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Skizzen zum Rekurs auf die "Lebenswelt" in der Phänomenologie Edmund Husserls

  von Rudolf Süsske

Edmund Husserl

I. Auftakt
II. Phänomenologische Grundbegriffe
III. "Die Krisis der europäischen Wissenschaften"
IV. Zum Problem der historischen Rückfrage
V. Die Lebenswelt
VI. Perspektiven der Kritik
Anmerkungen
Literatur
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"Reflexion ist nur wahrhaft Reflexion, wenn sie sich nicht über sich selbst erhebt, vielmehr sich selbst als Reflexion-auf-Unreflektiertes erkennt, und folglich als Wandlung der Struktur unserer Existenz."
MERLEAU-PONTY

I. Auftakt

"Lebenswelt", "Alltagswelt" oder "Common-Sense-WorId" sind seit einiger Zeit zum Thema und manchmal zur Modeerscheinung avanciert. Dies geschah weniger in der Philosophie als in den Soziawissenschaften, der Psychologie und der sozial-historisch orientierten Geschichtswissenschaft. 1

Die Thematisierung dieser Begriffe verdankt sich aber nicht der zufälligen Entdeckung eines neuen, unbearbeiteten "Gegenstandes", sondern dem vielfachen Ungenügen der bisherigen theoretischen und methodischen Ansätze. So ist z.B. der Symbolische Interaktionismus 2 und die Entwicklung der Ethnomethodologie3 als Gegenbewegung zum Struktur-Funktionalismus zu verstehen; oder, wenngleich in viel artifiziellerer Form, die Naive Verhaltenstheorie und die Selbstkonzeptforschung 4 in der Psychologie aus den vereinseitigungen von Eigenschaftstheorien und Behaviorismus hervorgegangen, was jedoch kein mechanisches Determinationsverhältnis unterstellen soll. Allen Ansätzen gemeinsam ist die Hinwendung zum Subjekt, zum Individuum in seinen alltäglichen Handlungs- und kommunikationszusammenhängen, wobei die Interpretatiansmuster des Individuums selbst von Interesse sind.

So geraten vormalige Selbstverständlichkeiten der Theoriebildung und Methodik erst in den Blick. Im Symbolischen Interaktionismus werden so z.B. eindeutige kulturelle Deutungsmuster in einer prozessoralen Sichtmeise aufgelöst: "Vielmehr müssen Situationsdefinitionen und Handlungen angesehen werden als Interpretationen, die von den an der Interaktion Beteiligten an den einzelnen 'Ereignisstellen' der Interaktion getroffen werden, und die in der Abfolge von ' Ereignisstellen' der Überarbeitung und Neuformulierung unterworfen sind. " (WILSON, 1960 , S.61 ) Die Ethnomethodologen gehen noch weiter. Wissenschaft und Alltagshandeln sind für sie gleichermaßen Methoden, Wirklichkeit herzustellen. Wiederholbarkeit, Regelmäßigkeit und Stabilität der sozialen Realität existieren nicht an sich, sondern sind fragiles Produkt der Alltagshandelnden. Ihr Interesse gilt den Grundregeln ("basic rules") dieses Prozesses. Es ist der Versuch, auf empirischem Wege der transzendentalphilosophischen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Realitätserkenntnis und -konstitution nachzugehen. Konsequenterweise muß die Untersuchungsmethode bei diesen Ansätzen ebenfalls verändert werden. Der quantitativen, mit von außen gesetzten Variablen arbeitenden Sozialforschung sind damit Grenzen gezogen. Der Prozeß der Quantifizierung und Operationalisierung, die Subjekt-Objekt-Relation werden neu reflektiert und durch "qualitative Verfahren" ersetzt. 5 Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen 6, was aber nicht darüberhinwegtäuschen sollte, daß auf der "anderen Seite" die Tendenz zu immer abstrakteren Konzepten und methodisch-statistischen Verfeinerungen weitergeht 7. Bezeichnenderweise wird das Thema gerade dann aktuell, wenn von anderer Seite die Destruktion der Lebenswelt und der Individuen beschrieben oder gar die Abdankung des Subjekts gefeiert wird. Nicht das erste Mal tritt die Eule der Minerva ihren Flug am Abend an.

Sofern wir uns von solchen Totalverurteilungen nicht blind machen lassen, wird unser Blick frei für die Ambivalenz, die in diesem Thema von Lebenswelt und Alltag steckt: einerseits fungiert der Alltag als kritische Instanz gegen theoretisch-wissenschaftliche Konstrukte und institutionelle Überfremdungen des Lebens; andererseits wird der Alltag selbst zum Gegenstand der Kritik, seine Selbstverständlichkeiten gerade in Frage gestellt.

Im Folgenden werde ich jedoch diese sozialwissenschafflichen und psychologischen Ansätze nur streifen. Mein Interesse gilt eher den philosophischen Wurzeln, denen diese fachwissenschaftliche Betrachtungsweise entstammt. Und auch hier werde ich mich auf den phänomenologischen Strang beschränken, denn Edmund Husserl und sein soziologischer Interpret Alfred Schütz sind nicht die einzigen Quellen, aus denen die alltagstheoretischen Ansätze schöpfen konnten: neben Mead und dem Pragmatismus, wären da noch die sprachtheoretischen Überlegungen in der Nachfolge des späten Wittgenstein zu nennen. 8 Die Einschränkung ist mehrfach motiviert: zum einen geht es in diesem Referat auch um eine Einführung in die Phänomenologie, zum anderen hat Husserl den Begriff der Lebenswelt nicht nur als Sonderproblem einer Wissenschaft geprägt, sondern sie zum philosophischen Universalproblem erklärt. Mit dem Rückgang auf die Lebenswelt und korrelativ auf die lebensweltliche Anschauung will er den, dem "Objektivismus" verfallenen neuzeitlichen Wissenschaften nicht nur ihre Lebensbedeutsamkeit zurückgeben - denn gerade das Vergessen der Lebenswelt als dem Boden und Horizont, von dem jede wissenschaftliche Konstruktion ausgeht und auf den sie zurückweist, ist ihm für die Krise der neuzeitlichen Wissenschaften verantwortlich. Es geht ihm darüberhinaus um die Rehabilitierung der Philosophie als universaler Vernunftwissenschaft, die in der Beschreibung einer Ontologie der Lebenswelt, den Wissenschaften erst ihre Ermöglichung als spezifische menschliche Zweckgebilde freilegt und auch allen historisch-relativen Lebenswelten ihre invariante Struktur vorhält. Sein Programm findet in dem Versuch, diese letzte Vorgegebenheit der Lebenswelt, selbst noch einmal als eine konstitutive Leistung der transzendentalen Subjektivität zu begreifen, seinen Höhepunkt.
Das Folgende wird sich auf eine Explikation dieser Andeutung, der Freilegung einiger Aporien und alternativer Denkmöglichkeiten beschränken.

II. Phänomenologische Grundbegriffe

Die Phänomenologie ist wesentlich eine bestimmte Art des Fragens, zeigt primär einen Methodenbegriff an. Mit der Parole: "zurück zu den Sachen selbst!" wollte Husserl um 1900 die Verkrustungen und Engführungen des philosophischen Fragens aufbrechen. "Das gilt einmal für die positivistische Verkürzung der Erfahrung, die in elementaren Sinnesdaten einen sicheren Anhalt zu finden hoffte; das gilt ferner für die intellektuellen Konstruktionen, vor allem die des Neukantianismus, die sich wie ein 'Ideenkleid' über die Dinge legten; das gilt schließlich für die historische Entmachtung der Vernunft" (Waldenfels, 1979, S.11). So ist die Phanomenologie nicht eine Angelegenheit des Entwerfens oder Beherrschens, sondern das Vermögen des Vernehmens. "Vernünftig oder wissenschaftlich über Sachen urteilen, das heißt (...), sich nach den Sachen selbst richten, bzw. von den Reden und Meinungen auf die Sachen selbst zurückgehen, sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseitetun." (Husserl, Ideenl, S.35)

Der Ausdruck "Phänomenologie" hat zwei Bestandstücke: Phänomen und Logos. An ihnen kann der formale Phänomenologie-Begriff gewonnen werden. Phänomen (griech. phainomenon) heißt: "das Sich-an-ihm-Selbstzeigende, das Offenbare" (Heidegger, SZ, S.26). Das Sichzeigende fundiert auch noch den "Schein". "Nur sofern etwas überhaupt seiner Struktur nach prätendiert, sich zu zeigen, d.h. Phänomen zu sein, kann es sich zeigen als etwas, was es nicht ist, kann es 'nur so aussehen wie ...'"(ebd. S.29) 9. Wird unter dem Sichzeigenden das Seiende, das durch empirische Anschauung Zugängliche verstanden, wie es die positiven Wissenschaften thematisieren, so bewegen wir uns im Raum des vulgären Phänomenologiebegriffs. Demgegenüber sind Phänomene der Phänomenologie gerade solche, die an den vulgär verstandenen Erscheinungen unthematisch, aber vor- und mitgängig bleiben: z.B. bei der Wahrnehmung eines Dinges sind wir immer schon beim "Ding", ohne zu "sehen", wie es uns im Akt der Wahrnehmung gegeben ist und sich als Identisches durch die Mannigfaltigkeit von Perspektiven durchhält. Wir kommen darauf zurück.
Logos
heißt in seiner Grundbedeutung: Rede, wurde später jedoch vielfältig ausgelegt als Vernunft, Urteil, Begriff, Denken, Grund, Verhältnis (vgl. ebd. S.32). Logos besagt als Rede, "offenbar machen das, wovon in der Rede 'die Rede" ist" (ebd.). weil die Funktion des Logos im Sehenlassen von etwas liegt, kann er die ursprüngliche Struktur der Synthesis vorstellen: etwas in seinem Beisammen mit etwas, etwas als etwas sehen lassen" (ebd. S.33).
Wahrheit, bzw. bei Husserl Evidenz in seiner allgemeinsten Bedeutung, heißt in diesem Zusammenhang, das Seiende, wovon die Rede ist aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es als Unverborgenes sehen lassen, entdecken; womit Falschsein als Täuschung, Verdeckung bestimmt ist: etwas vor etwas stellen und es damit ausgeben als etwas, was es nicht ist.
In der Skizzierung des formalen Phänomenologiebegriffs sollte deutlich geworden sein, daß mit Phänomen nicht so sehr der thematische Gegenstand als solcher, vielmehr seine Begegnisart und seine Gegebenheitsmodi von Interesse sind. Der Logos der Phänomenologie bestimmt, 'wie' die Sache durch direkte Auf- oder Ausweisung untersucht werden soll.

