische Berichte. Männer sprechen kaum über das, was ihnen widerfahren ist. Auf die Gründe werden wir noch eingehen.bestellen

Wie groß genau nun diese Gruppe auch sein mag – wir nannten die Zahlen zwischen 3 und 31% - jeder Einzelne trägt Verletzungen davon, die sein weiteres Leben beeinträchtigen und in vielen Fällen zu dem führen, was der amerikanische Psychiater Shengold "Seelenmord" nannte.
Zwei Drittel bis 3/4 der Täter sind nahe Bezugspersonen der Jungen (Väter, Stiefväter, Nachbarn, Lehrer, Erzieher). Es mag unsere Vorannahmen über die Täter überraschen, aber es sind auch Frauen. Ihr prozentualer Anteil liegt zwischen 7 und 60%. Die große Streuung ergibt sich aus den differierenden Definitionen dessen, was unter "Missbrauch" zu verstehen sei:
Sicherlich ist es ein Unterschied, ob eine Mutter noch mit ihrem pubertierenden Sohn in einem Bett schläft und an seinen Genitalien ‚manipuliert‘ etc. oder ob mit Anwendung brutalster Schläge und Folter Jungen von Männern anal vergewaltigt werden. Beide Formen be-nutzen das Kind. Das Trauma gründet in einer ‚Beziehungsstörung‘ und "Sprachverwirrung" – wie es Ferenczi es schon 1933 formulierte (
9).
"Die Auffassung des Kindes von Erwachsenen- und Kindesliebe wird durch das Überstülpen der Erwachsenensexualität grundlegend erschüttert." (
10) Ähnliches gilt für körperliche Misshandlung. Wir sprechen hier nicht nur von der Angst, ja Todesangst und Schmerz, sondern sollten auch beachten, daß das kindliche Selbst oder Ich in einem 'Körperselbst' gründet. Dh. wird der Leib geschlagen, ist davon das gesamte leib-seelisch-soziale Selbst und seine Entwicklung getroffen.

Jungen sind besonders gefährdet, wenn in den Familien mindestens ein leiblicher Elternteil – insbesondere der Vater – fehlt. Insgesamt sind zerrüttete Familienverhältnisse – "broken homes" wie es in der angloamerikanischen Literatur heißt – der Nährboden für Missbrauch & Gewalt. Emotional vernachlässigte Kinder sind jedoch gerade aufgrund ihrer Bedürftigkeit nach Anerkennung, Nähe und Zärtlichkeit auch anfällig für außenstehende Täter (11).

Diese Konstellation macht die Interpretation der psychischen & sozialen Langzeitfolgen recht schwierig, da eine exakte Zuordnung von Ursache zu Wirkung eindeutig kaum möglich ist. Der einfache Umkehrschluß von Symptomen auf eine Ursache ist nicht zulässig. Immer wieder tauchen in der öffentlichen Diskussion einfache Erklärungsmuster auf - z.B. Eßstörungen oder Selbstverletzendes Verhalten seien immer Folgen von Missbrauch. Aber es sind jeweils vielfältige Faktoren, die hier zusammenklingen. Menschenschicksale / Lebensgeschichten sind vergleichbar, aber nie identisch, jeder Mensch ist eine Unikak, ein "Kunstwerk" – wie der Psychoanalytiker Michael Balint es einmal formulierte.

 

4. Langzeitfolgen des sexuellen Missbrauchs

Kommen wir nun – nach dieser methodischen Warnung - zu den Langzeitfolgen insbesondere des sexuellen Missbrauchs. Ich möchte hier einige Aspekte vorerst deskriptiv herausgreifen (12):

Aus Befragungen erwachsener Männer, wie sie selbst die Folgen von sexuellen Übergriffen in ihrer Jugend bewerten, ergab sich der erstaunliche Befund (13), ein bis zwei Drittel der Befragten bestritten negative Spätfolgen; es gibt sogar Studien, in denen die Nachwirkungen für das weitere Leben positiv genannt werden. Man kann sich vorstellen, daß diese Ergebnisse in der ‚Pädophilenszene‘ weidlich ausgenutzt wurden.
Unbeachtet blieben aber die Beschreibungen vielfältiger psychischer & sozialer Probleme in der gleichen Gruppe, die negative Folgen vermuten lassen und gleichzeitig auf einen subjektiven "Umdeutungsprozeß" seitens der Befragten verweisen. Wir kommen darauf noch zurück.

In der lebensgeschichtlichen Rückschau werden – wie wir sicherlich auch spontan vermuten – diejenigen Traumaerfahrungen am negativsten bewertet, wo es zu mehrfachen, gewaltätigen Übergriffen seitens älterer männlicher Täter kam.

Massive Gefühle der Scham und Schuld entwickeln sich bei Jungen & Männern, sofern a) emotional nahestehende Täter, besonders Täterinnen (z.B. Mütter) beteiligt waren und b) wenn es bei den Traumatisierten zu einer eigenen physisch-sexuellen Erregung kam. Was kleinere Jungen als irritierend, schmerzhaft und ekelig erleben wird von ihnen in seinem sexuellen Charakter oft erst mit und nach der Pubertät erfaßt; es kommt dann oft zu einem Schub (14) an Scham- und Schuldgefühlen, die nicht selten bei Adoleszenten in die Suizidalität führen.

