Buchbesprechung
Wege zum Werk Jacques Lacans

Christian Kupke

Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, 
hrsg. v. Hans-Dieter Gondek, Roger Hofmann 
und Hans-Martin Lohmann, 
Stuttgart 2001.

lacan

Bücherecke

„Die Propagierung der Psychoanalyse hat uns seit der Zeit Freuds unwiderruflich gezeigt, dass Deutung notwendigerweise Aneignung und somit einen Akt des Begehrens und des Mordes darstellt.“ (Julia Kristeva)

Seit ungefähr dreißig Jahren versuchen in Deutschland Psychoanalytiker und Philosophen sich Wege zum Werk Jacques Lacans zu bahnen. Darin sind sie, nach einhelliger Meinung aller Beteiligten, bislang ein gutes Stück vorangekommen. Umso überraschender aber ist es, dass nun auf dem deutschen Markt, im wissenschaftlich hoch renommierten Klett-Cotta-Verlag (dem Hausverlag der Zeitschrift "Psyche"), ein Band mit dem eigens formulierten Anspruch erscheint, adäquate und in sich verständliche Wege zum Werk Jacques Lacans allererst aufzuweisen: „Ausgangspunkt dieses Projektes“, heißt es im Vorwort, „war die Idee und in gewisser Weise auch die Wette, ein Buch über Lacan vorlegen zu können, das, ohne den Schwierigkeiten in der Sache aus dem Weg zu gehen, dennoch in sich verständlich bleibt. Der Einsatz der Wette besteht darin, daß die Artikel dieses Bandes auch von denen gelesen werden können, die zwar schon einen Zugang zur Freudschen Psychoanalyse haben, aber mit dem Lacanschen Werk noch nicht vertraut sind.“ (8)

Dass bereits Wege zum Lacanschen Werk eröffnet wurden, wird also von den Herausgebern nicht bestritten. Aber es wird ein gewisser Mangel konstatiert, der darin bestehen soll, dass sich der Zugang zu diesem "schwierigen Autor" nun seinerseits als schwierig erweise. Warum? Nicht etwa deshalb, weil die Fragen und Antworten, um die es Lacan geht, nicht ohne eine gewisse Arbeit des Begriffs und nur in der damit verbundenen Anstrengung formulierbar seien (worüber sich jeder im Klaren sein muss, der sich mit Lacan auseinandersetzt), sondern weil es der Hermeneutik bislang nicht gelungen sei, einen adäquaten, von reinem Expertenwissen unverstellten Zugang zum Lacanschen Werk zu finden: „Ziel ist es, Lacan aus dem engen Kreis der Expertenkultur herauszuholen und wieder zurück in die breite psychoanalytische, aber auch geisteswissenschaftliche und sogar gesellschaftlich-politische Diskussion einzuführen, in die er seit jeher gehört.“ (ebd.)

Was und vor allem wer mit dieser "Expertenkultur" gemeint ist, wird dann allerdings nicht ausgeführt. Und es ist auch fraglich, ob der – in psychoanalytischen Kontexten ohnehin problematische – Vorwurf einer Nicht-Adäquanz von Rezeption und Werk und einer damit notwendigerweise verbundenen "Entstellung" des Lacanschen Œuvres als solcher überhaupt stimmig ist. Unter der mittlerweile bunt gefächerten Literatur zu Lacan findet sich, auch im deutschsprachigen Raum, eine Vielzahl sowohl einführender, aktualisierender als auch dezidiert wissenschaftlicher Titel; und diese Vielfalt ist zunächst einmal nicht als Manko zu verstehen, sondern stellt gerade die unabdingbare Voraussetzung für die eingeklagte breite psychoanalytische, aber auch geisteswissenschaftliche und sogar gesellschaftlich-politische Diskussion dar. Lacan angesichts solcher Vielfalt wieder zurück in diejenige, angeblich authentische Dimension einzuführen, in die er seit jeher gehört und aus der ihn die gescholtenen, aber nicht weiter benannten "Experten" angeblich vertrieben haben, – dieser Anspruch wirkt denn doch etwas übertrieben und leistet wenig, um der gegenwärtig nicht eben leicht überschaubaren Rezeptionssituation annähernd gerecht zu werden.