Nun geht es darum, durch Bestimmung dessen, was in der phänomenologisch verfahrenen Philosophie Husserls verhandelt wird, den eingeführten Phänomenologiebegriff zu ent- formalisieren.10 Der thematische Gegenstand Husserls ist das Bewußtsein mit seinen Akten und Erlebnisweisen und demjenigen, was in diesen Bewußtseins-Akten gegenständlich bewußt ist. Akt und Gegenstand stehen aber nicht zufälligerweise als zwei Themen nebeneinander, sondern sind notwendig aufeinander bezogen. Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas, ist intentional auf einen Sinn gerichtet. Intentionalität heißt, daß all unsere Erlebnisakte in sich selbst auf wiederholbare Sinngestalten bezogen sind. Es steht uns keine fertige Welt gegenüber, die der Geist lediglich reproduziert. Im "welterfahrenen Leben" vereinigen sich Welt und Bewußtsein zu einem konstitutiven Geschehen. In der "natürlichen Einstellung" bin ich mir einer Welt bewußt: "ich finde sie unmittelbar anschaulich vor, ich erfahre sie. Durch Sehen, Tasten, Hären usw.., in den verschiedenen Weisen sinnlicher Wahrnehmung sind körperliche Dinge (...) für mich einfach da." (Husserl, Ideen I. S.48) Das wache Bewußtsein befindet sich allzeit, und ohne es ändern zu können, "in Beziehung auf eine und selbe, obschon dem inhaltlichen Bestande nach wechselnde Welt" (ebd.S. 50)
Doch im natürlichen Bewußtseinsvollzug lebe ich so in meinen Akten, daß ich sie unthematisch durchlebe. Erst durch eine Reflexion erkenne ich, jeder "Gegenstand" weist zurück auf einen ihm gemäßen Akt: das wahrgenommene Haus als leibhaft anwesendes, auf den gegenwärtigenden Akt der Wahrnehmung; die Person, mit der ich gestern sprach, ist mir als vormalig Gegenwärtig-Gewesene im Modus der Wiedererinnerung gegeben.

Diese korrelative Bewußtseinsanalyse geht über den o.g. vulgären Phänomenologiebegriff hinaus, sie bleibt nicht versunken bei den Sachen, sondern thematisiert ihre Gegebenheitsmodi und ihre Wesensstrukturen. Durch letztere gewinnt die Vielfalt der Phänomene, die - wie Husserl sagt - einen Herakliteischen Fluß darstellt, ihre relative Festigkeit und legt unserer Erfahrung typische Regelungen auf. Gewonnen werden sie in einem Verfahren der "eidetischen Variation?; von einem anschaulichen, individuellen Gegenstand ausgehend, wird dieser in immer neuen Varianten abgehandelt, bis sich die invariante Struktur aufzeigen läßt, die sich durch alle phantasierten Möglichkeiten durchhält. Wir werden später sehen, wie Husserl mit diesem Verfahren die invariante, apriorische Struktur der Lebenswelt gewinnen will, in der alle historisch-konkreten Lebenswelten als Möglichkeiten eingezeichnet sind.

Bisher haben wir etwas sehr wesentliches und vielleicht auch irritierenden Moment der Husserlschen Phänomenologie außer Acht gelassen. Um wirklich Philosophie, in radikaler Selbstbesinnung und -verantwortung treiben zu können, benötige ich einen unbezweifelbaren Ausgangspunkt. Dieses fundamentum inconcussum findet Husserl im ego cogito. Das bedeutet einen Bruch mit der "Generalthesis der natürlichen Welteinstellung" , die immer schon eine daseiende Welt voraussetzt. In jedem Akt der Form, daß etwas so oder so ist, artikuliere ich ein Urteil über die Existenz dieses etwas. In einem methodischen Zweifel, durchaus in cartesianischer Tradition, setze ich diese Existenzbehauptung außer Geltung, ich "klammere" sie ein. Doch ist von dieser Epoché oder Reduktion, wie Husserl diesen Vorgang nennt, nicht nur dieser oder jener Gegenstand betroffen, sondern die Welt als Ganzes. Damit verschwinden nicht meine Urteile, meine Wahrnehmungen und deren "Gegenstände", ich enthalte mich nur der Aussage über Sein oder Nichtsein dieser Dinge und betrachte sie als Elemente innerhalb meines strömenden Bewußtseinslebens. Es bleiben "intentionale Gegenstände", so wie sie in direkter Ausweisung meinem Bewußtsein gegeben sind. Dies hat nichts mit Skeptizismus oder Agnostizismus zu tun. Durch die Epoché wird im Gegenteil der Blick frei für die Reflexion auf die Selbstverständlichkeiten, die in der natürlichen Welteinstellung unthematisch bleiben. "Es ist hierbei zu beachten: So wie das reduzierte Ich kein Stück der Welt ist, so ist umgekehrt die Welt und jedes weltliche Objekt nicht ein Stück meines Ich, nicht in meinem Bewußtseinsleben als dessen reeller Teil (im Gegensatz zu Erlebnissen - R.S.), als Komplex von Empfindungsdaten oder Akten reell vorfindlich. Zum eigenen Sinn alles weltlichen gehört diese Transzendenz, obschon es den gesamten es bestimmenden Sinn, und mit seiner Seinsgeltung, nur aus meinem Erfahren, meinem jeweiligen Vorstellen, Denken, Werten, Tun gewinnt und gewinnen kann." (Husserl, CM, S.27f) 11

Nun erst haben wir, so Husserl, den Raum absoluter Voraussetzungslosigkeit erlangt: das ego cogito und seine intentionalen Gegenstände sind zweifelsfrei gewiß, haben apodiktische Evidenz. Hiervon zu unterscheiden ist die adäquate Evidenz. In der vorwissenschaftlichen Erfahrung haben wir unvolkommene Evidenzen, das "besagt dabei in der Regel Unvollständigkeit, Einseitigkeit, relative Unklarheit in der Selbstgegebenheit der Sachen oder Sachverhalte, also Behaftung der Erfahrung mit Komponenten unerfüllter Vormeinungen und Mitmeinungen. Vervollkommnung vollzieht sich dann als synthetischer Fortgang einstimmiger Erfahrungen, in der diese Mitmeinungen zur erfüllenden wirklichen Erfahrung kommen" (ebd. S.16). Die Idee der Vervollkommnung, die z.B. bei der Dingwahrnehmung prinzipiell im Unendlichen liegt, wäre die der adäquaten Evidenz.