Die Erfahrungen von absoluter Ohmacht, Hilflosigkeit und Schwäche in den Situationen des Missbrauchs und der Gewalt zerstören das oft schon oder noch fragile Selbst- und Weltvertrauen des Kindes, die Basis für jede Entwicklung. So empfinden sich auch noch viele Erwachsene als wertlos, unfähig und überflüssig. Das Selbstbild oder Selbstwertempfinden scheint umso stärker beeinträchtigt, je massiver die gewaltätigen und/oder sexuellen Übergriffe waren und je emotional näher sich Opfer und TäterIn standen. Viele Opfer schützen aus diesen Gefühlen heraus noch ihre TäterInnen und schweigen. Natürlich spielt auch Angst eine Rolle, Angst vor noch mehr Gewalt, aber auch Furcht davor, daß ihnen nicht geglaubt wird - eine oft berechtigte Furcht.

Bei vielen Opfern gleichgeschlechtlicher Übergriffe entwickelt sich zudem die Angst, homosexuell zu sein oder als schwul angesehen zu werden. Insgesamt kommt es zu einer Verunsicherung in der Geschlechtsidentität, die häufig eine Überidentifizierung mit dem männlichen Rollenstereotyp zur Folge hat. Sie stellen sich dann als besonder "cool" dar und entwickeln aggressive bis deliquente Verhaltenweisen. Interessanterweise zeigen die Untersuchungen aber auch das gegenteilige Bild: die Entwicklung besonders femininer Charakterzüge! Das sind dann solche Patienten, die wir immer in Frauenrunden finden - besonders verständnisvoll, aber mit gelegentlichen aggressiven, machohaften "Ausrutschern".

Versuchen wir diese scheinbar widersprüchlichen Befunde zu interpretieren (15), so liegt die Annahme eines kognitiv-emotionalen "Umbewertungs- oder Abwehrprozesses" nahe, der anfangs zur Überidentifkation mit der männlichen Rolle führt. Die oben genannte Trias von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Schwäche benennt ja sinnfällig die Antithese – das Gegenteil – von dem, was die männliche Rollenerwartung fordert: Macht – Kontrolle und Stärke. Gelingt diese Umbewertung bzw. Abwehr nicht, so greift ein ebenso starres feminines Rollenstereotyp, die Identifikation mit der Schwäche und Hilflosigkeit. Dafür hassen sich diese Männer mitunter, wobei Identifikation und möglicher Selbsthaß von der Mentalität und den Rollenvorstellungen des sozialen Umfeldes abhängig scheint; also von Gleichaltrigen, Arbeitskollegen und Famile.

Soziale Beziehungen sind oft massiv gestört, geprägt von den Erfahrungen und Empfindungen des Verrats, Misstrauens, Unsicherheit und Entfremdung. Überhäufig leben solche Männer getrennt, geschieden, mit der Angst vor längeren, emotional intensiven Beziehungen. Beziehungsabbrüche werden häufiger selbst inszeniert, um so die Kontrolle über die Situation zu behalten, nicht wieder in eine ‚Opferrolle‘ beim möglichen Verlassen-werden zu geraten.
Andererseits können aber die enttäuschten Sehnsüchte nach Nähe, Geborgen- und Sicherheit virulent und in abhängigen Beziehungen von Anderen ausgenutzt werden. So geraten ‚Opfer‘ immer wieder an ‚
Täter‘ – eine Art Wiederholungszwang. Unbewußt scheint uns hierbei der Wunsch mitzuspielen, die vergangene unerträgliche Erfahrung – in der Hoffnung auf einen nunmehr glücklichen Ausgang – wiederzuerleben (16).

 

5. Der "Zirkel der Gewalt"

Opfer bleiben Opfer, werden aber auch selbst Täter. Mindestens ein Drittel späterer Sexualstraftäter waren selbst in der Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt; ähnliches gilt sicherlich für Kindesmißhandler.
Man hat verschiedene Theorien zur Interpretation diesen "Zirkel der Gewalt" oder "Zyklischen Viktimisierung" (
17) herangezogen. Gemeinsam haben sie u.a. die Tendenz zur Umkehrung der Rollen von Opfer & Täter:

Die traditionelle Psychoanalyse nennt hier die Abwehrform der "Identifizierung mit dem Aggressor": indem ich wie der Täter fühle und handle, befreie ich mich vom Opferdasein, den Erfahrungen der Ohnmacht und Schwäche. Die Bindung von Führer und Gefolgschaft in totalitären Institutionen folgt z.T. diesem Muster. In der Selbstlegitimierung folgen dann die bekannten Sprüche: "Mir haben die Schläge nicht geschadet, dann können sie für mein Kind auch gut sein". In Abwehr der Erfahrung eigener Schwäche, soll der Sohn oder der Zögling "stark" werden und "was uns nicht umbringt, macht uns stark".

Die Theorie der "erlernten Hilflosigkeit" (Seligman) hebt ganz auf den Kontrollverlust in der eigenen Missbrauchserfahrung ab und sieht in der Re-inszenierung als Täter die Wiederherstellung von Herrschaft & Kontrolle über die Situation.