Die eher peinliche Diskussion über einen "authentischen" Zugang zu Lacan wird denn auch im vorliegenden Sammelband nur an äußerst wenigen und zumeist unspektakulären Fronten eröffnet. So zeigen etwa die Beiträge im historischen Teil des Bandes (von Udo Hock, Gerhard Schmitz und Elisabeth Roudinesco), dass fast alle Bedingungen, die einen solchen Zugang normalerweise stützen würden, gerade im Falle Lacans kaum gegeben sind. Schon allein die materialen Grundlagen des jeweiligen Zugangs, die Texte Lacans, sind, wie Gerhard Schmitz in seinem Beitrag "Das Seminar von Jacques Lacan. Aspekte seiner Geschichte" (236ff) minutiös darlegt, zum großen Teil fragwürdige, bereits von erheblichen Deutungen getragene Transkriptionen, die „eine Originalität (simulieren), die es in Wahrheit nie gab und nie geben wird“ (246). Und auch Elisabeth Roudinesco weist unter der Überschrift "Jacques Lacan oder die ausgelöschte Geschichte" (259ff) darauf hin, dass die Frage des authentischen materialen Zugangs – ganz abgesehen einmal davon, dass sie gegenwärtig, in Gestalt des Schwiegersohns Lacans, familienrechtlichen Gesichtspunkten unterworfen wird – negativ beantwortet werden muss: „Die Manuskripte, die Aufzeichnungen und die Korrespondenz sind weder klassifiziert noch in Verzeichnisse aufgenommen, noch "hinterlegt" worden. Sie existieren nicht, und dieses Fehlen eines Archivs ist das Symptom einer ausgelöschten Geschichte, einer Auslöschung einer Spur, die es der lacanianischen Gemeinschaft erlaubte, an jede beliebige Legende zu glauben.“ (261f)

Wie aber kann einer solchen Legendenbildung wirksam entgegengetreten werden? Offensichtlich nur so, dass man den durch sie indizierten Mangel an Authentizität – ganz im Sinne einer psychoanalytischen Ethik – zunächst einmal anerkennt und sich sodann der mühseligen Arbeit unterzieht, Lacan in die Kontexte jener eben nicht-ausgelöschten Geschichte zu stellen, die die Herkunfts- und die Wirkungsgeschichte seiner Werke ist und vor deren Hintergrund allererst die Relevanz der jeweils unterschiedlichen Deutungsalternativen einschätzbar wird. Aus Udo Hocks Beitrag "Lacan – Laplanche: Zur Geschichte einer Kontroverse" (203ff) geht immerhin hervor, dass Entscheidungen über zentrale Konzepte des Lacanschen Œuvres nur getroffen werden können, wenn ähnlich profilierte Theorien (wie eben die von Laplanche, aber bspw. auch die von Pontalis, Leclaire, Dolto und Kristeva) in den jeweiligen hermeneutischen Diskussionen mitberücksichtigt werden. Wie hier die von Laplanche entwickelten Modelle von Metapher und Metonymie und vom Unbewussten mit denen Lacans enggeführt werden (vgl. 213ff u. 217ff), zeigt, dass die eigentümliche Differenz des Lacanschen Denkens, seine Stärken, aber auch seine unübersehbaren Schwächen nur in einer strikten Konfrontation mit den bislang vorliegenden prä-, neo- und postlacanianischen Positionen herausgearbeitet werden können. Die auratischen Legenden vom unanfechtbaren "Herrn und Meister" jedenfalls verdampfen in solcher Konfrontation sehr schnell zu heißer Luft.

Im zweiten Teil begegnet der Leser (in Texten von Matthias Waltz, Hans-Dieter Gondek, Andreas Cremonini und Roger Hofmann) Analysen, die sich vor allem den Wirkungsfeldern der Lacanschen Psychoanalyse widmen. Hier bezieht in der Frage eines authentischen Zugangs zum Lacanschen Werk lediglich Hans-Dieter Gondek (der offensichtlich auch für das schon zitierte Vorwort verantwortlich zeichnet) eindeutig und explizit Stellung und weist in seiner Generalrevision der bisherigen "philosophischen Zugänge zur Lacanschen Psychoanalyse" (130ff) auf diejenigen Einführungen in Lacan (v.a. von Hanna Gekle und Gerda Pagel) hin, die seiner Ansicht nach den unvorbereiteten Leser in geradezu skandalöser Weise in die Irre führen: „Angesichts solcher Einführungen braucht man sich über die schwache Verbreitung eines soliden Bescheidwissens über Lacan außerhalb des inneren Kreises der "Expertenkulturen" nicht zu verwundern.“ (162)

Die Front ist also eine doppelte: Auf der einen Seite das „der Einführung in was auch immer dienende Schrifttum, mit dem man seit dem vor einigen Jahren einsetzenden und schleichend fortschreitenden Tod der Monographie geradezu überschwemmt wird“ (159) und auf der anderen Seite jene nicht näher benannten Experten, die „anstelle einer überzeugenden Antwort einen Terminus [z.B. den des Signifikanten, C.K.] zum Schibboleth erheb(en), an dem sich die Wissenden von den Unwissenden trennen, und zwar ohne daß die Wissenden je den Unwissenden erklären können (und zumeist auch gar nicht wollen), warum und inwiefern sie die Wissenden sind und die anderen nicht.“ (153)

Es geht also – für eine lacanianisch inspirierte Psychoanalyse immerhin überraschend – um Wissensfragen. Aber hier einen "dritten Weg" zu finden, jenseits des nun einmal unterstellten Binarismus von Unwissen und Wissen, von ubiquitärer und kryptischer Wahrheit, fällt auch einem so kenntnisreichen Autor wie Gondek nicht leicht. Denn das setzt voraus zeigen zu können – und Gondek beansprucht dies –, dass alle bisherigen Lesarten, ob nun ubiquitärer oder kryptischer Art, an den entscheidenden Stellen versagen. Eine dieser entscheidenden Stellen ist für Gondek die Frage, was – im Lacanschen Sinne – ein Signifikant sei. Beantwortet man diese Frage mit Hinweisen auf die strukturalistische oder semiotische Tradition des Lacanschen Denkens (Lévi-Strauss, Saussure etc.), so reduziert man dieses Denken Gondek zufolge jedenfalls in unzulässiger Weise, denn Lacan habe, wie er behauptet, beiden Strukturalismen gegenüber, dem wissenschaftlichen wie dem philosophischen, „eher eine Randstellung eingenommen“ (147).

