Unter dem Pflaster liegt der Strand

signifikanz - der rub in abneigung gewidmet - rudolf süsske 1980 Assoziationen zum Verhältnis von
Kunst und Gestaltungstherapie,
Bild, Sprache und Primärprozeß
*
Teil 2
Die Phantasie ist eine anarchische Kraft
Die Mechanik des Wunsches
Künstlerische Produktivität als Sublimierung
Zwischenspiel: "Atmen und Schreiben"
Kunst als Selbsttherapie
Was eine Kinderzeichnung verrät
Das Bild, das Malen und
der therapeutische Dialog
Literatur
 

Teil 1: A. "Von der Aufsässigkeit der Bilder"

bärtatzen
von
Rudolf Süsske

Der Titel dieser Assoziationen war ein Graffiti aus der Studentenrevolte in Paris, Mai '68. Der Spruch korrespondiert mit einem anderen; "Phantasie an die Macht". Phantasie, Kreativität, Spontaneität i.S. des Unbewußten zu wecken, birgt aber auch Gefahren, kann nicht unbesehen gefeiert werden - dies weiß nicht allein die klinische Erfahrung (Pat. M. s.Teil 1.) Auch die Fremdenfeindlichkeit, der Antisemitismus treten prima faci 'spontan' auf, wenngleich es ein Klima gibt, das sie 'hervorlockt', Interessen, die sie aufnehmen und anheizen. Das zeigt sich häufig, wenn nach Argumenten dieses Hasses gefragt wird; die Antworten sind stereotyp und widersinnig. Affekt und Argument passen nicht zusammen.
Also gilt es zu differenzieren: Regionen des Ubw, Formen der Kreativität und Phantasie zu unterscheiden - so wie es im Vortrag schon geschehen ist. Zu diesem Zweck unternehmen wir nun einige systematische sowie assoziative Gänge, die Fragen des Vortrags in eigener Verantwortung weiterspinnen. Einstimmend zwei Thesen zur
Phantasie & Kreativität, denen eine kleine theoriegeschichtliche Einlage zum ursprünglichen Begriff des Primärprozesses bei Freud folgen wird.

"Die Phantasie ist eine anarchische Kraft"

Sie schafft lebende Bilder. Je mehr sie von fixierten, toten, identischen Bildern umzingelt ist, desto mehr wird sie notwendigerweise destruktiv: sie muß, um als Phantasie zu überleben, die kollektiven Stereotype, die sie einengen, zertrümmern. Der gesellschaftliche Mechanismus besteht übrigens darin, daß die aus diesem produktiven Zerstörungsprozeß neugeschaffenen lebenden Bilder ihrerseits vom Kollektiv getötet, kanonisiert, fixiert werden, ewiger Wettlauf der lebenden Phantasie mit dem sie verfolgenden Bild. Nur das bilderschaffende Vermögen vermag auch die fixierten Bilder wieder aufzulösen." (Elisabeth Lenk, l 983, S.60)
Wir kennen das alle: die Werbung greift die absurdesten Phantasien auf, was vor 50 Jahren eine Revolution in der Malerei war, begegnet uns heute als Tapeten- oder Teppichmuster. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Phantasieren, nicht auf dem Phantasie-Bild -eine Unterscheidung, die uns hier nicht fremd ist - sowie der Differenz von kollektiven, toten, z.T. sicher auch unbewußten Bildern und dem 'lebendigen Bild-en'. Von infantilen Wünschen, die nach Wiederherstellung der "Wahrnehmungsidentität" drängen, ist nicht die Rede. Die Phantasie stammt sicherlich aus der Kindheit und weist auf diese - mitunter drängend - zurück, aber in ihrer vollen Gestalt bleibt sie nicht kindlich. Sie wird ebenfalls erwachsen, dh. erfahrungsgesättigt, in ihrer ordnungszerstörenden Kraft deutet sie nicht so sehr auf einen Mangel (i.S. von Bedürfnisbefriedigung) hin, sondern verweist auf einen potentiell unendlichen Überschuß.
Das Kreative ist kein positiver Wert an sich. Auch die planende, kategorisierende Verstandestätigkeit zeigt sich schöpferisch und erfindungsreich. Sie erweist sich gerade darin autonom, kenntnisreich, zweckrational & strategisch die Mittel ihrer Zwecksetzungen einzusetzen. Das ist die "List der Vernunft", die sich nicht auf das Spiel mit dem Eigensinn der Welt einzulassen vermag. (Spiel hier ohne harmonisierenden Beiklang gemeint.) Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf den "göttlichen Handwerker" (D
emiurgen) zu beziehen, scheint mir auch theologisch fragwürdig.