Untersuchen wir einmal die "äußere Wahrnehmung" : Einen Gegenstand sehen heißt, ihn entweder marginal im Gesichtsfeld haben oder ihn zu fixieren. Doch das "Ruhen" des Blicks ist nur eine Modalität seiner Bewegung: "das Forschen des Blicks, der eben alle Gegenstände überflog, setzt sich nunmehr innerhalb des einen Gegenstandes fort; in ein und derselben Bewegung erschließt sich der Gegenstand und verschließt sich seine Umgebung.(...) Genauer gesprochen kann der Innenhorizont eines Gegenstandes nur selbst Gegenstand werden, indem die umgebenden Gegenstände zum Horizont werden." (Merleau-Ponty PdW, S.92) 12 Da der Erlebnisstrom nie nur aus Aktualitäten bestehen kann, ist er durchsetzt von unthematischen Hintergrundannahmen. Die Struktur von Entbergung-Verbergung bewirkt, daß mir ein Wahrnehmungsding nur in Abschaltungen gegeben ist.
Nehme ich das Sehen eines Hauses zum Thema der Beschreibung, so erkenne ich in der Reflexion, daß ich dieses Haus durch eine vielgestaltige wandelbare Mannigfaltigkeit bestimmt zugehöriger Erscheinungsweisen als eine kontinuierliche gegenständliche Einheit vermeine: ich sehe die Vorderfront und mein Blick wird gleichsam fortgezogen, "motiviert", auch die Seiten und die Hinterfront zu betrachten. Jeweils ist in meiner Intention mehr mitgemeint als in der aktuellen Wahrnehmung zur Erfüllung kommt, und doch hält sich dieses Eine, in den wechselnden Modi des da und dort, durch. Das absolute Hier, dem sich diese Verweisungsganzheit "zustellt", nimmt meine leibgebunden Perspektive ein.
"Einen Gegenstand anblicken, heißt in ihm heimisch werden und von ihm aus alle anderen Dinge nach ihren ihm zugewandten Seiten erblicken" (ebd.) So wird der Außenhorizont thematisch: das Haus "blickt" nach vorn auf die Straße, seitwärts auf angrenzende Gemäuer und hinten hinaus auf triste Eisenbahngleise. Der Horizont ist offen und motiviert den Blick weiter, sobald ich den Horizont vergegenständliche, eröffnet sich ein neuer." So vermag ich einen Gegenstand zu sehen, insofern die Gegenstände ein System, eine Welt bilden und ein jeder, gleichsam als Zuschauer seiner verborgenen Anblicke und als Bürgen ihres beständigen Daseins, andere um sich versammeln" (ebd.S.92f)
Was zur räumlichen Perspektive gesagt wurde, ließe sich auch auf die zeitliche übertragen. Ich betrachte das Haus, es ist dasselbe das es gestern war, nur einen Tag älter. Auch wenn es morgen zusammenstürzte, bliebe es wahr für immer, daß es heute gewesen ist.
"Jede Gegenwart gründet ein für allemal einen Zeitpunkt, der die Anerkenntnis aller anderen fordert" (ebd.S.93). So wie das Jetzt durch das nachfolgende Jetzt nicht vernichtet wird, so ist es auch nicht als dimensionsloser Punkt zu begreifen. Jede Gegenwart hält das soeben Vergangene noch an sich (Retention), und da dieses selbst ihr Vergangenes festhält, eröffnet sich ein unendlicher Vergangenheitshorizont, wie umgekehrt jede Gegenwart eine unmittelbare Zukunft vorzeichnet (Protention), die ihrerseits ihren offenen Horizont des noch Bevorstehenden hat. Unterschieden sind jedoch die Modi der Gegebenheitsweise: das Vergangene ist mir als Wiedererinnrung bewußt, das Zukünftige als Antizipation. Damit sind sie aber nicht gleichermaßen evident. Gemessen an der aktuellen Wahrnehmung des leibhaft Gegenwärtigen, können sie sich als Täuschung oder Verkennung herausstellen. Die Synthese der aufeinanderfolgenden Akte verbürgt keine Apodiktizität.
Die Horizonte, ob zeitlich oder räumlich, sind vorgezeichnete Potentialitäten. "Die Vorzeichnung selbst ist zwar unvolkommen, aber in ihrer Unbestimmtheit doch von einer Struktur der Bestimmtheit" (Husserl, CM, S.47). Das wahrgenommene Haus mag viele Perspektiven offenlassen, aber es ist schon im voraus als "Haus", in seiner Wesensstruktur mit Wänden, Dach usw. intendiert, wobei jede dieser Bestimmungen stets noch Besonderheiten offen läßt.
Wir haben uns bislang auf die Akte der Wahrnehmung, der Gegenwärtigung beschränkt. Dies geschah nicht zufällig, denn die Wahrnehmung gilt Husserl als der Urmodus aller Erkenntnis. Die schlichte Wahrnehmung fundiert alle höherstufigen Akte, wie Denken, Wollen usw. Doch sind die Akte nicht die letzten Einheiten im Bewußtseinstrom: der aktiven Genese von intentionalen Gegenständen liegt eine passive Genesis zugrunde, durch die sich Akte als Einheiten in zeitlicher Dauer überhaupt erst konstituieren. In der Analyse des inneren Zeitbewußtseins zeigt Husserl die ursprünglichste und tiefstliegende Leistung des Bewußtseins auf: die Zeitbildung. "Jede Messung von Zeit setzt das ursprüngliche Bewußtsein von zeitlichem Nacheinander, von zeitlicher Dauer, Erstreckung schon voraus" (Landgrebe, 1939, S.24) wenn die "absolute Subjektivität" in seinem Abfließen überhaupt erst Zeit bildet und damit die Möglichkeit jeglichen Erfassens eines vorgegebenen Nacheinander; andererseits jedes Seiende in irgendeinem Bezug zur Zeit steht, "dann ist es nur konsequent, daß auch jegliches Seiende nicht anders als in seinem Ursprung aus Leistungen des Bewußtseins verstanden werden kann" (ebd.S.26)

Halten wir hier inne: diese tour d'horizont sollte nur einige wichtige Stichworte der Phänomenologie, dieser "unabschließbaren Arbeits-Philosophie", vorstellen. In ihrer bisher etwa 8o-ig jährigen Geschichte hat sie viel Kritik und Veränderungen aus den eigenen Reihen erfahren. Gerade ihr Selbstverständnis als transzendentale Phänomenologie, die "Einklammerung" (Epoche) der ganzen Welt und des empirischen Ichs, der Rückgang auf ein prämundanes Ur-Ego ist von vielen Nachfolgern nicht mitvollzogen worden. Wie weit man auch mitgehen vermag: als Theorie der Erfahrung, die aus der Erfahrung schöpft, in steten Schritten der "Rückfrage" Selbstverständlichkeiten unseres Zur-Welt-seins aufdeckt, hat sie den Boden unseres "welterfahrenen Lebens" nicht verlassen. Die Welt, wie sie sich uns in der Vielfalt der Erlebnisweisen zuwendet, ist die Welt nach deren Sinngenese die Phänomenologie fragt, und auf der alle wissenschaftlichen Konstruktionen aufruhen.

III. "Die Krisis der europäischen Wissenschaften"

"Ich versuche zu führen, nicht zu belehren, nur aufzuweisen, zu beschreiben, was ich sehe."
Edmund HUSSERL

Wenn alles verantwortliche philosophische und wissenschaftliche Forschen seinen Ausgang nehmen muß von der unvoreingenommenen Erfahrung, so gewinnt die "natürliche Welteinstellung", die Doxa, eine bedeutsame Umbewertung: "Als wirklich seiend gilt im Leben, also in dieser Welt, was sich durch Erfahrung bezeugt" (K 463). Das intentionale Korrelat der natürlichen Erfahrung ist die "Lebenswelt". Sie ist der Horizont für alle bestimmten Zwecksetzungen der Menschen, ständig in einer Bewegung der Geltungsrelativität und Bezogenheit auf die miteinander Lebenden. So scheint sie, nur relative Wahrheiten zu beinhalten, dem Subjektivismus zu verfallen; demgegenüber die Wissenschaften die "wirkliche Welt" beschreiben und so absolut, objektive Wahrheiten verbürgen. Doch wie kommt diese Wissenschaft zu ihren "an sich seienden Wahrheiten", wenn der primäre Ort der Wahrheit sich dem Subjekt in originärer Anschauung enthüllt ?

Dies ist eins der Probleme, denen Husserl in seinen Prager Vorträgen von 1935 nachging. 13 Der in Anspruch genommene Rückgang auf die Lebenswelt verdankt sich bereits einer aktiven Leistung: "Wollen wir also auf eine Erfahrung in dem von uns gesuchten letztursprünglichen Sinne zurückgehen, so kann es nur die ursprüngliche lebensweltliche Erfahrung sein (...) Und dieser Rückgang ist kein solcher, der einfach die Welt unserer Erfahrung hinnimmt, sondern er verfolgt die in ihr bereits niedergeschlagene Geschichtlichkeit auf ihren Ursprung zurück". (Husserl, EU, S.43f)
Der Anlaß zu dieser Fragestellung lag für Husserl in der "Krisis der europäischen Wissenschaften". Diese hätten ihre einheitliche Zielbestimmung, ihr inneres Band und somit ihre Lebensbedeutsamkeit verloren. Es mangelte ihr an einem begründeten Selbstverständnis. Durch das Vergessen ihrer eigenen Voraussetzungen, der Lebenswelt als Boden und Horizont ihrer Gebilde, haben sie ihre "Ursprungsechtheit", ihren Sinn eingebüßt, verfielen dem Objektivismus. Nicht von ungefähr nimmt Husserl Galilei zum Ausgangspunkt seiner Analysen. Zwar haben die Griechen, in einer "Urstiftung", die Idee der Wissenschaft von der Allheit des Seienden, die Idee der zweckfreien, theoretischen Einstellung (theoria) und der Wahrheit intendiert, aber in der Neuzeit entwickelte sich etwas "unerhört Neues":

"Die Konzeption (der) Idee eines rationalen unendlichen Seinsalls mit einer systematisch es beherrschenden Wissenschaft" (K 19). Maßstäblich hierfür war die Mathematik, die zu einer Umbildung der Naturwissenschaften führte, zur "Mathematisierung der Natur". Was ist deren Sinn? In der alltäglichen Anschauung ist uns die Welt subjektiv-relativ gegeben. Uns gelten die Erscheinungen als das wirklich Seiende. Die Diskrepanz der Seinsgeltungen erfahren mir im lebendigen Umgang mit Anderen. Doch glauben wir notwendig an die eine Welt mit denselben, uns nur verschieden erscheinenden Dingen. Haben wir nicht so, zumindest eine leere Idee von an sich seienden, objektiven Dingen?