Zu dieser, von Gondek etwas überbetonten Frage mag man nun stehen wie man will; man mag die bei Lacan zweifellos vorherrschende Entsubstantialisierung des Signifikanten zu einem „absolute(n) Element der Beziehung qua Differenz“, zum „Urelement von Teilung, Spaltung, eben Differenz, aber damit auch von Opposition und Ordnung“ (155f) genetisch oder geltungstheoretisch zu beantworten suchen, – der entscheidende Einwand Gondeks ist hier, wie auch an anderen Stellen seines Textes, stets ein methodologischer. Man dürfe auch im Zugang zum Lacanschen Werk nicht den Fehler machen, Genesis und Geltung zu verwechseln, und es auf diese Weise zulassen, dass „die Frage, wie ein Begriff in einem Denkzusammenhang funktioniert, durch den Verweis auf einen anderen Denkzusammenhang „erklärt“ (wird)“ (151).

Das aber ist nun einigermaßen überraschend. Denn fast alle Autoren des vorliegenden Sammelbandes – und auch Gondek selbst – verfahren in ihren Texten genau nach diesem Prinzip. Und es wäre auch unsinnig anzunehmen, dass dies – zumal in einem sich von der sogenannten "Expertenkultur" distanzierenden Band – anders sein könnte: Ein Denkzusammenhang, so möchte man den bekannten Rimbaudschen bzw. Lacanschen Satz über das Ich transformieren, ist immer (auch) ein anderer und die plane binaristische Gegenüberstellung des "einen" und des "anderen" daher bloßer Schein. Das alte hermeneutische Credo jedenfalls: einen herkunftsgeschichtlichen Zusammenhang stark zu machen, um eben dadurch allererst diejenige Differenz markieren zu können, die dann für die Wirkungsgeschichte eines Textes die entscheidende ist, verkehrt Hans-Dieter Gondek ohne jede Not in sein Gegenteil: Den herkunftsgeschichtlichen Bezug (in diesem Falle zu Saussure) wertet er ab, um dann aber doch – entgegen der eigenen Aussage – dessen Stärke eingestehen zu müssen. Denn nicht nur sein eigener Text wäre ohne diesen Bezug zu Saussure (und auch zu anderen Autoren, darunter zu Heidegger, Husserl und Merleau-Ponty) völlig unverständlich; er selbst muss auch zugeben, dass Lacan „mit Hilfe der Saussureschen Linguistik die Psychoanalyse auf ein neues theoretisches Fundament (hat) stellen wollen“ (153) bzw. dass ihm dies – eben mit Hilfe der Saussureschen Linguistik – auch gelungen sei. Die List der Vernunft, die in der Geschichte der Entstehung des Lacanschen Werkes schon von jeher wirksam war (vgl. z.B. zu diesem Problem die von Gondek selbst erwähnte Publikation von Mikkel Borch-Jakobson), setzt sich also auch hier im Hermeneutischen durch.Umgekehrt zeigt nun aber die Vernunft dieser List Matthias Waltz in seinem Beitrag "Ethik der Welt – Ethik des Realen" auf (97ff). Denn diesem Autor zufolge ist die Lacansche Auffassung des Signifikanten, seines Verhältnisses zum Nicht-Signifikanten und damit auch die des Verhältnisses vom Symbolischen zum Realen nicht – wie es in geltungstheoretischen Überlegungen zweifelsohne der Fall wäre – statisch zu betrachten, sondern verdankt sich einer bestimmten Transformationsbewegung, die von einer impliziten "Ethik des Symbolischen" beim frühen zu einer expliziten "Ethik des Realen" beim späten Lacan führt (etwa seit dem Seminar VII). Die Präzision, mit der Waltz diese – bislang noch kaum wahrgenommene – Genese rekonstruiert, ist bestechend und dürfte die kommenden Diskussionen über die ethischen Implikate psychoanalytischen Denkens sicherlich nachhaltig beeinflussen: „In der früheren Auffassung sollte die Analyse das Subjekt in das Symbolische und den Bereich der wahren Rede hineinführen; die analytische Ethik betraf zwar nicht das Verhalten, aber die Identifikation im Symbolischen; es war eine Ethik der Bindung und der Übernahme von Schuld, die mit einer Ethik des Lebens vermittelbar ist. In der Ethik der Analyse, die das Seminar VII entwickelt, soll der Analysant mit dem Stück des Realen konfrontiert werden, das seine symbolische Wirklichkeit trägt. Der Analytiker wird der tragischen Heldin gleichgesetzt.“ (103f)