Die Mechanik des Wunsches


Freuds Interesse für die Psychopathologie seiner Zeit, die Träume und Fehlleistungen, den Wahn, scheint nur eine Fortsetzung der romantischen Naturphilosophie des 19.Jh. zu sein. Originäre Quellen sind aber Herbart, Fechner, Meynert - 'fortschrittliche Naturwissenschaftler‘ - aber auch die Philosophen F.Brentano und Kant. Das Unbewußte war ihm "das eigentlich Reale, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane" (1900, S.580). Die Traumdeutung von 1900 muß in ihren wesentlichen Thesen als Freuds eigene Leistung anerkannt werden. Er wußte dies selbst und bemerkte mit Stolz einmal seinem Freund Fließ gegenüber:
"Ich habe in die Literatur hineingeblickt und komme mir vor wie das keltische Zaubermännchen 'Ach wie bin ich froh, daß es niemand, niemand weiß'. Niemand hat eine Ahnung, daß der Traum kein Unsinn ist, sondern eine Wunscherfüllung" (Brief v.16.5.1897).

Der manifeste, 'verrückte' Traum ist Ergebnis einer (zensierenden) Bearbeitung, die ihre eigenen Formgesetze hat (z.B. Verdichtung und Verschiebung). Die wichtigste, deutend zu rekonstuierende Quelle ist der latente Traumgedanke aus der infantilen Szenerie. Im VII. Kapitel des Werkes ändert sich dann schlagartig die Terminologie. Von Energien ist die Rede, von einer Topographie des "psychischen Apparates" (Systeme des Unbewußten, Vorbewußten, Wahrnehmungsbewußtsein) und von den Funktionen des Primär- und Sekundärvorgangs.

Generell gilt für diesen Apparat die Tendenz, psychische Energie unmittelbar und vollständig abzuführen, er funktioniert nach dem Prinzip der Unlustvermeidung und jede Spannung bedeutet Unlust. Die seelische Energie entsteht aus der Triebregung und treibt zum Handeln an ( = Abströmen der Energie). Sie besetzt Erlebnisse In der frühen Kindheit, es werden innerpsychisch "Repräsentanzen" gebildet, die sich in einen Vorstellungs- und einen Affektanteil gliedern, dh. Sinn und Kraft (Energie) zusammenstellen.

"Letztes Ziel der vom Primärvorgang gesteuerten Tendenz sind nach Freud eine Reihe von Wahrnehmungen, die mit früheren, von lustvoller Befriedigung begleiteten Sinnesempfindungen Identisch sind." Das Erreichen einer derartigen Wahrnehmungsidentität stellt "das Äquivalent für eine vollständige oder massive Abfuhr von Triebbesetzungen" dar. Im System Ubw herrscht das Lustprinzip, dh. alle Objekte/Vorstellungen, die zur Abfuhr geeignet sind, werden in Anspruch genommen, ohne Rücksicht auf Realität und Moral. Diese hohe Beweglichkeit der Besetzungsenergie zeigt sich z.B. in den Traummechanismen der "Verschiebung" und "Verdichtung". Mit anderen Tätigkeiten, wie z.B. dem Denken, ist eine weniger eindrucksvolle Abfuhr von Triebspannungen verbunden" (Denkidentität). "Grundlegend charakteristisch für den Sekundärvorgang ist die Stabilität der Besetzungsenergien". Diese sind "insofern gebunden, als sie mit fixierten und gleichbleibenden Wort- und Objektvorstellungen verknüpft werden. Ein Wort oder Objekt kann nicht ohne weiteres durch ein anderes ersetzt, noch kann ein Teil eines Objekts verwendet werden, um das Ganze zu repräsentieren" (Arlow/Brenner, 1976, S.73ff). Die versprachlichte Welt bekommt so einen festen Bezugsrahmen, Logik und Kausalität, Widerspruchsfreiheit und ein realistisches Verhältnis zu Zeit werden denkbar.
Für uns wesentlich ist, daß Freud in dieser Zeit Primärvorgang und halluziniertes Traum-"bild" fest verband und die Sprache ganz dem System Vbw und Wbw - dem Bewußtsein - zuordnete. Hier kamen ihm aber bereits 1915 ("Das Unbewußte") Zweifel:

"Unter den Abkömmlingen der ubw Triebregungen (...) gibt es welche, die entgegengesetzte Bestimmungen in sich vereinigen. Sie sind einerseits hochorganisiert, widerspruchsfrei, haben allen Erwerb des Systems Bw verwertet und würden sich für unser Urteil von den Bildungen dieses Systems kaum unterscheiden. Anderseits sind sie unbewußt und unfähig, bewußt zu werden ... Solcher Art sind die Phantasiebildungen der Normalen wie der Neurotiker". Erst in "Das Ich und das Es" (1923) konnte er diese Beobachtungen konsequent in seine Strukturtheorie ( mit den Instanzen: Ich, Es und Über-Ich) einfügen.
Sprache kann täuschen, ideologisch sein, über die Dinge springen, aber sie kann auch gerade selbst-täuschend arbeiten. Besonders (auto)-aggressive Tendenzen können sich sachlichster Rationalität bedienen. Manche Depressive kleiden ihre Schuldbekenntnisse in sprachlich hochstufige theologische Reflexionen. Das Über-Ich, psychogenetisch eine späte Instanz - lange nach der Spracheinführung - steht in seinem Funktionieren dem Es aber näher als dem Ich.