Sehen wir genauer: In der anschaulichen Umwelt erfahren wir, einmal abgesehen von ihren kulturellen Bedeutungen, die Dinge als raumzeitliche Körper. Wir können sie in der Phantasie variieren, doch "die Phantasie kann sinnliche Gestalten nur wieder in sinnliche Gestalten verwandeln. Und dergleichen Gestalten (...) sind nur denkbar in Gradualitäten: des mehr oder minder Geraden, Ebenen, Kreisförmigen."(K 22) Die Dinge stehen überhaupt, was ihre Identität und ihre Eigenschaften angeht, im Schwanken des bloß Typischen. "Praktisch gibt es (...) hier ein Vollkommenes schlechthin in dem Sinne, daß das spezifisch praktische Interesse dabei eben voll befriedigt ist" (ebd.).
Was wir so erhalten sind nicht die Möglichkeiten des idealen Raumes: "reine" Geraden, "reine" Ebenen, "reine" Figuren. Diese sind nur denkbar in einem offenen Horizont immer weiter zu treibender Vervollkommnung. Das freie Eindringen in diese Horizonte zeichnet Limes-Gestalten vor, "auf die hin, als invariante und nie zu erreichende Pole, die jeweilige Vervollkommnungsreihe hinausläuft" (K 23). Anstelle der realen Praxis haben wir jetzt eine ideale Praxis des "reinen" Denkens, das sich ausschließlich im "Reiche reiner Limesgestalten" hält. Im mathematischen Zugang erreichen wir, was uns in der empirischen Praxis versagt ist: Exaktheit - Dinge, in absoluter Identität zu bestimmen. Identität, nicht nur im numerischen Sinne: etwas als dasselbe identifizieren; sondern im qualitativen Sinne: die Selbigkeit der Bestimmtheiten, der Eigenschaften. "Exakte Objektivität ist Leistung der Methode, geübt von den Menschen überhaupt in der Welt der Erfahrung (der 'Sinnenwelt'), geübt nicht als handelnde Praxis, als Technik der Neu- und Umgestaltung von vorgegebenen Dingen der Erfahrung, sondern als eine Praxis, in der jene unvollkommen bestimmten Dingvorstellungen das Material bilden, und zwar in einer allgemeinen Denkeinstellung, in welcher von einem exemplarischen Einzelding als Exempel für 'irgendein Ding überhaupt' die offen endlose Mannigfaltigkeit seiner immer unvollkommenen aber zu vervollkommnenden subjektiven Vorstellungen als durchlaufen gedacht wird, und zwar in der Betätigung der Vermöglichkeit, von jeder (Vorstellung) aus stetig die Linien möglicher Vervollkommnung einzuschlagen." (K 359)
Das Vermögen, diese unendliche Vervollkommnungsreihe fortzuführen ist beschränkt: in der "äußeren Wahrnehmung", sofern sie nicht durch bestimmte Zwecksetzungen ein implizites Abbruchkriterium enthält, ist uns ein Ding mit offenen Innen- und Außenhorizonten gegeben, somit eine Unendlichkeit von Perspektiven. Zudem ist das "Forschen des Blicks" ein zeitlich strukturiertes Aktgefüge, durch die Endlichkeit des Subjekts beschränkt. Hier setzt die Idealisierung ein: die Konzeption des "immer wieder", nur gedacht in Richtung auf den leeren Vorentwurf der Reihe, gedacht aber als Erfüllung dieser Intention. Diese Verendlichung eines unendlichen Prozesses transzendiert die anschauliche Erfahrung, gleicht einem Sprung in die "Idee".

Blicken wir noch einmal zurück: Die Methodik der operativen Bestimmung von "idealen Gestalten" weist zurück auf die "schon in der vorwissenschaftlichen Welt geübten Praxis des messenden Bestimmens. Aus ihr wurden elementare Grundgestalten "idealisiert" (Gerade, Kreise usw..), aus denen wieder komplexere Bestimmungen abgeleitet werden konnten. Nehmen wir das Beispiel einer Mauer: es ist eine gerade Mauer, aber könnte nie so genau sein wie die Idee einer "Strecke" im mathematischen Sinne. Nehmen wir sie dennoch als "Strecke", so gewinnt sie durch ihre Ungenauigkeiten - gemessen am Ideal -des Charakter des Defizitären. Vermessen wir diese Mauer, und dies ist der Prozeß, in dem Idee und Anschauung in Verbindung treten, so benötigen wir "Maßeinheiten". Die "Mauer abschreiten" konstituiert vage, subjektabhängige Messungen. Mit einem Stock, dessen Länge wir als Meter definieren, gewinnen wir schon eine gewisse Unabhängigkeit. Im Idealisierungsprozeß wird uns dieser Stab zum Exempel des "Meters an sich". Auch das "Urmeter" ist gemessen an der Idee des "Meters" nur ein unexaktes Exemplar, wir machen uns eine Zeichnung der Mauer bzw.. des Gebäudes, eine Bauzeichnung mit den "Strecken" und den "Maßzahlen" und erhalten ein sinnliches Modell eines ideellen Konstruktes. Hieran können wir weitere Bestimmungen vornehmen: z.B., daß die gegenüberliegende Mauer gleich lang ist, A=A; oder, daß das Haus halb so hoch ist wie die Mauer lang, 1/2A=H usw.. In diesem Prozeß liegt eine doppelte Abstraktion: zum einen wird das messende Subjekt gleich-gültig und andererseits wird die Meßhandlung zu einer mentalen Operation. (vgl. Sokolowski, 1979) Durch die Konstruktion elementarer Grundgestalten und Maßeinheiten eröffnet sich die Möglichkeit, "alle überhaupt erdenklichen idealen Gestalten in einer apriorischen, allumfassenden systematischen Methode konstruktiv eindeutig zu erzeugen" (K 24). Die Geometrie idealisiert aber lediglich die "Formen" (raum-zeitliche Anordnung), in der uns konkrete Dinge begegnen. Diese zeichnen sich ebenso durch ihre "sinnliche Fülle" aus, das was sich in den spezifischen Sinnesqualitäten, Farbe, Ton, Geruch u.a. darstellt. Zudem haben Dinge der anschaulichen Welt ihre "Gewohnheiten", sich unter ähnlichen Umständen ähnlich zu verhalten. Dieser "universale Kausalstil" macht Induktionen, Voraussagen möglich, bleibt aber im vorwissenschaftlichen Leben ebenfalls im Ungefähren, Typischen. Was wir hier als Farben, Töne, Wärme, als Schwere an den Dingen selbst erfahren/erleben, kausal als Wärmestrahlung eines Körpers, der die umgebenden Körper warm macht, das zeigt sich "physikalisch" als Tonschwingungen, Wärmeschwingungen, also "reine" Vorkommnisse der Gestaltwelt. Die spezifischen Sinnesqualitäten, die "sinnlichen Füllen", verweisen als Indizes auf bestimmt zugehörige Gestaltkonstellationen und Geschehnisse. Dh. die spezifisch qualitativen Vorkommnisse werden "indirekt mitmathematisiert". So wurde auch die je typische "Gewohnheit" der Dinge idealisiert. Doch nicht durch je individuelle Analyse des anschaulich Gegebenen, sondern durch den Vorentwurf einer alles regelnden, universalen Kausalität, die durch die eindeutige Bestimmung der Dinge ebenfalls als exakt definiert werden kann.

Durch Bestimmung idealer Gestalten und Eigenschaften, geregelt nach dem Gesetzt exakter Kausalität und entsprechender Maßeinheiten, konnte die Geometrie "praktisch" werden. Die Messung hat den "Sinn einer Approximation auf einen zwar unerreichbaren, aber ideal-identischen Pol, nämlich auf eine bestimmte der mathematischen Idealitäten bzw.. des ihnen zugehörigen Zahlengebilde" (K 40). Die Mathematisierung der Welt ergibt Zahlenformeln, die allgemeine kausale Zusammenhänge, Gesetze realer Abhängigkeiten in Form von "funktionalen" Abhängigkeiten zahlenmäßig ausdrücken.

Die Struktur des "immer wieder", der unabschließbaren Approximation und Entsubjektivierung überträgt sich auf die Theoriebildung selbst: Die "Gesetze" der Physik bleiben Hypothesen in einem unendlichen Fortgang van Bewährungen und Modifikationen, gedacht als historischer, unvollendbarer Annäherungsprozeß an die "an sich seiende Natur". Aber auch intern geht der Idealisierungsprozeß weiter: Die "reinen Gestalten" der Geometrie werden in Zahlen-Formeln "transformiert". Wir hatten oben ein extrem einfaches Beispiel der Proportionsbildung (l/2 A=H). Die "Arithmetisierung der Geometrie führt wie von selbst in gewisser Weise zur Entleerung ihres Sinnes.(...) Man rechnet, sich erst am Schluß erinnernd, daß die Zahlen Größen bedeuten sollten" (K 44). In der formalen Logik und Logistik wird die Sinngestalt des "Etwas überhaupt" konstruiert, die höchste Ab-straktionsstufe eines Formalisierungsprozesses.

In der "Technisierung" (techne: bei Husserl als "Kunstlehre") der Methode wird sie zur "bloßen Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technologischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen, deren wirklicher Wahrheitssinn" verlorengeht.(K 46) Das wichtigste Charakteristikum an diesem Idealisierungs- und Formalisierungsprozeß ist die Unterschiebung dieser so gewonnenen "an sich seienden Welt" unter die wirklich erfahrene anschauliche Lebenswelt. Husserl spricht auch von der Substruktion des Logischen unter die Anschauung. Der Lebenswelt wird gleichsam ein "Ideenkleid", das der sogenannten objektiv-wissenschaftlichen Wahrheiten, überworfen. Damit werden natürlich die Ergebnisse dieser Wissenschaften nicht "falsch". Es geht Husserl gerade darum, daß sie trotz ihrer Wirkmächtigkeit ihren Lebenssinn verloren haben. Wir werden noch darauf zurückkommen, deshalb nur die Anmerkung, daß Husserl für seine Untersuchungen die Konstrukte und Seinssetzungen der Naturwissenschaften "einklammert", Epoché im o.g. Sinne übt. Nur so kann er ihre "Sinngenesis" aufzeigen.