Ziehen wir die jüngere Psychoanalyse zu Rate und erinnern wir uns an die Ausführungen zum negativen Selbstwertempfinden bzw. zur männlichen Rollenerwartung, so ergibt sich der folgende Interpretationsansatz (18): Das geschlagene und/oder missbrauchte Kind bzw. der spätere Erwachsene ‚spaltet‘ unbewußt diesen Teil seiner Persönlichkeit, seines Selbst‘ ab, um von der Demütigung und dem Schmerz nicht überflutet zu werden. Es ‚haßt‘ diesen Selbstanteil, denn er ist nicht einfach "weg" i.S. von verdrängt. Vielmehr haben wir es mit einem Leben in nebeneinanderliegenden Welten zu tun, die nicht ineinander integriert werden können. Wird dieses Nebeneinander zu unerträglich und/oder im äußeren Umfeld kommt es zu zusätzlichen Belastungen, kann der verhaßte Selbstanteil nach "außen" in ein Opfer "projiziert" und dieses physisch misshandelt und/oder sexuell missbraucht werden. Diese 'Belastungen' können verschiedenster Art sein: Verlust von Anerkennung, Konflikte in der Partnerschaft oder die Geburt eines Kindes. Wenn solche Männer dann angeben, sie seien provoziert, ja verführt worden; die Jungen oder Mädchen hätten es geradezu "auf sie abgesehen", so ist das sicherlich eine Schutzbehauptung, gleichzeitig aber auch Ausdruck einer psychischen Pathologie, in der innere und äußere Realität ineinander verschwimmen.

Dabei sei angemerkt, die Formen der Spaltung und Projektion sind nicht notwendigerweise Mechanismen einer – im forensischen Sinne – schuldunfähigen Person: psychologisches "Verstehen" meint noch lange nicht "Entschuldigen".

Bleiben wir noch einen Augenblick bei aggressivem Verhaltenweisen als möglicher Folge von Kindheitstraumata. Eine eindeutige kausale Zuschreibung ist hier unmöglich; immer müssen die gesamten Lebensumstände betrachtet werden, wobei der Familiensituation eine Hauptbedeutung zukommt. So bestimmt die soziale Lage schon mitunter, ob ein auffällig gewordener Jugendlicher eher an einen verständnisvollen Therapeuten oder ins Justizsystem gerät.

Und noch ein Punkt scheint mir bedeutsam, insbesondere wenn wir von Straßenkindern, Trebegängern und Obdachlosen sprechen. Aggressives und deliquentes Verhalten, in gewisser Hinsicht auch Alkohol, Drogen und Prostitution gehören zur "Überlebensstrategie" in diesem Milieu. Mißtrauen, Unsicherheit, Kälte und Entfremdung in den Beziehungen - Empfindungen, die die meisten Traumatisierten teilen - sind es nicht selbstschützende Muster, die der Realität "auf der Straße" angemessen sind? Oder müssen wir eher sagen, dieses Leben ist ein "unaufhörliches Trauma". In Lehrerzimmern, Amtsstuben und psycho-sozialen Einrichtungen herrschen andere Kommunikationsstrategien, mitunter aber auch recht aggressiv, nur sublimer: Ironie, Sarkasmus, zynische Entwertung, Mobbing etc.

6. Exkurs zum Trauma-Begriff

Lassen Sie mich an dieser Stelle ein paar Bemerkungen zu einem Begriff einfügen, der seit ein paar Jahren in vieler Munde ist und den auch wir im Vorangegangenen kommentarlos verwendet haben – den Begriff des Traumas.

  • Ist Missbrauch ein Trauma? - eine fast Empörung herausfordernde Frage.

  • Ist eine Operation, eine Ohrfeige, ein Ehestreit oder Arbeitslosigkeit ein Trauma? - kommt wohl d'rauf an!

Bezeichnet der Begriff ein gravierendes, äußeres Ereignis, ein Erlebnis bzw. eine Erfahrung, eine Form der Verarbeitung oder bezeichnet er langfristige psychische Folgeschäden?

Begriffen wir Trauma vornehmlich als 'äußeres Ereignis', so betätigten wir uns dedektivisch in der "Aufklärung eines Sachverhaltes", in der "Identifizierung einer Ursache oder eines Täters", dann wollen wir haargenau wissen, wie "es" geschah, statt unsere Empathie darauf zu richten, wie "es" hier & jetzt immer noch geschieht: in überfutenden Erinnerungen, Träumen oder sich Beziehungskonflikten wiederholt und re-inszeniert; wobei dieses "es" sexueller Missbrauch, physische Misshandlung oder ein schwerer Unfall bedeuten kann. Ich spreche hier in psychotherapeutischer Perspektive; für eine Mitarbeiterin des Jugendamtes oder einen Anwalt mag dies anders aussehen.

Sigmund Freud beschrieb das Trauma als "ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt" (19).
Zwar noch gültig, bedarf diese recht formale Bestimmung einer Differenzierung, die insbesondere dem zeitlichen Verlaufs-Charakter psychischer Traumatisierung Rechnung trägt. Mit Fischer & Riedesser (
20) unterscheiden wir daher drei Phasen:

  • a) Die traumatische Situation;
    b) die traumatische Reaktion und
    c) den traumatischen Prozeß.