Die unvermeidliche Frage, ob dieser Übergang, der zu einer Ethik jenseits des symbolischen Gesetzes und damit außerhalb der Welt führt, in geschichtlichen Kategorien gesprochen eher einen "Fortschritt" denn einen "Rückschritt" darstellt, beantwortet Waltz allerdings im Großen und Ganzen negativ (vgl. v.a. 112). Denn für ihn ist das Entscheidende des postmodernen Paradigmenwechsels, dem sich Lacan mit seiner angeführten Transformationsbewegung annähert, gerade „nicht die Pluralität der Systeme, sondern die Tatsache, daß die Legitimitätsfrage nicht mehr gestellt wird“ (120). In einer solchen Situation aber ist das Problem für das Subjekt nicht mehr der schleichende Legitimitätsverlust der Welt, sondern der oszillierende, wenn nicht sogar fehlende Weltbezug überhaupt: „Wenn man [unter modernen Gesichtspunkten, C.K.] von einer Identifizierung aus schaut, sucht man nach der Wahrheit der Welt; aus der Position der Weltlosigkeit [unter postmodernen Vorzeichen, C.K.] kommt es nicht auf die Legitimierbarkeit an, sondern auf die Welthaftigkeit.“ (121)

Welthaftigkeit kann aber Waltz zufolge vom Subjekt offenbar nur wiedergewonnen werden, wenn an die Stelle der für die Psychoanalyse bisher konstitutiven genealogischen Ordnung eine – nunmehr notwendig innerweltliche – ethische Ordnung tritt, – eine Ordnung, die sich z.B. am Prinzip der Gabe orientiert (vgl. 117ff). Insofern behält also der späte Lacan zwar in gewisser Weise recht: „Das Ethisch-Symbolische [der genealogischen Ordnung und der normativen Geltung der ödipalen symbolischen Identifikationen; vgl. 128] beherrscht nicht mehr die Wirklichkeit und bestimmt nicht mehr die unhintergehbaren Positionen des Subjekts. Aber eines ist von dem frühen Lacan zu bewahren: Es gibt nicht nur die imaginäre, täuschende Moral des Wohls, es gibt eine ethische Wahrheit in der Welt; und man wird auch sagen können, daß es ohne diese keine Welt gäbe.“ (121f)Der Gedanke einer außerweltlichen Ethik bleibt also für Waltz prinzipiell problematisch, ohne dass man allerdings bereits erkennen könnte, wie denn nun ihm zufolge mit der "Kontingenz der Setzung" einer innerweltlichen Ethik umgegangen werden könnte. Hier zeichnet sich eine Linie der Diskussion ab, die vor allem den Status dessen betrifft, was hier abgewiesen wird: das der Immanenz der symbolischen Ordnung Transzendente. Wird dieses Transzendente, wie z.B. in der von Juranville favorisierten Lesart, durch einen christlich verstandenen notwendigen Gott legitimiert, verschlägt es die Transzendenz jedenfalls sofort wieder in die Immanenz, „werden“, wie Waltz sehr deutlich formuliert – und wie es sich zur Zeit auch wieder im weltpolitischen Zusammenhang zeigt –, „die anderen zu Barbaren und Ungläubigen, sie haben nicht mehr den Blick des Anderen in sich; aus Kampf wird sehr schnell Vernichtung“ (123). Wird aber andererseits – wie es in der Antigone-Interpretation Lacans der Fall ist – das Außerweltliche, die Ordnung Überschreitende individuell und damit kontingent legitimiert, tritt an die Stelle der Hierarchie die Tendenz zur Anarchie und an die Stelle des Allgemeinen das Gesetz des Einzelnen. Nur eine den Binarismus von Gott und Welt, Individuellem und Allgemeinem, Notwendigem und Kontingentem negativ-dialektisch hintertreibende, ihn subvertierende Strategie könnte daher eine auf Dauer aussichtsreiche theoretische Option darstellen. Aber diese ist, so scheint es jedenfalls, für die Psychoanalyse bislang noch nicht in Sicht.

Ganz andere, nämlich innertheoretische, die Praxis der Psychoanalyse betreffende Probleme werden im ersten Teil des Sammelbandes (in Beiträgen von August Ruhs, Michael Schmid und Peter Widmer) behandelt. Hier geht August Ruhs in seinem Beitrag "Das aufgebrochene Junktim: die „Psychoanalyse“ der Psychose" (74ff) auf ein ebenfalls lange vernachlässigtes Problem der Lacan-Rezeption ein: Er fragt, wie das auch von Lacan noch vertretene Diktum, dass der Psychotiker nicht „auf die Couch“ gehöre (90), zu beurteilen und – möglicherweise – zu revidieren sei. Nach einer auf der Basis des Textes von Naveau sehr plastisch geratenen Darlegung der frühen Lacanschen Auffassung der Psychose als "missglückter ödipaler Triangulierung" (79ff) und einer eingehenden Erörterung des für die Psychose kennzeichnenden Vorgangs der "Verwerfung" (81ff) kulminiert der Beitrag zunächst in dem Versuch einer psychoanalytischen Klassifizierung der verschiedenen Psychosetypen: des Schizophrenen, des Paranoikers und des Manisch-Depressiven (87f).