Die Naturwissenschaften in der Nachfolge Galileis verloren ihr Selbstverständnis als spezifisches Zweckgebilde der Menschen, hervorgewachsen aus dem vorwissenschaftlichen Leben und seiner Umwelt, dem sie von Anfang an dienen sollten. Diese Zwecksetzung liegt doch im Horizont dieser Lebenswelt, sie ermöglicht es erst Zwecke zu setzen. "Der in dieser Welt lebende Mensch, darunter der naturforschende, konnte alle seine praktischen und theoretischen Fragen nur an sie stellen, theoretisch nur sie in ihren offen unendlichen Unbekanntheitshorizont betreffen" (K 50). "Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist." (K 52) Die Folgen dieses Vergessens der Lebenswelt zeigen sich besonders im naiven "Objektivismus" der nachfolgenden Entwicklung. In der Reduktion der Welt auf pure Körperlichkeit wurde von den Subjekten als Personen, "von allem in jedem Sinne Geistigen, von allen in der menschlichen Praxis den Dingen zuwachsenden Kultureigenschaften" (K 60) abstrahiert. Das Komplement zur Natur als in sich abgeschlossener Körperwelt war eine "weltlose Seele". Natur und seelische Welt sind im cartesiamischen Dualismus von "res extensa" und "res cogitans" durch einen Hiatus getrennt. Die intentionale Struktur des Bewußtseins bricht auseinander und das Thema der Erkennbarkeit der "äußeren Realität" wird zu einem philosophischen "Dauerbrenner". Alsbald geriet jedoch auch die "Seele" ins Netz der physikalistischen Naturkonzeption. Die "Naturalisierung der Seele" findet sich von Hobbes, über Locke, ausgehend bis zum "szientifischen Selbstmißverständnis der Psychoanalyse" (Habermas). Auch die "kognitive Wende" in der akademischen Psychologie wechselt nur vom mechanischen ins systemtheoretische Interpretationsparadigma. Das Psychische, das Personale bleibt eingereiht unter die Ordnung der Dinge. Mit zunehmender Erkenntnis der "Natur" gewinnt der Mensch auch zunehmend Herrschaft über seine praktische Umwelt, über andere Menschen und sich selbst. "Der Mensch ist so wirklich Ebenbild Gottes." (K 67)

Doch bereits im Skeptizismus Humes und mehr noch in der "kopernikanischen Wende" Kants sieht Husserl Anstöße das "objektivistische Vorurteil" der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft aufzubrechen und den Blick zurückzuwenden auf die fundierenden Leistungen der Subjektivität.14

IV. Zum Problem der historischen Rückfrage

Erinnern wir noch einmal: Wahrheit heißt bei Husserl, etwas in evidenter Weise zur Selbstgegebenheit kommen lassen. Die Anschauung ist das Letztfundierende der Erkenntnis. Die Sinnentleerung der modernen Wissenschaften liegt darin, daß sie nicht mehr auf den "Ursprungssinn" all ihrer Konstrukte zurückfragt. Das Vergessen ihrer lebensweltlichen Voraussetzung, der Objektivismus der Wissenschaften führte zu einer Sinnsedimentierung, zu Verwerfungen und Verschiebungen. Dieses Miteinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung ergibt die Notwendigkeit der historischen Betrachtung. "Das Problem der echten historischen Erklärung fällt bei den Wissenschaften mit der 'erkenntnistheoretischen' Begründung oder Aufklärung zusammen." (K 381) Der Bezug auf die Geschichte ist das eigentlich Neue im Husserlschen Spätwerk. In ihr sieht er eine einheitliche Entwicklung angezeigt:
"Uns gilt es, die Teleologie in dem geschichtlichen Werden der Philosophie, insonderheit der neuzeitlichen, verständlich zu machen" und "die Einheit, die in allen historischen Zielstellungen, im Gegeneinander und Miteinander ihrer Verwandlungen waltet, herauszuverstehen und in einer beständigen Kritik,(...) schließlich die historische Aufgabe zu erschauen, die wir als die einzige uns persönlich eigene anerkennen können" (K 71f). Diese Aufgabe ergibt sich nicht aus der Kritik gegenwärtiger Philosophie, sondern nur aus dem Verständnis der Gesamteinheit unserer Geschichte. Ihre Einheit hat sie aus der Triebkraft der Aufgabe: "ein Ringen der in geistiger Gemeinschaft lebenden und fortlebenden Philosophengenerationen, (...) im ständigen Ringen der 'erwachten' Vernunft zu sich selbst, zu ihrem Selbstverständnis zu kommen"(K 273).
Der Logos, der hier waltet, durch Stufen der Unklarheit sich zur vollkommenen Einsichtigkeit durcharbeitet, ist kein überpersonales Wesen, kein "objektiver Geist", sondern verdankt sich personaler "Zwecksetzung", einer "Urstiftung", deren teleologischer Anfang in der griechischen Philosophie liegt und in der Neuzeit, durch Galilei und Descartes, nachhaltig erneuert wurde.

Doch diese sich entbergende Vernunft war stets auch eine sich verbergende. Intention und Erfüllung kamen nie zur Deckung. Schaut man genau hin, so liegt hier eine merkwürdige Doppelung der Struktur Intention-Erfüllung vor. Die Intention selbst wird nochmals aufgespannt in der Frage, inwiefern sich die Intention als Intention erfüllt.15 "Solche Art der Rückfrage auf die Weisen, wie fortlebende Ziele immer wieder neuversuchte Erzielungen mit sich führen und immer wieder durch Unbefriedigung die Nötigung, sie zu klären, zu bessern (...), umzugestalten - das ist (...) echte Selbstbesinnung des Philosophen", zugleich Weiterführung der Selbstbesinnung der "Altvorderen"(K 73). Daß alle Selbstverständlichkeiten, philosophischer oder wissenschaftlicher Art, Vorurteile sind, erwachsen aus Unklarheiten traditioneller Sedimentierungen, gilt es für den "Selbstdenker", den "autonomen Philosophen" zu erkennen. Worauf die Vernunft als das Spezifische des Menschen hinauswill ist die Idee der Autonomie, die Selbstregierung. Dem dient die Selbstbesinnung. Das Erkennen dieses letzten Selbstverständnisses hat "keine andere Gestalt (...) als Selbstverständnis nach apriorischen Prinzipien,(...) in Form der Philosophie"(K 276). "Die universal apodiktisch begründete und begründende Wissenschaft entspringt nun als notwendig höchste Menschheitsfunktion, die der Ermöglichung ihrer Entwicklung zu einer personalen und zu einer allumspannenden menschheitlichen Autonomie" (K 273). In diesem Sinne war die bisherige Philosophie ein Weg zur "Transzendentalen Phänomenologie" - ein Gedanke, der zumindest formal dem Hegelschen recht ähnlich ist. So ist auch zu verstehen, daß Husserl seine historischen Analysen nicht als Ideengeschichte oder als historistische Tatsachensammlung versteht. Auch die Selbstinterpretationen der Philosophen und Naturforscher sind nicht frei von Verzerrungen, stehen im Bann tradierter Sinnverschiebungen. Das bloß Spätere ist auch nicht schon das Wahrere. So befinden wir uns in einer Art "Zirkel" ,"relative Klärung auf der einen Seite bringt einige Erhellung auf der anderen" (K 59). Die historische Besinnung ist nicht nur Vergegenwärtigung , sondern "Geschichtskritik". "Wesensmäßig aber gehört zu jeder Urstiftung eine dem historischen Prozeß aufgegebene Endstiftung. Diese ist vollzogen, wenn die Aufgabe zur vollendeten Klarheit gekommen ist, und damit zu einer apodiktischen Methode, die in jedem Schritte der Erzielung der ständige Durchgang ist für neue Schritte, die den Charakter von absolut gelingenden haben"(K 73). Nur eine Wissenschaft, die dies für sich in Anspruch nehmen kann enthüllt das wahre Sein, womit ihr auch ihre Lebensbedeutsamkeit zurückgegeben ist. Wissenschaft begreifen heißt nicht, sie als fertiges Erbe in Form dokumentierter Sätze nehmen, es bedarf einer Aktivität der Wiedererinnerung, "in der das vergangene Erleben guasi neu und aktiv durchlebt wird." (K 370) Wenn Husserl so der "Sinngenesis" wissenschaftlicher und philosophischer Theoriebildung nachgeht, sich zurückarbeitet durch die Sinnschichten, dann kann er die Seinssetzungen der Wissenschaft nicht als geltend hinnehmen. Er befragt sie ja gerade und muß demnach Epoché üben oder, wie Habermas es neudeutsch ausdrücken würde, er virtualisiert ihre Geltungsansprüche. Was Husserl demgemäß treibt ist "Intentionalitätshistorie" (vgl. Ströker, 1979,S.112ff). Auch hier waltet das "universale Korrelationsapriori". Was Husserl als historische Sinngebilde und -strukturierungen enthüllt, hat sein Gegenüber in der transzendentalen Geschichte der Subjektivität, insofern sie ihre Genesis gar nicht anders hat, denn als Werden kraft ihrer sinnstiftenden Leistungen ( vgl.ebd. S. 113).

V. Die Lebenswelt

Alle Fragen, die die Wissenschaft stellt und beantwortet, sind Fragen auf dem Boden der vorgegebenen Welt - der Lebenswelt. Jegliche Zwecksetzung hat hierin ihren Horizont, womit die Lebenswelt selbst kein Zweckgebilde ist.

Wissenschaft, wie vorwissenschaftliches Leben thematisieren - in je besonderer Weise -Aspekte dieses offenen Horizontes. "Nur, daß eben ein in Griechenland entspringendes neues Menschentum (das philosophische, das wissenschaftliche Menschentum) sich veranlaßt sah, die Zweckidee 'Erkenntnis' und 'Wahrheit' des natürlichen Daseins umzubilden und der neugebildeten Idee 'objektiver Wahrheit' die höhere Dignität, die einer Norm für alle Erkenntnisse zuzumessen" (K 124). Dem vorwissenschaftlichen Leben genügt die Bekanntheit der Welt in Form von Typiken, ein "Bereich guter Bewährung" (K 128). Hier sind uns die Dinge nur subjektiv-relativ, dh. perspektivisch vorgegeben. Doch auch die Leistungen der Wissenschaft gehören der Lebenswelt an, sind Leistungen der in wissenschaftlicher Tätigkeit vergemeinschafteten Subjekte. Befreien wir uns vom "Objektivismus", so erkennen wir die "objektiven Wissenschaften als subjektive Gebilde "(K 132).