  • ad a die traumatische Situation: Geschehnisse / Situationen – seien es Gewalteinwirkungen, Katastrophen oder Unfälle – sind nicht per se (für sich) traumatisierend, sie enthalten aber ein "traumatisierendes Potential", dh. immer gibt es eine Wechselwirkung von Ereignis und Erlebnis, von realer Situation und psychischer Disposition des Individuums. Dies ist von besonderer Bedeutung bei Mehrfachtraumatisierungen, wenn also – metaphorisch gesprochen – der Alptraum nicht enden will.

    ad b die traumatische Reaktion: Traumatische Situation und traumatische Reaktion sind nicht ganz trennscharf. Bei letzterer liegt der Schwerpunkt aber mehr auf der innerpsychischen Ebene von "Abwehr- und Bewältigungsversuchen". Typischeweise finden hier einen Wechsel zwischen Verleugnung und Reizüberflutung, wobei die Verleugnung oft mit Alkohol und/oder Drogen - i.w.S. - unterstützt wird. Häufig äußern sich die Zustände der Reizüberflutung in Schlaflosigkeit oder in fürchterlichen Alpträumen.
    Gleichwohl haben wir es bei dieser traumatischen Reaktion mit einer Notfallmaßnahme der leib-seelischen Person zu tun, nicht mit einer Krankheit / Pathologie im engeren Sinne.

    ad c der traumatische Prozeß: Die mittel- und langfristigen Folgen von Traumata für die Erlebnis- bzw. Beziehungsfähigkeit und die Persönlichkeitentwicklung bestimmen das, was Fischer & Riedesser den "traumatischen Prozeß" nennen. Ein traumatisiertes Kind wird z.B. auf die Entwicklungsaufgaben in der Pubertät oder Adoleszens kaum noch angemessen "antworten" können, da sein gesamtes Selbst- und Weltverhältnis massiv erschüttert wurde und den weiteren Lebensweg (mit)bestimmt. Auch hier bestätigt sich der Satz: "Zeit allein heilt keine Wunden".

     

    7. Weitere Spätfolgen im Kontext des
    Trauma-Begriffs

    Bei vielen, aber wiederum nicht allen misshandelten und missbrauchten Männern finden wir Symptome, die einer chronifizierten Posttraumatischen Belastungsreaktion (PTBR) entsprechen (21):

    • Wiederkehrende, aufdringliche Erinnerungen in Bildern – sog. Flashbacks -, Gedanken bis zu massiven Wahrnehmungsverzerrungen werden von dem Gefühl begleitet, hier & jetzt wieder in der traumatisierenden Situation zu sein; Ohnmacht, Hilflosigkeit, Entsetzen machen sich breit. Manchmal genügen kleinste Ähnlichkeiten zwischen der früheren und der gegenwärtigen Situation, um Flashbacks zu evozieren: ein Zimmer, eine Stimme, ein Gesicht, ein Geruch.

    • Traumatisierte sind "immer auf der Hut", leiden unter massiven Schlafstörungen und werden von Alpträumen (22) geplagt. Überaufmerksam (Hypervigilanz) können sie sich kaum konzentrieren. Sie sind reizbar und neigen zu Wutausbrüchen.

    • Gleichzeitig versuchen sie alle Aktivitäten, Orte und Personen zu meiden, die Erinnerungen an das Trauma wieder wachrufen könnten. Emotional sind sie oft unfähig, zärtliche Gefühle zu empfinden oder – wie wir so schön sagen – "sich fallen zu lassen". Sie fühlen sich oft leer, "irgendwie daneben", entfremdet. Neben dem Eindruck, "psychisch taub" zu sein, findet sich oft eine sehr große physische Schmerz-unempfindlichkeit.

    Ich denke, es läßt sich leicht einsehen, welche Rolle in diesem Wechselspiel von Reizüberflutung und Verleugnung Alkohol, Drogen und Medikamente einnehmen. Sie sind ein verzweifelter ‚Selbstheilungsversuch‘, der zeitweilig Entspannung verschafft, aber letzlich – in der Sucht – einen weiteren Kontrollverlust bedeutet.

    Wer in die Trauma-Literatur einmal hineingeschaut hat, stieß sicherlich auf ein Phänomen, das ich noch besonders erwähnen möchte: Wie oft hören wir (23):

    • "Als Opa ‚das‘ mit mir machte, war ich nicht da, hab‘ geschlafen";

    • "ich bin dann oben auf dem Schrank gesessen und habe das nur noch
      von oben herab beobachtet";

    • "ich steige aus meinem Körper aus, ich nehme gar nicht wahr, was mit ihm geschieht";

    • "ich bin dann gar nicht ‚da‘, ich schalte ab".

    Das Selbst, überflutet von Affekten und Schmerz, rettet sich vor der endgültigen Vernichtung, indem es - wie wir es nennen - dissoziiert. Körperempfinden, Gefühle und Gedanken sind normalerweise miteinander verbunden - assoziiert. Wenn Körper- und Schmerzempfindungen "abgeschaltet" und Gefühle abgespalten werden, so sind sie vom Ich - analog gesprochen - dissoziiert. Wir kennen dieses Phänomen ansatzweise selbst aus Unfallerfahrungen oder bei Schreckensnachrichten. Wir fühlen kaum etwas, sprechen und handeln weiter, aber wie in Trance - der Zusammenbruch mit Zittern, Heulkrämpfen und den Bildern, was passiert oder hätte passieren können - folgt oft erst später, wenn wir die Situation schon verlassen habe.

    Das Selbst ist in der Dissoziation nicht mehr unabhängiger Mittelpunkt von Antrieb & Wahrnehmung, nicht mehr leib-geistige Einheit in Raum und Zeit (24). Personalität und Realität sind sprichwörtlich "ver-rückt". Nur am Rande bemerkt: Solche Dissoziationserlebnisse kennen wir alle, Traumatiserte und sogenannte Gesunde, jedoch nicht aus dem wachen Leben, sondern aus unseren Träumen. Auch dort löst - zumindest lockert - sich oft die Einheit des Selbst, das Raum-Zeit-Kontinuum auf.