Das Verdienst des Beitrages besteht dabei vor allem darin, auch die Manisch-Depressiven mit in die Betrachtung einbezogen zu haben. Denn charakteristisch für die bisherige psychoanalytische Psychosentheorie – insbesondere in ihrer Lacanschen Form – war ja gerade die Vernachlässigung der "affektiven Erkrankungen" (Melancholie und Manie) gegenüber den sogenannten "Noopsychosen" (Schizophrenie und Paranoia). Zwar bietet hier der Freudsche Text noch gewisse Anknüpfungspunkte, die gegenwärtig besonders in systematischer Hinsicht von Bedeutung sein dürften (vgl. 75 u. 88f), aber die tendenzielle "Kopflastigkeit" der lacanianischen Psychoanalyse in dieser Frage dürfte wohl kaum überwunden werden können, wenn man nicht – und eben das hat Ruhs sehr genau erkannt – die Auseinandersetzung einerseits mit der Psychiatrie und Psychopathologie selbst sucht, aber andererseits auch mit denjenigen psychoanalytischen Konzeptionen, die, wie etwa die von Julia Kristeva, gerade an diesem Punkt "mit Lacan über Lacan" hinausgehen (leider begnügt sich Ruhs hier nur mit einigen Andeutungen; vgl. 89f).

So verdienstvoll und lesenswert der Aufsatz ist, so muss aber dennoch – was die grundsätzliche Tendenz des Textes betrifft – der eine oder andere Punkt moniert werden. So darf die dringend notwendige Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit der klinischen Psychiatrie und – vor allem – mit der Psychopathologie nicht dazu führen, dass gewisse konventionelle Klassifizierungsmuster einfach übernommen werden. Die von Ruhs am Ende seines Beitrages im Rückgriff auf eine Publikation von Fink aufgelisteten Diagnoseindizes für eine Psychose (!): die sogenannte "Vorherrschaft imaginärer Beziehungen", die "Invasion des Genießens" und – vor allem – die "mangelnde Triebkontrolle" oder gar die "Tendenz zur Feminisierung" (92) ähneln – einmal abgesehen davon, dass sie das eine oder andere moralische Vorurteil transportieren – allzu sehr jenen Checklisten und Skalen der klassischen Psychiatrie, deren Zugrundelegung einer Psychoanalyse als einer "Theorie des Besonderen" (Lacan) eklatant widersprechen würde.

Und auch noch ein zweiter Kritikpunkt darf hier nicht unerwähnt bleiben: Konventionell bleiben die Ausführungen von Ruhs nicht nur in Fragen der Diagnostik, sie orientieren sich auch weitestgehend kritiklos an jenem genealogischen Modell einer normativen Geltung ödipaler symbolischer Identifikationen, dessen Gültigkeit im Text von Waltz gerade befragt wird. Ruhs‘ Auskunft „daß es hier hauptsächlich um symbolische Funktionen geht, deren konkrete Träger auch außerhalb und jenseits der unmittelbaren familiären Konstellationen liegen können“ (78), stellt in dieser Hinsicht kaum eine Beruhigung dar. Denn die immunisierende Ablösung der Struktur von ihren jeweiligen konkreten, familiären oder sozialen Beziehungen (ein schon bei Lévi-Strauss diskutiertes Problem) lässt die Frage der Gültigkeit nicht nur weiterhin unbeantwortet, sondern verschärft sie sogar noch. Hier wäre vielleicht gegenwärtig eine Wiederaufnahme der bereits von Mitscherlich in den 60er Jahren angestoßenen Diskussion über die "vaterlose Gesellschaft" hilfreich oder aber eine weitere klinische Befragung der von Waltz beobachteten Verschiebung zu einer der genealogischen Ordnung gegenüber transzendenten Ethik.

Eine ähnliche Ambivalenz kennzeichnet auch den Beitrag von Peter Widmer "Zwei Schlüsselkonzepte Lacans und ihre Bedeutsamkeit für die Praxis" (15ff): Äußerst kenntnis- und materialreich – wie man es von diesem Autor gewohnt ist – werden hier die beiden Konzepte des Dings und des Phallus einander gegenübergestellt, und zwar so, dass diese binäre Unterscheidung mit zwei weiteren, für die Psychoanalyse mittlerweile klassischen Gegensätzen überblendet wird: mit dem des Logischen und des Libidinösen und dem des Weiblichen und des Männlichen. Dabei beruht die Zugehörigkeit des Dings zur logischen Dimension und damit zu dem, was Widmer – etwas überraschend – die "signifikante Ordnung" nennt (vgl. 15, 20 u. 28), auf dem ethischen Status des Dings als eines – kantisch gedachten – unmöglichen höchsten Gutes; während die Zugehörigkeit des Phallus zur libidinösen Dimension und damit – weniger überraschend – zur "symbolischen Ordnung" sich unmittelbar aus der mittlerweile geläufigen Bestimmung des Phallus als des "Signifikanten des Begehrens" erschließen lässt: „Die Psychoanalyse enthält eine logische Dimension, die von den verbalen Signifikanten konstituiert wird, und eine libidinöse Seite, die sich mit der logischen dergestalt liiert, daß sie ihre Bestimmung vom Anderen der Sprache her erhält, die andererseits ihre Reinheit verliert und libidinisiert, einbezogen in die Kräfte des Begehrens wird.“ (36)