Wird damit Wissenschaft nicht eine "Lebenswelt" neben anderen? Jedes Individuum hätte dann seine eigene "Sonderwelt", seine Welt des Berufes, der Freundschaften oder der Politik, wenn er aktiv daran teilnimmt. Hier stoßen wir auf ein Problem, das im Teil III unausgesprochen mitschwang: Was unterscheidet " lebensweltliche Typiken" von wissenschaftlichen Idealisierungen"? Husserl gibt so gut wie keine Beschreibungen lebensweltlicher Typiken, sondern kennzeichnet sie meist formal als defizitäre Modi "exakter" Gebilde. Er spricht vom Schwanken der Identität, von unvollkommenen Geraden usw.. Doch was heißt es, eine Vorstellungsreihe bis zur Limes-Gestalt zu vervollkommnen ? Woher nimmt der Geometer sein "Ideal", auf das hin er sich die anschauliche Gestalt als exakt vollendet "denkt"? Andererseits erwachsen die idealen Gestalten aus der alltäglichen Praxis des messenden Bestimmens. Da Husserl nie auf die Idee gekommen ist von konkurrierenden Strukturbildungen auszugehen, Differenzen immer als Sinnverschiebungen vorurteilskritisch aufzulösen suchte, müssen für ihn die apriorischen Strukturen der Wissenschaft schon in einem "Apriori der Lebens welt verankert sein. Die Lebenswelt in ihrer Vielfalt von subjektiv-relativen Gegebenheiten, die Unzahl von "Sonderwelten" löst sich nicht in einem zufälligen Nebeneinander oder gar in Diffusität auf, sondern hat "in allen Relativitäten ihre allgemeine Struktur, an die alles relativ Seiende gebunden ist.(...) Die Welt als Lebenswelt hat schon vorwissenschaftlich die 'gleichen' Strukturen (...), welche die objektiven Wissenschaften (...) als apriorische Strukturen voraussetzen und systematisch (...) entfalten"(K 142). In der Lebenswelt gibt es bereits raum-zeitliche Körper, Kausalität, nur nicht als "exakte". Der einzige Vorwurf, den Husserl somit den Wissenschaften machen kann, ist daß sie ihre Ergebnisse nicht als "idealisierende Leistung" verstehen, sondern das "Produkt" als fertig gegeben hinnehmen. Es ist damit nichts anderes gesagt als, daß die Wissenschaften ihren Ausgang von der verachteten doxischen Anschauung nehmen muß; ihre Resultate, zumindest die der Naturwissenschaften, der Logik und Mathematik, bleiben unangetastet. Mit Bezug auf die Logik schreibt er z.B.. "Darin soll keinerlei Abwertung der exakten Erkenntnis liegen (...) Es bedeutet nur eine Erhellung des Weges, auf dem zu höheren Evidenzen zu gelangen ist, und der verborgenen Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, und die ihren Sinn bestimmen und begrenzen. Sie selbst werden ihrem Inhalte nach dadurch nicht in Frage gestellt."(EU, S.44f) Husserl ist kein "Technik-Kritiker", ihn beschäftigte nicht die Frage, ob das Eindringen des wissenschaftlichen Denkens zu einer Zerstörung der lebensweltlichen Erfahrung führen könnte. Lediglich seine Kritik der Psychologie, den Menschen rein als "Körperding" zu nehmen, ermöglicht ein radikaleres Weiterfragen(vgl. Merleau-Ponty, PdW). Husserl interessieren auch nicht spezifische Lebenswelten, er beschreibt sie nicht detailliert in ihrem Dahinströmen, im status nascendi. Sein Ziel war viel weiter gesteckt. Die "Wissenschaft von der Lebenswelt" will die invarianten Strukturen aller nur denkmöglichen "Lebenswelten" aufzeigen. "Alle möglichen Welten sind Varianten der uns geltenden, sofern wir ihre apriorische Wesensform erfaßt haben" (K 500). Die Struktur der Geschichte selbst geht auf in der Entfaltung der Idee einer Welt. Die Weltgeschichte mit Vergangenheit und Zukunft kann nur verstanden werden "als die Geschichte der uns, von mir aus, geltenden Welt"(K 501). Das Apriori der Lebenszeit ist eine im Unendlichen liegende Idee, da jede endliche, uns geltende Umwelt "mit einer Unbestimmtheit behaftet (ist), die in der Horizonthaftigkeit liegt"(K 500). Um dieses "konkrete Apriori" in den Blick zu heben, müssen wir die Seinsgeltung der uns gegebenen Welt außer Kraft setzen, transzendentale Epoché üben, um in "völliger Freiheit unser menschlich historisches Dasein und, was sich dabei als seine Lebenswelt auslegt, umdenken, umphantasieren (...) In diesem Variieren und Durchlaufen der lebensweltlichen Erdenklichkeiten tritt in apodiktischer Evidenz hervor ein wesensallgemeiner Bestand, der durch alle Varianten hindurchgeht"(K 383). Haben wir diese Welt-Struktur bestimmt, in der "Krisis-Schrift" bleibt sie nur Programm, dann können wir auch zeigen, in welchem Horizont wissenschaftliche Sonderaufgaben zu leisten sind. In Bestimmung der Regionalontologien können mir auch genau trennen zwischen der Konzeption einer Natur von raum-zeitlichen Körpern und den personalen Objektivationsmöglichkeiten in Kultur und Geschichte.

Der Begriff der Lebenswelt bleibt aber immer noch unscharf. Zum einen ist er definiert als Horizont, der alle Sonderwelten einschließt. Dinge, Menschen, jegliches Seiende ist somit Objekt 'im' Welthorizont. Diese Thematisierung liegt dem natürlichen Leben auch näher, zeigt Offenheit und Begrenzung zugleich an. Als philosophischer Begriff ist er der transzendentale Gesichtspunkt, der die Korrelation von Lebenswelt und lebensweltlicher Erfahrung aufzeigt. Welt ist darin kein Gegenstand, wie ein Ding, obgleich sich jede Erfahrung auf Gegenstände in der Welt bezieht. Weltbewußtsein zeigt sich in der Möglichkeit des "immer weiter" innerhalb eines offenen Horizontes.

Auf dieser Folie läßt sich aber keine "Ontologie" entwickeln. Diese versteht die Welt als "All des Seienden". "Somit läge hier die Aufgabe einer lebensweltlichen Ontotogie, verstanden als einer konkret allgemeinen Wesenslehre dieser Onta"(K 145). Auf diesem Hintergrund kann Husserl vom Bestand der Welt sprechen. Er unterscheidet dabei eine unterste Schicht, die "pure Natur", die der "schlichten Anschauung" gegeben ist. "Die Welt, wie sie in passiver Doxa als Ganzes immer schon vorgegeben ist, (...) ist zuunterst gegeben in schlichter Erfahrung, als Welt schlicht sinnlich erfaßbarer Substrate."(EU, S.54) Das Seiende dieser universalen Erfahrung ist die All-Natur, die Naturkörper. Da diese Natur passiv gegeben ist, liegt sie allen kulturellen Überlagerungen verschiedendster Lebenswelten zugrunde. Zu ihr hat jeder Mensch gleichermaßen einen evidenten Zugang, womit strengste intersubjektive Gültigkeit angezeigt ist. "Ihr steht gegenüber die Wahrnehmung des durch Verstehen von Ausdruck allein Wahrnehmbare, nie das Verstehen eines Werkzeuges in seiner verweisenden 'Erinnerung' an Menschen (...); und dann wieder, unmittelbar der Ausdruck eines körperlichen Leibes als der eines menschlichen. Beides setzt voraus eine sinnliche Wahrnehmung des den Ausdruck fundierenden körperlichen"(EU, S.55). Demnach muß die "Lebenswelt" differenziert werden: Sie taucht auf
a) als "konkrete Lebenswelt", die universal alle Zweckgebilde umfaßt, als "Totalhorizont"; b) als "relative Sonderwelt", bestimmte Kulturwelt und
c) als "abstrakt herauszupräparierender Weltkern" (K 136). Als dieser ist sie die raumzeitliche Welt der Dinge, der Natur, vor aller kulturellen Interpretation, damit "jedermann gleich zugäglich"(K 142). Nur in der letzten Form © kann sie als Fundament der "objektiven Wissenschaften" dienen. "In ihrer steten Vorgegebenheit bildet sie dabei die Grundstufe aller höheren Sinnbildungen; in ihrer universalen S t r u k t u r i e r t h e i t bleibt sie invariabel in bezug auf alle auftretenden Relativitäten." (Waldenfels, 1979a, S. 126)