    "Eigentlich sind wir nachts" so Ulrich Sachsse (25) "zwei- bis dreimal psychotisch: wir hören Stimmen, ... sehen Bilder, sind delirant. (...) Morgens werden wir wach, unser Frontalhirn hat sich alle Mühe gegeben, daraus einen sinnvollen Traum zu machen – man nennt das sekundäre Traumarbeit".

    So sind diese De-personalisation und De-realisation keine einfach "pathologischen" Phänomene; sie schützen das traumatisierte Individuum vor vollständiger Desintegration / Vernichtung. Dissoziation gibt es in den ürsprunglichen Misshandlungs- und/oder Missbrauchssituationen, aber auch in den späteren Phasen der überflutenden Erinnerungen.

    Die Formulierung "sich in die Dissoziation retten" kennzeichnet wiederum den Kompromißcharakter psychopathologischer Symptome. Sie bleibt aber nur die 'zweitbeste Lösung‘ und ist – wenngleich abgeschwächt – ebenfalls ein unfreier Zustand der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, ein Erleben im Zustand des ohnmächtig leidenen Objekts.
    Dem zu begenen - also Subjekt zu werden - hilft oft nichts anderes als sich selbst - aktiv, dh. in der Rolle der Wirkursache - Schmerz zuzufügen. Z.B. sich zu schneiden, zu verätzen oder zu verbrennen. Sich zu verletzen stellt ein Mittel dar, wiederum aus der Dissoziation herauszukommen. Wir stehen hier vor einem Teufelskreis: zuviel spüren - nichts mehr spüren, aber Fühllosigkeit - Erleichterung, aber Entfremdung: "ich bin anders" - Scham & Schuld darüber können (je nach Situation) wieder die verbannten Erinnerungen hervorlocken. Der Kreis beginnt von neuem.

    Die klinische Erfahrung lehrt, Frauen neigen eher zur Dissoziation, während Männer mit größerer Wahrscheinlichkeit dissozial, dh. verhaltensauffällig und deliquent werden. Doch hüten wir uns vor einer Pauschalisierung. Ich erinnere an meine Eingangsbemerkungen zum Thema.

     

    8. Theorien der ‚Trauma-Verarbeitung‘

    Versuchen wir nun die verschiedenen Folgesymptome von Misshandlung & Missbrauch sowie die vereinzelten Erklärungsskizzen in einem Interpretationsmodell zu integrieren, so stützen wir uns an dieser Stelle auf die Theorien von Janoff-Bulmans und Horowitz (26). Dazu muß ich etwas ausholen:

    Wir begegnen neuen Erfahrungen, Menschen, Dingen und Situationen immer schon mit einer ‚Skizze‘, besser mit einem Set aus Skizzen – die man auch ‚kognitive Schemata‘ nennen kann. Sie stammen aus unserer Vor-erfahrung und gliedern uns die Welt, wobei sie mit typischen Gefühlen und Handlungsmustern verbunden sind. Nur so gibt es einen ‚Sinn‘ in unserer Erfahrung; ohne Sinn kein Verstehen der Situation, ohne Verstehen kein (potentielle) erfolgreiches Handeln.

    Überrascht uns z.B. ein Partner/eine Partnerin mit einem unvertrauten Verhalten - sei es besonders distanzierend oder distanzlos brutal - so suchen wir die Situation zu 'normalisieren', dh. wir suchen bei ihm/ihr oder bei uns Anhaltspunkte, die uns das Verhalten erklären: "Was hat die bzw. der denn?" oder "Was hab' ich denn jetzt falsch gemacht?" Wir suchen nach alternativen ‚Sinn-gestalten‘. Plötzlich riechen wir die Alkoholfahne. Bewußt-unbewußt versammelt dieser Sinneseindruck Szenen aus der Vergangenheit und Erklärungsmuster, die wiederum unsere Erwartung daran bestimmen, wie die gegenwärtige Situation weitergehen kann und welche Einwirkungmöglichkeiten wir darauf haben. Es kommt zu einer ‚Umdeutung‘ – Sie erinnern den Begriff vom Anfang meiner Ausführungen! - Wir können nun zwar ärgerlich sein oder Angst empfinden, den Partner zum Teufel wünschen etc., gleichwohl haben wir die Situation und das Verhalten des Anderen in eine Ordnung, in einen Sinnzusammehang gestellt. 'Normalisierung' ist nicht mit 'Harmonisierung' zu verwechseln, obgleich letztere auch eine Form der Ordnungsherstellung bedeutet, nur eine, die im großen Maße mit Selbsttäuschung einhergeht.

    Die Bewegung der irritierenden Erfahrung des Neuen, Überraschenden, gefolgt von der Arbeit der 'Normalisierung' mittels Deutung und Umdeutung bestimmt ganz selbstverständlich und unbewußt unser tägliches Leben.