Aus dieser "Liaison" zweier Dimensionen speist sich – innerhalb des vorgegebenen Argumentationsmusters durchaus konsequent – die zweite Überblendung des binären Unterschieds von Phallus und Ding mit dem Gegensatz von "männlich" und "weiblich". Peter Widmer bedient sich hier einer sehr komplexen Argumentation, die aus dem Anspruch resultiert, die genannten Unterschiede vor allem für die psychoanalytische Praxis fruchtbar zu machen: Statt direkt die Lacansche Bestimmung aufzugreifen, dass es die Mutter sei, die den Platz des Dinges einnehme (vgl. Sem VII 84/82) und es deshalb der Vater sein müsse, der den Platz des Phallus besetze, entscheidet er sich für eine begriffliche Applikation der beiden Konzepte, die sie zunächst mit der von Freud aufgeworfenen Unterscheidung von narzisstischer Liebe und Anlehnungsliebe engführt und sie sodann an die je spezifischen Weisen des Objektmangels anbindet, in der die Privation als die logische, antigonale Figur des Dinges und die Kastration als die libidinöse, ödipale Figur des Phallus erscheint: „Wenn wir die Unterscheidung der Anlehnungsliebe und der narzißtischen Liebe wieder aufgreifen, können wir sagen daß die symbolische Kastration die Figur ist, die für die Männlichkeit typisch ist, die der Privation dagegen für die Weiblichkeit.“ (41)

Dennoch ist gerade diese Zuordnung keineswegs selbstverständlich oder auch nur naheliegend, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund der Darstellung von Widmer selber. Den Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Position und zwischen der Anlehnungsliebe und der narzisstischen Liebe kann nämlich auch er nicht wirklich aus dem – in dieser Hinsicht geradezu a-logischen – Konzept des Dinges, sondern nur aus dem des Phallus ableiten, und zwar hier wiederum vor allem anhand der Differenz von Phallus-Sein und Phallus-Haben: „Die kulturspezifischen Interpretationen der anatomischen Gegebenheiten führen dazu, daß die männliche Position, die des Phallus-Habens, mit der Anlehnungsliebe, die der weiblichen, des Phallus-Seins, mit der narzißtischen Liebe identisch ist.“ (34) Das aber nährt den Verdacht, dass es sich bei den beiden Begriffen des Dings und des Phallus gar nicht, wie Widmer es will, um zwei systematisch entgegengesetzte Konzepte handelt, die man sich aus den späten Seminaren mühselig – und erst nachträglich (vgl. 17) – zurechtlegen müsse, sondern dass sie vielmehr alternative, asynchrone Konzepte darstellen, mit deren Erprobung Lacan in der (hier leider vernachlässigten) Genese seines Werkes immer wieder experimentiert hat. Denn wenn die (weibliche) Position des Seins die der Unmittelbarkeit und damit die des Dinges ist (vgl. 17 u. 34), so markiert das Phallus-Sein der Frau eben deren Positionierung am Ort des Dinges, und Phallus und Ding wären deshalb an dieser Stelle kaum noch voneinander zu unterscheiden. Allenfalls ließe sich sagen, dass es sich bei diesem Unterschied – philosophisch – um die ontologische Differenz des Seins (Ding) vom Seienden bzw. der Seiendheit (Phallus) handele oder dass im Denken Lacans – semiologisch – der Phallus als der Signifikant eben noch stets sein ihm zugehöriges Signifikat auf den Plan gerufen hätte, und dass eben dieses Signifikat als das Signifikat das Ding sei.

Die binaristische Auseinanderdividierung von Phallus und Ding läuft daher bei Peter Widmer sowohl in der Frage des Verhältnisses von Weiblichem und Männlichem als auch in der von Logischem und Libidinösem auf eine die dialektischen Momente des Lacanschen Denkens hintertreibende Rückkehr zu Kant und damit auf so etwas wie einen wohlgeordneten "Antagonismus der Kräfte" hinaus: Nicht nur steht hier – wieder einmal – die (gesittete, himmlische) Frau am Ort der Unmittelbarkeit und der (unsittliche, irdische) Mann am Ort der Vermittlung (vgl. 34), auch das logische Denken widerspricht angeblich den libidinösen Ansprüchen, denen es doch in Wahrheit selber entstammt: „Logisches Denken vermag sich über libidinöse Ansprüche hinwegzusetzen, der Ratio eine Geltung zu verschaffen, die das Libidinöse in einen Zusammenhang stellt, der diesem an sich fremd ist.“ (36f) Das aber erinnert nicht von ungefähr an den Kantischen Konflikt des Prinzips der Sittlichkeit (Pflicht) mit dem der Glückseligkeit (Neigung) und an die von daher nicht ganz zufällige, in der bürgerlichen Aufklärungsmoral tief verankerte – und im übrigen von Lacan strikt bekämpfte – psychologische Auffassung eines sogenannten "starken Ichs", der zufolge – denn das Ding steht hier auf der ethischen Seite – der von Ruhs zitierte "Mangel an Triebkontrolle" (und nicht etwa der an Trieb oder Antrieb) das eigentlich Krankmachende sei.