Die drei Bestimmungen der Lebenswelt deuten ein ungelöstes Problem an: Wenn uns die Welt vorwissenschaftlich horizonthaft bewußt ist, als "konkrete, geschichtlich-kulturelle Universalität" gefaßt ist, so kann diese Universalität nicht den Sinn einer "Allheit des Seienden" haben. Von daher kann es auch keine Ontologie geben. Da Husserls Interesse über die Beschreibung der Lebenswelt i.S. einer Ontologie hinausgeht, er deren Konstitution durch die transzendentale Subjektivität aufzeigen will, bleibt in dieser programmatischen Absicht der Begriff der "Lebenswelt" ein "ontologisch-transzendentaler Zwitterbegriff" (Claesges, 1972, S.97). Husserls letzte Frage gilt der "Weltkonstitution". Dabei stößt er auf eine Paradoxie: Wir Menschen sind Subjekte innerhalb der Welt, leben, lieben und arbeiten dort in kommunikativen Zusammenhängen und gleichzeitig ist die Welt für mein Bewußtsein subjektiv gegeben. Wir sind: "Subjektivität 'in' der Welt als Objekte und zugleich 'für' die Welt Bewußtseinssubjekt"(K 184). Die Paradoxie läßt sich nach Husserl nur auflösen, indem ich mich selbst als empirisches, leibliches Wesen und "alle anderen Menschen mit ihrem ganzen Aktleben in das Weltphänomen (einbeziehe), das in meiner Epoché ausschließlich das meine ist. Die Epoché schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit, die das methodische Grunderfordernis ist für eine wirklich radikale Philosophie"(K 187f). Dieses so aufgefundene Ur-Ego hat einen transmundanen Status und besitzt eine unverletzliche Einzigkeit und Undeklinierbarkeit. In seiner Selbstauslegung enthüllt sich ihm die Konstitution seiner selbst als ichlich fungierender Leib und das für es Seiende: die Welt. Auch das Problem der Intersubjektivität wird als Konstitutionsprozeß verstanden. Der Andere wird nur in einem doppelten Vermittlungsschritt zugänglich: einmal in der Übertragung des eigenen Leibkörpers auf das Körperding des 'nachmals' Anderen, worin das Körperding zu einem "beseelten" Leib wird; zum zweiten durch "Einfühlung" meiner eigenen präsenten psychischen Bestände in den Anderen. Diese Vermittlungen zeigen mir den Anderen nie in seiner Selbstgegebenheit, es bleibt eine spezifische Fremdheit. Dies ist aber kein Plädoyer für den "vereinzelten Menschen", die Welt ist seiend für die "Menschengemeinschaft". Im Miteinander nehmen wir teil am Leben des Anderen.
Schauen wir auf unsere skizzenhaften Erörterungen zurück, so zeigte die Rückfrage auf die "Lebenswelt" bei Husserl eine dreifache Zielsetzung:
a) die Fundierung der objektiven Wissenschaften in der Lebenswelt und damit die Überwindung des Objektivismus - darin lag ihre Bodenfunktion;
b) den Einstieg in die transzendentale Phänomenologie, worin vom subjektiv-relativen Phänomenbestand auf die konstitutiven Leistungen der Subjektivität zurückgefragt wurde - darin lag ihre Leitfadenfunktion -
und c) die Gewinnung einer geschichtlichen Gesamtperspektive, sofern alle historisch-kulturellen Sonderwelten 'eine' Lebenswelt voraussetzen - darin lag ihre Einigungsfunktion. (vgl. Waldenfels, 1979a, S.125f)

VI. Perspektiven der Kritik

Die vorherigen Ausführungen mögen enttäuschend wirken für diejenigen, die eine Reflexion auf unsere, je eigenen und gemeinsamen "Lebenswelten" erwartet haben. Doch auch ein mögliches Interesse am phänomenologischen Denken sieht sich vielen Fragwürdigkeiten gegenüber. Allzusehr verteidigt Husserl in seinen programmatischen Ausführungen Thesen, die uns gerade für die "Krisis" der Wissenschaften und der Lebenswelt als verantwortlich gelten. Sein Gedanke der Autonomie, ein "Leben in der Apodiktizität", reiht sich ein in das grandiose Selbstüberschätzungspragramm der Neuzeit. Seine Konzeption der Erfassung des Apriori der Geschichte stellt den Horizont geschichtlicher Erfahrung zu; zudem scheint der einheitliche Sinn in der Geschichte fragwürdig. Die Rückbindung des Telos der Geschichte an den Telos einer transzendentalen Subjektivität überspringt, in einem Versuch der absoluten Selbstversicherung, die Uneinholbarkeit geschichtlichen Geschehens und die Endlichkeit des Individuums. Seine Kritik der objektiven Wissenschaften bleibt als Nachvollzug der Sinngenesis ihrer Konstrukte unzulänglich, enthält nur dort kritische Implikate, wo er die Reduzierung der "Person" auf ein mechanisch funktionierendes Körperding kritisiert. Doch auch hier will er "Reinheit" und unterlegt dem leibhaften, inkarnierten Subjekt ein "reines Ego". Demgegenüber besteht Merleau-Ponty auf der fundamentalen "Zweideutigkeit" (l'ambiguite): "Konkret genommen, ist der Mensch nicht Psychismus, verbunden mit einem Organismus, sondern das Kommen und Gehen der Existenz, die bald sich körperlich sein läßt, dann wieder in persönlichem Handeln sich zuträgt"(PdW, S.113). Unter all diesen Fragwürdigkeiten leidet auch sein Begriff der "Lebenswelt". Ihre grundlegende Schicht, die "pure Natur", gleicht trotz aller gegenteiligen Beteuerungen zu sehr der cartesianischen res extensa, was ihm den Zugang zu einer wirklichen Wissenschaftskritik verunmöglicht und mit einer Verzerrung der "lebensweltlichen Wahrnehmung" erkauft wird. Lebenswelt und Natur ontologisch zu fixieren, sie zudem noch transzendentalphilosaphisch zu konstituieren, greift letztlich seinen verteidigungswürdigen Gedanken der " Intentionalität" an und löst Welt in Bewußtsein auf:
"Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe, ich bin offen zur Welt, unzweifelhaft kommuniziere ich mit ihr, doch ist sie nicht mein Besitz, sie ist unerschöpfbar."(ebd. S.14) "Die Natur bietet der Leiblichkeit und der Intersubjektivität lediglich eine Gelegenheit"(Ders., AuG, S.67)
Diese kurze Übersicht müßte erweitert und Punkt für Punkt entfaltet werden. Dies ist besonders deshalb nötig, da Husserls materiale Analysen sich häufig gegen seine eigenen Konzeptionen wenden lassen. Dennoch möchte ich nur wenige Punkte herausgreifen:

Kommen wir so noch einmal auf die Lebenswelt als Sinnfundament für die objektiven Wissenschaften zurück. Bei der Differenzierung des Begriffs stellen wir fest, daß nur die Welt der raumzeitlichen Körper, der "Weltkern" diese Bodenfunktion bei Husserl erfüllen kann. Die Erfahrungsform, also das intentionale Komplement dieser "Grundschicht" von Welt, ist eine abstraktive, da sie alle höheren Schichten abbauen muß. "Wir leben nicht im Universum der bloßen Sachen. Vor aller Reflexion nehmen wir in der Unterhaltung und im täglichen Leben eine 'personalistische Einstellung' ein, die der Naturalismus nicht erklären kann und in der die Sachen für uns nicht Natur an sich, sondern 'unsere Umgebung' sind."(Merleau-Ponty, AuG, S.49). Diese Worte sind zwar gegen den Naturalismus gesprochen und stammen fast wörtlich von Husserl selbst (Ideen II, S.163, zit.ebd.) jedoch was unterscheidet "lebendige Kausalität" oder "lebendige Raum-Zeitlichkeit" von den Idealisierungen der Wissenschaft, wenn sich deren Apriori in dem der Lebenswelt fundiert sieht. Die lebensweltliche Erfahrung soll grundlegende Erfahrung sein, insofern sie allen Erlebnis- und Verhaltensweisen voraus ist. Wie kann aber eine partielle, den Weltkern herauspräparierende Erfahrung, eine das Ganze betreffende sein? Wenn man von ursprünglicher Erfahrung reden will, so zeigt uns diese die Natur nie "rein", sondern eingeschlossen in eine Kulturwelt. An anderer Stelle weist Husserl selbst darauf hin (vgl. CM, §58). Die Dinge unserer Umgebung sind primär "Zuhandenes" in einer "Bewandnisganzheit" und werden erst vor dem abstraktiven, theoretischen Blick zur raumzeitlichen Körpern, zur "Vorhandenheit", wie Heidegger es ausdrücken würde. Lebenswelt als "pure Natur" und ihre entsprechend reduzierte Erfahrung kann auch nicht das Fundament, eingeschränkt auf die Naturwissenschaften, abgeben, denn dann müßte wiederum zurückgefragt werden, was diese Erfahrung fundiert.

Die Schwierigkeit ist unübersehbar: "sofern die Lebenswelt konkret-geschichtlich ist, ist sie kein universales Fundament, und insofern sie ein solches ist (als "pure Natur" -R.S.), ist sie nicht konkret-geschichtlich" (Waldenfels, 1979a, S.129). Nur in spezifisch gerichteter Weise sind uns "Dinge" als Komposition aus Raum-, Zeitschema, sinnlicher Fülle und "lebendiger" Kausalität gegeben, sie können in der konkreten Erfahrung keine intersubjektive Geltung beanspruchen, was ihren Geltungsanspruch nicht relativiert, jedoch kann hier von "passiver Genesis" nicht die Rede sein.
Konkret lernen wir überhaupt erst was ein "Ding" ist, lernen zu unterscheiden zwischen Leblosem und Lebendigem. Piagets Studien zum "frühkindlichen Animismus" sind hierfür recht lehrreich. Auch unsere konkrete Raumerfahrung ist nicht primär Wahrnehmungsschema für die Dingkonstitution. Wir wohnen gleichsam im Raume ein, Körperraum und Außenraum zusammen bilden ein praktisches System, "in dem jener der Untergrund ist, vor dem ein Gegenstand sich erst abheben kann" (Merleau-Ponty, PdW, S. 126) . Diese Kritikbeispiele ließen sich weiterführen, aber wichtiger ist die daraus folgende Konsequenz. Die Wahrnehmung selbst, "Urmodus der Erfahrung", muß thematisch werden. Wahrnehmung hat bei Husserl den Charakter der Präsentation, der Gegenwärtigung, aber damit geht in eins die Vorstellung, uns seien die Dinge als dieselben nur unter verschiedenen raum-zeitlichen Perspektiven gegeben und erst anschließend werden sie von "kulturellen Prädikaten" überlagert. Auch hier gibt es eine unterste, universale Struktur. Demgegenüber kann nunmehr nur insofern von einer universalen Struktur gesprochen werden, daß wir immer" etwas als etwas verstehen". Welt ist uns nicht zuunterst gegeben in "schlichter Erfahrung", sondern in unserem " In-der-Welt-Sein" haben wir sie immer schon verstehend erschlossen (vgl. Heidegger, SZ). Was kann auf diesem Hintergrund für das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt ausgesagt werden? Ein stufenweiser Regress durch die wissenschaftlichen Sinnschichten hindurch auf eine "unberührte" Lebenswelt ist nunmehr nicht möglich. Lebenswelt, "sofern sie als Sinnfundament der neuzeitlichen Wissenschaft betrachtet werden soll", hört genau von dem Augenblick an auf "vorwissenschaftlich zu sein, in dem ihr jene Funktion zugeschrieben wird" (Ströker, 1979, S.121) . Die wissenschaftliche Welt ist keine zweite Welt, da ihre Sinnkonstitutionen auch in der Lebenswelt gelten, sich bewähren müssen. Den neuen Konstrukten muß in der Lebenswelt Geltung verschafft werden, "dazu bedarf es eigener Zurüstungen, die, obzwar nicht 'aus' der Lebenswelt motiviert, gleichwohl 'in' ihr zu treffen sind" (ebd. S.120). Die experimentellen Vorkehrungen sind so gleichermaßen Teil der wissenschaftlichen Praxis: dort dienen sie der Geltungsprüfung, wie der lebensweltlichen Praxis: insofern sie deren Bestand etwas Neues hinzufügt, seien es Geräte, Theorien oder Interpretationsmuster. Das Neue sickert in die lebensweltlichen Erfahrungen ein, schichtet auf, aber strukturiert auch um. Nur in diesem Sinne kann Husserls Redeweise von "Sinnstiftung", "Sinnsedimentierung" und "Sinnverschiebung" akzeptiert werden. Die Wissenschaft konstituiert ständig die Lebenswelt mit.