    Vor diesem, recht grob skizzierten Hintergrund - darauf geht der Sinn meiner Vorbemerkung - bedeutet das Trauma eine Ausnahmesituation:

    • Die traumatische Erfahrung – so Janoff-Bulmans –, dieses 'nur Opfer-Sein' erschüttert alle bisherigen Schemata bzw. Interpretationsmuster von sich selbst (Person) und der Welt; besonders hervorgehoben wird die Erwartung der eigenen ‚Unverletzlichkeit‘, der ‚Sinnhaftigkeit der Welt‘ und des ‚Selbstwertes‘. Schon hier wird - denke ich - das beschriebene Gefühl der Entfremdung, dieses ‚Draußen-Sein‘, die Leere nachvollziehbar.

    Im Versuch, sich selbst und die Welt wieder in eine ‚Ordnung‘ zu bringen, die traumatische und vergangene Erfahrungen in einen Sinnzusammenhang zu stellen, kommt es zur Umbewertung und alternativen Sinngebung des Geschehens & Erlebens.

    Der relativ hohe Prozentsatz von Männern, die negative Folgen ihrer Missbrauchserfahrung negieren, sie gar in positiven Licht erscheinen lassen, könnte mittels dieser Hypothese verstanden werden: "Ich bin doch kein Weich-Ei"; "ein Mann bleibt doch ein Mann". Auf die Kehrseite dieser männlichen Selbstbild-Rettung haben wir oben bereits hingewiesen.

    Doch bei größerer Gewalt und emotionalen Nähe funktioniert diese Umdeutung nicht: "das konnte doch nicht der gleiche Vater, der gleiche Lehrer, die gleiche Mutter sein, die ‚dies‘ tat und doch die wichtigste, zumindest potentiell – liebenswerteste Person in meinem Leben war." – Also: "ich bin schlecht, ich bin schuldig; wenn ich nicht da wäre, wäre nichts geschehen". Es mag sich zynisch anhören, aber mit negativen Sinngebung der eigenen Person ist die Welt wieder ‚in Ordnung‘; mehr noch: damit ist ‚Kontrolle‘ wiedergewonnen: ich bin zwar schlecht, aber dadurch nicht nur leidend-erleidendes Opfer, sondern durch mein Schlecht-und Schuldig-Sein bin ich Mit-täter, dh. aktives Subjekt.

    Horowitz geht mehr auf das Wechselspiel von Reizüberflutung und Verleugnung bzw. Selbstbetäubung ein: Neue Erfahrungen benötigen Zeit, kognitiv verarbeitet und emotional verkraftet zu werden. Bis wir das Neue der Situation in unsere vorgegebene Selbst- und Weltinterpretation integriert bzw. unsere Interpretationsmuster ergänzt haben, bleibt das Geschehen in unserem aktiven Gedächtnis. - Das kennen wir selber: unerledigte Aufgaben behalten wir meist besser als abgeschlossene (27).

    Auf Extrem- und Traumaerfahrungen, diesen "Riß" im gewohnten Sinngefüge, reagieren die Betroffenen gleichermaßen: das Trauma bleibt präsent, will ‚verstanden‘ werden. Horowitz spricht hier von einer Vollendungstendenz (28) der Reizverarbeitung. In dieser Phase finden wir die überflutenden (intrusiven) Erinnerungen, Gedanken und Gefühle.

    Sie lassen uns in ihrer Intensität aber keine Zeit, sind nicht aushaltbar, dann kann dieser Prozeß strikt unterbrochen werden: die Erinnerungen, die Gedanken und Gefühle sind wie "abgeschaltet". Fühllosigkeit, Entfremdung, Taubheit sind der Preis. Wir finden hier den Grund für die wechselhafte Symptomatik wie auch den Mechanismus der Dissoziation.

    Unter beruhigenden Umständen lockert sich diese Selbst-‚abschaltung‘ und die erste Phase der Überflutung tritt wieder auf, denn immer noch will der "Riß" in der Selbst- und Weltinterpretation verstanden/ verarbeitet und nicht "übertüncht" werden.

    In den psychotherapeutischen Gesprächen begegnet mir ein und derselbe Patient mal scheinbar konfus, überdreht und gespannt, dann wieder leer und depressiv, das kann sogar innerhalb einer Gesprächssequenz "umkippen". Gleichwohl kann er lernen, diesen Wechsel besser zu kontrollieren: nur soviel Erinnerung und Vermeidung zuzulassen, wie für ein allmähliches Verstehen und Verkraften nötig und möglich sind: Schmerz, Wut, Enttäuschung, Trauer folgen in einem langen, mühseligen Prozeß und lassen auf jeden Fall eine tiefe ‚Narbe‘ zurück.
    Leider gelingt dies nicht immer; der Wechsel von Überflutung und Vermeidung kann ‚einfrieren‘: im Erleben, Verhalten oder herrscht die "Wiederkehr des ewig Gleichen"; immer dieselben Ängste, Selbstverurteilungen, Beziehungskrisen, die gleichen nächtlichen Alpträume; wie "eine Schallplatte, mit einen Sprung". Klinisch besonders bedeutungsvoll ist dieses Phänomen, weil sich das, was Horowitz (
    29) "frozen states" (eingefrorene Zustände) nennt, auch nach einer erfolgreichen ersten Therapiesequenz einstellen kann.

     

    9. Salutogenese - Therapie – Unterstützung

    Ich habe diese Theorien auch deshalb vorgestellt, weil sie mit einem Modell zusammenklingen, daß sich nicht vornehmlich die Frage stellt, wie entsteht Krankheit, sondern was gewährleistet Gesundheit. Aaron Antonovsky (30) spricht – analog der Krankheitsentstehung = Pathogenese – von "Salutogenese" = Gesundheitsentstehung.