Nicht alle Texte des Sammelbandes stellen allerdings den Leser vor derartige hermeneutische Herausforderungen (was sowohl deren Verständnis als auch deren Beurteilung anbelangt) wie die soeben besprochenen. So wie die im historischen Teil versammelten Analysen wichtige formale und materiale Voraussetzungen einer jeden Lacan-Lektüre klären – weshalb deren Platzierung ans Ende des Bandes doch ein wenig erstaunt –, sind auch die hier noch ausgesparten Beiträge (mit einer Ausnahme vielleicht) gut geeignet, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Der zwischen die Texte von Peter Widmer und August Ruhs etwas unbeholfen eingezwängte Beitrag von Michael Schmid "Der psychoanalytische Akt" (49ff) nimmt, als eine Art Einführung in die Theorie des Symbolischen, Lacans Deutung der Poeschen Erzählung "The Purloined Letter" wieder auf und verbindet sie in einer komplexen Synopse mit grundsätzlichen Erwägungen zum Status des Sprechens in der Analyse (55ff), zum Ort des Analytikers im analytischen Setting (61ff ) und zum Verhältnis von Wahrheit und Gewissheit (65ff). Ob allerdings alle der von Schmid hier zum Teil nur angedeuteten Bezüge auch dem sogenannten "Nichteingeweihten" verständlich werden, kann man durchaus bezweifeln, zumal das Ende des Beitrags – über die äußerst vertrackte, im elften Seminarband vorgestellte Theorie der Wahl – doch etwas kryptisch geraten ist (vgl. 69ff).

Umgekehrt kann man den Beitrag von Andreas Cremonini "Die Nacht der Welt. Ein Versuch über den Blick bei Hegel, Sartre und Lacan" (164ff) als eine Art Einführung in die Theorie des Wechselverhältnisses von Symbolischen und Imaginärem, und hier insbesondere einer bestimmten strukturellen Analogie zwischen Sprechen und Sehen verstehen: „Wie das Sprechen ist auch das Sehen ein Sehen-wollen, ein libidinöser Impuls. Wie das Sprechen durch das Nicht-sagen-können wird auch das Sehen durch einen blinden Fleck in Bewegung gehalten, der, selbst unsichtbar, nur über die Störung der visuellen Ordnung erfaßbar ist.“ (174) Die in diesem Zusammenhang äußerst luzide Darlegung der Sartreschen Theorie des Blicks (165ff) und ihrer Umdrehung durch die Lacansche Theorie vom Objekt klein-a als blindem Fleck (172ff) ist vor allem auch deshalb so überzeugend, weil sie zu einer – nicht eben selbstverständlichen – Infragestellung gerade des wissenschaftlichen Status‘ der Lacanschen Theorie beiträgt: „Lacans Begriff von Wahrheit läuft jeder Form von Gewißheit zuwider, da Wahrheit (...) gerade das andere des Wissens bezeichnet. Oder paradox formuliert: Wenn Lacans Theorie von der Unvermeidlichkeit des unbewußten Subjekts wahr ist, so ist sie genau aus diesem Grunde nicht überprüfbar, weil für das prüfende Bewußtsein derselbe Generalvorbehalt unbewußter Entstellung geltend gemacht werden müßte, den die Lacansche Theorie beschreibt.“ (177) Insofern nähert sie sich also, statt explizit wissenschaftlichen Ansprüchen genügen zu können, eher der Philosophie, der Kunst oder der Literatur.