Die Lebenswelt verliert ihre Einheitlichkeit, konkurrierende Strukturbildungen sind möglich. Sie verwandelt sich in ein Netz und eine Kette von Sonderwelten, "die sich vielfach überschneiden und überlagern, die sich aber (...) nicht hierarchisch anordnen und teleologisch ausrichten lassen im Hinblick auf ein umfassendes Ganzes" (Waldenfels, 1979a, S.136).
In Husserls "universalem Korrelationsapriori" waren Welt und Subjektivität intentional aufeinander bezogen. Verliert diese Welt ihre "Einheitlichkeit", so kann die "Subjektivität", das Ego davon nicht unbetroffen bleiben. Die Evidenz der "lebendigen Selbstgegenwart" steht in Frage. Und auch hier liefert Husserl selbst die Kritikpunkte. Bewußtsein ist zunächst Gerichtet-sein auf Anderes. "Dem Anderen verfallen, weiß es sich zunächst nicht als ausgerichtetes" (Ricoeur, 1969, S.388). Die Gerichtetheit auf die Dinge mit ihren Horizonten, eingelagert in den Strom des unthematisch Mitgemeinten, ist der Reflexion immer schon voraus. Nicht nur kann das Horizonthafte je zur vollen Klarheit kommen, die fungierende Intentionalität kann von der Reflexion nicht fixiert werden. Das Ego weiß sich als wissendes immer erst im nachhinein. Vor allem aktiven Intendieren und der Vergewisserung dieser Intention als Akt, liegt eine "passive Genesis des Sinnes", ein Sinn, der sich ohne mich erfüllt. Nie kann ich ihn gänzlich aufhellen, er sedimentiert sich und konstituiert so das Ego mit, das nichts anderes ist als das Werden seiner selbst in der Geschichte. Das Bewußtsein ist also seiner selbst nicht sicher, kein fundamentum inconcussum, sondern kann nur thematisch werden in einer "Archäologie des Subjekts". Und auch die Natur entbirgt sich uns nicht ganz. Es gibt eine "Rückseite der Dinge", die uns nicht zugänglich ist; so hört, wo der Schatten beginnt unser Verstehen auf. Diese Seite der Natur ist "unzivilisiert", übersteigt die Grenzen unserer Sinngebung und ist doch ständig anwesend, wirkt auf uns ein (vgl. Merleau-Ponty, AuG, S.67).

Anmerkungen:

1 vgl. Hammerich/Klein (Hrsg.): Materialien zur Soziologie des Alltags, KZfSS Sonderheft 20/1978; Leithäuser, T.: Formen des Alltagsbewußtseins, Frankf.1976; Hack, L.: Subjektivität im Alltagsleben, Frankf.1977; Goffman, E.: Interaktionsrituale, Frankf. 1976; Leithäuser, Volmerg u.a.: Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins, Frankf. 1977; zur sozial-historischen Forschung; Lüdtke, A.: Alltagswirklichkeit. Lebensweise und Bedürfnisartikulation, in: Gesellschaft 11, 1978, S.311-35o

2 vgl. Arbeiten E.Goffmans, sowie den Sammelband: AG Bielefelder Soziologen: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Reinbek 1973, zu Mead vgl. Joas: Praktische Subjektivität, Frankf.1961 (eine Arbeit, die zeigt, wo Mead auch über den SI hinausgeht). Hack, L.(s.o.)

3 vgl. zur Übersicht: Weingarten, Sack, Schenkein (Hrsg.): Ethnomethodologie - Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankf.1976

4 Laucken, U.: Naive Verhaltenstheorie, Stuttg.1974, Fillipp (Hrsg.): Selbstkonzept-Forschung, Stuttg.1979

5 vgl. Cicourel, A.: Methode und Messung in der Soziologie, Frankf.1974; Hopf/ Weingarten: Qualitative Sozialforschung, Stuttg. 1979; Mertens, W.: Sozialpsychologie des Experiments, Hamburg 1975

6 zur Sozialpsychologie vgl. z.B. Israel/Tajfel: The context of social psychology, London 1972; Mertens/Fuchs: Krise der Sozialpsychologie?, München 1976 zur Sozialisationsforschung z.B. Edelstein/Keller (Hrsg.): Perspektivität und Interpretation, Frankf.1982

7 in der Pädagogischen Psychologie geht dies soweit, daß objektive Testverfahren gefunden wurden, die allen statistischen Anforderungen genügen, aber praktisch nicht realisierbar sind. vgl. zur Übersicht U.Kritik Grubitzsch/Rexilius: Testtheorie-Testpraxis. Reinbek 1976

8 vgl. Winch, P.: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankf. 1974

9 Heidegger grenzt hiervon noch einmal die "Erscheinung" ab. "Erscheinen ist ein Sich-nicht-zeigen.(...) Erscheinen ist das Sich-melden durch etwas, was sich zeigt"(SZ, S.29). So z.B. Krankheitserscheinungen: die Krankheit zeigt sich selbst nicht, sondern was sich zeigt als Indikator sind Symptome. Wichtig ist, daß Husserl Erscheinung so nicht gebraucht, sondern den Begriff mit dem Sichzeigenden, Offenbaren gleichsetzt.

10 vgl. Herrmann, F-W. v. ( 1981), der von Heidegger her argumentierend, Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen der Husserlschen Phänomenologie des Bewußtseins und Heideggers Daseinsanalytik kurz herausarbeitet.

11 Autgrund der Epoché ist die intentionale Bewußtseinsanalyse keine psychologische Fragestellung, da sich die Psychologie als Wissenschaft auf dem Boden der "natürlichen Welteinstellung" bewegt.

12 Wir zitieren Merleau-Ponty an dieser Stelle nur insoweit er mit Husserl übereinstimmt, bevorzugen jedoch seinen eher literarischen Stil.

13 Die Arbeit "Die Krisis der neuzeitlichen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie" besteht in ihrem Kern aus den Vorträgen, die Husserl 1935 in Wien und Prag gehalten hat, wurde von ihm ergänzt und teilweise veröffentlicht (Belgrad 1936). Eine endgültige abgeschlossene Fassung konnte er nicht mehr fertigstellen, so daß die Arbeit wie sie vorliegt ein Fragment bleibt.

14 Mit Kant endet auch der eher "historische" Teil und beginnt der "systematische", der sich den Problemen der Ontologie und Konstitution der Lebenswelt zuwendet. Beide Teile sind nicht explizit aufeinander bezogen, stammen aus verschiedenen Arbeitsschritten.

15 Diesen Hinweis verdanke ich Dr. Emil Angehrn (mittlerweile Prof.), an dessen Seminar zur "Krisis" ich an der FU in Berlin WS 82/83 teilnahm.

Literatur:

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CLAESGES, U.(1972) Zweideutigkeiten in Husserls Lebensweltbegriff, zit. bei LANDGREBE, L.(1977)
HEIDEGGER, M. (SZ) Sein und Zeit, Tübingen 1972 (Orig.1927)
- (1971) Was heißt Denken?, Tübingen
HERRMANN, F.-W.v.( 1981) Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankf.
HUSSERL, E. (1973) Ding und Raum / Vorlesung 1907, Den Haag
- (Ideen I) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980 (Orig.1913)
- (CM) Cartesianische Meditationen, Hamburg 1977 (Orig.1931)
- (K) Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1962
- (EU) Erfahrung und Urteil, Hamburg 1972 (Orig. 1939)
JANS5EN, P.(1976) Edmund Husserl, Freiburg/München
KERN, I.(1979) Die Lebenswelt als Grundlagenproblem der objektiven Wissenschaften und als universales Wahrheits- und Seinsproblem, in STRÖKER, E.(Hrsg.) 1979, S.68-78
LANDGREBE, L. (1939) Husserls Phänomenologie und die Motive zu ihrer Umbildung, in Ders.(1978) S.9-40
- (1940) Welt als phänomenologisches Problem, in Ders.(1978) S.41-62
- (1977) Lebenswelt und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, in: WALDENFELS (Hrsg.) Phänomenologie und Marxismus 2, Frankf.1977, 5. 13-58
- (1976) Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh
MERLEAU-PONTY.M. (PdW) Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 (franz.Orig. 1945)
- (AuG) Das Auge und der Geist, Reinbek 1967
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* Dies ist meine erste eingehende Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls; im Frühjahr 1983 dem Programmausschuß des Evangelischen Studienwerk Villigst e.V. zur Diskussion vorgestellt. Der Text bildet jedoch den Kontext, auf den sich meine Überlegungen zu Habermas und Levinas u.a. mittelbar beziehen.


Rudolf Süsske


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