    Für unseren Zusammenhang heben wir einen Aspekt besonders hervor: das Kohärenzgefühl:

    "Das (...) meint eine Grundstimmung oder Grundsicherheit, innerlich zusammengehalten zu werden, nicht zu zerbrechen und gleichzeitig auch in äußeren Anbindungen Unterstützung und Halt zu finden. Der Kohärenz-sinn beschreibt eine mit diesem Gefühl einhergehende und an gedankliche Aktivität geknüpfte Weltsicht:

    • Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang begreifen (Verstehbarkeit).

    • Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge auch über innere und äußere Ressourcen (Hilfsquellen), die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme einsetzen kann (Handhabbarkeit).

    • Für meine Lebensführung ist Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Sinndimension)." (31)

    Verstehbarkeit ... + ... Handhabbarkeit ... + ... Sinnhaftigkeit

    der Welt,
    Zusammenhänge
    begreifen

    Vertrauen, aus eigener Kraft
    oder mit Unterstützung
    Lebensaufgaben zu meistern

     
     

    Kohärenzgefühl / -sinn

     
     

    » innerer Zusammenhang « und
    äußerer Zusammenhalt

     
     

    Gesundheit

     


    Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit: Was wir bislang über die psychischen und sozialen Folgen von Missbrauch & Misshandlung bei Männern hörten, widerstreitet diesen Kriterien. Und doch findet sich in den Symptomen der - letztlich zum Scheitern verurteilte - Versuch, das "Unerträgliche‘ zu verstehen, zu kontrollieren, dh. handbabbar zu machen und ihm einen Sinn abzugewinnen.

    Hieraus ergeben sich für TherapeutInnen, BeraterInnen und Angehörige wichtige Konsequenzen. Der Schritt zum Sprechen ist wichtig; Heraustreten aus dem Tabubereich. Der Scham wohnt eine Verheimlichungstendenz inne, die ineins Realität verschleiert (32). Es geht auch um die Übernahme von Verantwortung. Unter traumatisierten Männern zeigt sich - wie bei Frauen - der Mechanismus, sich für alles & jedes schuldig zu fühlen. Gleichwohl - und das mag vielleicht hart klingen - gibt es bei anderen Patienten die Tendenz, sich stets - in allen Beziehungskonflikten & Lebenslagen als "Opfer" zu fühlen und ich vermute, Männer sind für diese Realitätsverkennung anfälliger als Frauen. Dh. es geht nicht nur um einen emotionen Prozeß mit Gefühlen der Wut, Enttäuschung und Trauer, einen Abschied von der Illusion liebender Eltern, einen Abschied von der Sehnsucht, wie Andere eine glückliche Kindheit gehabt zu haben; sondern es geht auch um Unterscheidungsprozesse: damals war ich schuldlos der Gewalt ausgeliefert, aber heute bin ich nicht mehr das Kind von damals, ich muß mein heutiges Handeln verantworten.

    Wieweit ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte das kann, hängt von seinen "Ressourcen" - wie es neuerdings so schön heißt - ab. Und damit komme ich zu einer Einschränkung des soeben Gesagten: Sprechen hilft, aber nicht allein!

    Es bedarf innerer & äußerer Orte der Sicherheit, zu denen man(n) sich retten kann, wenn sie Erinnerung zu massiv oder die Selbstbetäubung zu stark werden. Früher nannte man solche Stätten Asyl.
    Das ist auch ein Grund, warum in unserer Klinik kreativitäts- und phantasiefördernde Projekte die Einzel und Gruppengespräche begleiten (
    33): Gefühle und Erfahrungen in eine Geschichte zu bringen, ein Bild, eine Skulptur zu gestalten, ein Pferd zu reiten oder Floß zu fahren heißt, mit Anderen Situationen zu gestalten, deren Struktur ich verstehe, die handhabbar sind, weil ich sie mit-herstelle und die mich nicht nur überleben, sondern wirklich leben lassen, also einen Sinn haben. Unschwer erkennen Sie die Trias, die dem gesundheitsfördernden Koheränzgefühl zugrunde liegt.

    Ich komme zum Ende meines Vortrages mit ein paar warnenden Fragen aus eigener langjähriger Erfahrung. Steht hinter dem Interesse an Missbrauch & Gewalt nur das notwendige Aufbrechen von gesellschaftlicher Tabuisierung und die Suche nach professionellem Wissen? Was entsetzt und fasziniert uns zugleich an den Erzählungen Betroffener? Warum sehen wir den "ungeliebten Suchtpatienten"(34) plötzlich mit anderen Augen, wenn wir auf etwaige Traumata stoßen?
    Mir selbst fiel bei Schreiben nochmals auf, welche bedeutsame Rolle den Gefühlen der Schuld und Scham für die Entwicklung von Kindern & Erwachsenen zukommt und erinnerte ein Gebot aus der jüdischen Tradition - sinngemäß: "Du sollst Deinen Nächsten - besonders den Hilfsbedürftigen - nicht beschämen".

    Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.