Einen Beitrag ganz eigener Güte stellt eben deshalb auch der – leider etwas zu kurz geratene – Text von Roger Hofmann "Spannungen – Psychoanalyse, Literatur, Literaturwissenschaft" dar (189ff), – ganz eigener Güte, weil literarisch-ästhetische Probleme im Rahmen dezidiert psychoanalytischer Fragestellungen im allgemeinen immer noch etwas stiefmütterlich behandelt werden. Wobei es hier nicht so sehr um jene Umgangsweisen mit literarischenTexten geht, in denen diese, wie etwa Jensens "Gradiva" bei Freud oder Poes "The Purloined Letter" bei Lacan, lediglich der Veranschaulichung gewisser psychoanalytischer Konzepte dienen (auch auf dieses Problem geht Hofmann ein; vgl. 189f, 195f), sondern um die literarischen Verfahrensweisen der Psychoanalyse selbst. Hofmann erkennt sehr genau, dass es hier „eine Affinität zwischen der Praxis der Psychoanalyse und derjenigen literarischen Schreibens“ gibt (191) und dass eine gewisse „Dimension des literarischen Schreibens auch der psychoanalytischen Erfahrung innewohnt“ (197), aber man wünschte sich, dass er diesen Gedanken noch einige Schritte weiter verfolgt hätte. Denn wenn Lacans theoretische Ausarbeitungen, wie Weber, Haas und einige andere Lacan-Interpreten der ersten Generation richtig gesehen haben, einem stets tastend, erprobend und vorläufig verfahrenden Denken entspringen (vgl. 195) und der Psychoanalyse, anders als jeder Wissenschaft, gerade „daran gelegen (ist), dasjenige, womit sie befaßt ist, in der Schwebe zu halten und damit die Funktion des Urteils auszusetzen“ (196), was bedeutet dieser Umstand für die Lacansche Theorie und Praxis dann anderes, als dass auch sie selbst sich einem abschließenden Urteil entzieht – und eben deshalb unendlich deutbar ist?

Der Preis des Bandes (49 DM/ 25 Euro) ist nicht gerade niedrig, und man kann sich fragen, ob nicht darin schon ein gewisser Widerspruch zu der ja im Vorwort angedeuteten Zielgruppenbestimmung liegt. Umso schwerer wiegen aber deshalb gewisse formale Schwächen des Bandes, etwa fehlende oder falsche Buchstaben (z.B. 65f, 112, 169, 198) sowie einige gelegentlich auftretende hässliche Formatierungslücken (vor allem im Beitrag von Schmid). Auch die in solchen Sammelbänden sonst üblichen und zur weiteren Orientierung manchmal ganz hilfreichen Autorenhinweise wurden nicht in den Band mit aufgenommen; die äußerst kurze Charakteristik der Herausgeber im Klappentext ist hierfür nur ein schwacher Ersatz. Dass im übrigen Hans-Martin Lohmann, der ehemalige wissenschaftliche Lektor und Redakteur der im gleichen Verlag erscheinenden Zeitschrift "Psyche", nun als Mitherausgeber eines Lacan- Bandes firmiert, aber als einziger keinen Beitrag beigesteuert hat und auch sonst nicht zu Wort kommt, ist nicht nur auffällig, sondern angesichts der wohl nur einigen "Eingeweihten" bekannten Hintergründe auch äußerst irritierend. Hier hätte man vielleicht den Mut haben sollen, einmal jene Aspekte eines in Deutschland nicht eben untypischen institutionellen Umgangs mit dem Lacanschen Werk zum Thema zu machen, die in diesem Zusammenhang eine wohl nicht ganz unwesentliche Rolle gespielt haben mögen.

Geteilter Meinung kann man auch über das den einzelnen Texten vorangestellte Siglenverzeichnis sein, das die für die Werke Freuds und die Schriften und Seminare Lacans mittlerweile üblichen Abkürzungen auflistet. Es ist zunächst einmal nicht vollständig, denn in den einzelnen Beiträgen werden weit mehr Titel zitiert, als im Siglenverzeichnis angegeben sind, und zwar sowohl unveröffentlichte als auch bereits veröffentlichte (abgesehen einmal davon, dass sich nicht jeder Autor an die Siglenvereinbarung hält). Entscheidend ist hier aber noch etwas anderes: Die Verdichtung der äußerst disparaten und aus ganz unterschiedlichen Werkphasen stammenden Texte Lacans unter der Sigle E (für Écrits) bzw. S (für die Schriften) und auch die Unterlassung der Hinzufügung der jeweiligen Jahreszahl zu den Seminarbänden täuscht eine systematische, atemporale Einheitlichkeit des Lacanschen Werks vor, die es im Grunde gar nicht gibt. Die bereits angedeutete Problematik eines globalen und an geltungstheoretischen Gesichtspunkten orientierten Zugangs zum Lacanschen Werk (vor allem in den Beiträgen von Widmer und Gondek) wird durch diese Form der Zitierung leider kaschiert und macht es in einzelnen Fällen unnötig schwer nachzuprüfen, welchen werkgeschichtlichen Status die einzelnen Aussagen haben.

Das von den Herausgebern und insbesondere von Hans-Dieter Gondek so vehement gefordert „solide Bescheidwissen“ über Lacan wird jedenfalls auch daran hängen, ob es der Lacan- Rezeption in Deutschland gelingen wird, diesem werkgeschichtlichen Aspekt mehr Beachtung zu schenken (so wie man das mittlerweile auch im Umgang mit den Freudschen Schriften gewohnt ist). Denn der beste Weg zum Lacanschen Werk besteht wahrscheinlich immer noch darin, sich im Durchgang durch die Texte – vom frühen zum späten Lacan – einen Überblick über die Genese dieses Werkes zu verschaffen – und eben damit den Wegen zu folgen, die der Meister selbst gegangen ist.


 


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