    Diagnostische Kriterien
    der
    Posttraumatischen Belastungsstörung
    nach DSM IV (35)

    10. Anmerkungen & Literatur

    Einladung durch Dr. Peter Szynka,
    Diakonisches Werk Oldenburg, Referent für Wohnungslosenhilfe
    , 2. Vors. des Forum für Community Organizing e.V. (FOCO), Supervisor und Lehrbeauftragter an der Uni Bremen

    1 zit.in: Lenz, H-J, Männer als Opfer, online: http://www.oeko-net.de/mabuse/zeitschrift/mab125d.htm

    2 ebd.

    3 ebd

    4 Rauchfleisch, U. (1996): Allgegenwart von Gewalt, Gött.-Zürich, S.65 und 79

    5 ebd. S.63

    6 ebd. s.79

    7 Julius, H./U. Boehme (19972): Sexuelle Gewalt gegen Jungen. Eine kritische Analyse des Forschungsstandes, Göttingen, S.72

    8 Wir beziehen uns in der folgenden Darstellung hauptsächlich auf die vorzügliche Übersicht von H.Julius und U.Boehme (ebd.), die nicht nur viele Daten aus deutschen und angloamerikanischen Studien vortragen, sondern auch deren methodische Schwierigkeiten thematisieren.

    9 vgl. ebd., S.238f

    10 Hirsch. M. (1994): Aggression und Autoaggression in der Inzest-Dynamik, in: Psychoanalytische Blätter, Bd.1, Gött. & Zürich, S.13

    11 Unter den jugendlichen Ausreißern beträgt der Anteil sexuell traumatisierter insges. 33 – 56%, Jungen betrifft es mit ca. einem Drittel. Vgl. die Diplomarbeit von Andreas Gleis (1997): Strassenkarrieren junger Menschen – Unter berücksichtigung der psychosozialen Bedingungsfaktoren, Münster, online:(s. Diplomarbeit oder strasska.zip)
    http://www.gleis.de/download/

    12 vgl. Julius/Boehme, a.a.O., Kap. 4.2 und 4.3

    13 vgl. ebd., S.191f

    14 Eingehender müßte dies mit dem psychoanalyrischen Konzept der "Nachträglichkeit" in Verbindung gebracht werden.

    15 ebd., S.198f

    16 vgl. Süsske, R. (2000): Das Leiden an der vergangenen Zukunft, in: Kupke, C.(Hg.):
    Zeit und Zeitlichkeit. Beiträge der Ges. f. Philosophie & Wiss. der Psyche, Bd.2, Würzburg, S.139-157 online:
    http://www.suesske.de/suesske_zukunft_leiden.htm

    17 vgl. Julius/Boehme, a.a.O., S.68-70, 200ff sowie Fischer, G. / P. Riedesser (1998): Lehrbuch der Psychotraumatologie, Mnch. Basel, S.285ff

    18 vgl. Fischer / Riedesser, a.a.O., ebd.

    19 Freud, S. (1915): GW 9

    20 Fischer / Riedesser, a.a.O. Wir folgen hier der guten Zusammenfassung von R. Bawinski Fäh (2000) Psychisches Trauma - ein unmögliches Konzept, online:
    http://www.psychotrauma.ch

    21 im Anhang habe ich eine genauere Übersicht der Diagnose-Kriterien für die PTBR beigefügt.

    22 vgl. Süsske, R. (2000a): Vermischte Bemerkungen zum Thema Traum und Trauma. Vortrag auf der Tagung "Vom Träumen und Hoffen", CKQ Quakenbrück (6.12.2000) - online: http://www.suesske.de/suesske_trauma.htm

    23 vergl. Sachsse (2000): Schwere Traumatisierungen – wie bewältigen? Das dort Ausgeführte deckt sich mit eigenen klinischen Erfahrungen. online:
    http://www.fachklinik-furth.de/sachs.htm

    24 wie in der klassischen Bestimmung z.B. bei Heinz Kohut - vgl. Süsske, R. (1998): Was meint Heinz Kohut, wenn er vom Selbst spricht?, online: http://www.suesske.de/kohut_selbst.htm

    25 Sachsse (a.a.O.)

    26 vgl. Julius / Boehme, a.a.O., S. 244-250

    27 sog. Zeigarnik-Effekt

    28 Horowitz bedient sich hier des psychoanalytischen Konzepts des "Wiederholungszwangs" und gestaltpsychologischer Konzepte: "Tendenz zur guten Gestalt" bzw. o.g. Zeigarnik-Effekt aus der Schule Lewins.

    29 vgl. Sachsse.,a.a.O

    30 vgl. Schiffer, E. (2001): Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese – Schatzsuche statt Fehlerfahndung, Weinheim & Basel

    31 ebd., S.29

    32 Bruder, K.-J.(1996): Die Scham des Missbrauchers - (und die) Probleme der Therapie,
    in: Psychoanalytische Blätter, Bd.4, Gött.& Zürich, S. 111

    33 Bei Interesse fragen Sie nach - Einstiegsinformationen online:
    http://www.psychosomatik-ckq.onlinehome.de/abteilung.htm

    34 Ebi, A. (2000): Der ungeliebte Suchtpatient, Psyche 6/2000, S.521-543

    35 American Psychiatric Association (1996) Diagnostisches und statistisches Manual psychichischer Störungen, dt.Übersetzung; Gött-Bern-Toronto. in: Fischer / Riedesser, a.a.O., 42f)


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    siehe dazu:
    Leben ist nicht einfach ... - Reaktion eines Betroffenen    
     

    Siehe auch:
    Vermischte Bemerkungen zum Thema Traum und Trauma  R. Süsske

     


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