Bewußtes Denken und Sprechen ist synonym mit Sekundärvorgang, so wahrscheinlich auch ein nach festen Regeln durchkomponiertes und durchdachtes Bild, aber zumeist sind beide Bereiche primär- und sekundärprozeßhaft durchwirkt. Es böte sich jetzt an, die Geschichte dieses Begriffspaar über Freud hinaus in der Ich-Psychologie (Hartmann, Rapaport u.a.) weiter zu verfolgen, aber wir stießen in der metapsychologischen Fassung auf keine wesentliche Veränderung: immer sind Primär- und Sekundärprozeß (besetzungs)- energetische Begriffe, auch wenn sich der übrige Rahmen (Ich-Energie, Autonomiekonzept u.a.) wandelt. Ob sie den Begriff des Primärprozesses verwenden oder nicht, wie verstehen diese Autoren die 'künstlerische Kreativität'?

Künstlerische Produktivität als Sublimierung

Es ist seit längerer Zeit Mode geworden, literarische Werke und einige der darstellenden Kunst wie 'Krankengeschichten' zu lesen. Dostojewskij wurde als Junge Zeuge der Ermordung seines Vaters, deshalb beschäftigte er sich mit "Schuld und Sühne"? Der Landvermesser erreicht nie das "Schloß" wie Franz Kafka nie die Liebe seines Vaters? Dies ist sicherlich zu einfach, wie auch psychoanalytische Interpreten zugeben.
Von 'teilweiser' Bestimmung, 'Faktor', 'Anstoß' ist dann die Rede. Das überschießende Moment wird aber schnell zum Nebensächlichen, wie der zufällige Tagesrest und der Traum als erlebte/erinnerte Gestalt bei der orthodoxen Traumdeutung. "Wie kunstvoll ein Schriftsteller dies auch verhüllen, wie hochdifferenziert er sich auch ausdrücken - und vor allem, was immer er bewußt für das Ziel seines Werkes halten mag: die Arbeit des Schriftsteller besteht stets darin, seinen Lesern seine Reaktionen auf die eigenen unbewußten Wünsche, das heißt seine Tagträume darzustellen. Als Mensch ist er gar nicht in der Lage, etwas anderes zutun." (Brenner, 1972, S.267). Alle Grundthemen der Literatur, Kunst, der Mythologie, Märchen und Legenden stammen aus den "Triebwünschen und -Konflikten der Kindheit".

 

Wir wollen dies in toto gar nicht in Abrede stellen, irritierend wirkt nur die selbstverständliche Sicherheit, mit der sich die Analytiker auf der richtigen Seite des "Realitätprinzips" wähnen. Freud entließ seine Patienten aus dem "neurotischen" in das allgemeingesellschaftliche Leid. Und es mag eine Form der Pathologie sein, dieses Leid nicht zu empfinden; Kierkegaard hat da den Analytikern einiges voraus. "Der Traum der Vernunft gebiert Gespenster" heißt ein Bild von Goya. Er meinte Aberglaube, Krieg und Inquisition und malte im Zeichen der Aufklärung. Die Betonung läge dann auf "Schlaf", aber mittlerweile stellt sich - gerade in diesem 20.Jh. - die Frage, ob es nicht die gegenwärtige Gestalt der "Vernunft" ist, die diese Monstren erzeugt.
Die Realität, an die sich der 'psychische Apparat' anpaßt, wäre dann das eigentlich Fragwürdige. Es geht hier nicht um eine "Ästhetisierung" des Wahnsinns, diese scheint mir nur das Komplement zur eingangs geschilderten Position.
Gehen wir einen Schritt zurück und hören zur Ergänzung hier noch einen vielbeachteten Autor aus der Ich-psychologischen Richtung (aber leider nur aus zweiter Hand):

"Kris (1952) beschrieb sehr schön die Fähigkeit kreativer Menschen, ihr Ich in das Es einzutauchen und es wieder auftauchen zu lassen und so, zwischen Nähe und Distanz zum Es oszillierend, das Es im Dienste des Ich zu gebrauchen. "Er äußerte die Annahme, kreative Menschen seien in der Lage, psychische Energie "auf mannigfaltige Weise aus dem tiefen Energiestrom des Es zu ziehen ...und in den Kanal kreativer Tätigkeit zu lenken" (E.Jacobson, 1978, S.92f).
Regression im Dienste des Ich (Kris) scheint mir der Kernsatz für diese Interpretation künstlerischer Produktivität, eine These, die angemessen, aber unterbestimmt ist, ihr progressives Moment unterschlägt.

Zwischenspiel: "Atmen und Schreiben"


 

In seiner Studie "Der geraubte Atem" (1991) geht F.-B. Michel der Lebens- und Werkgeschichte einiger französischer Schriftsteller nach, die unter Atemwegserkrankungen litten. Krankheit und Werk stehen in seiner Sicht nicht in einem Determinationsverhaltnis; als Leser öffnet mir der Blick in die Lebensgeschichte des Autors nur eine Sichtweise, die Hervorhebung eines Aspektes der Welt, deren Fülle an Motiven und Formen sich erst in der Auseinandersetzung mit dem selbständigen Stück Literatur erschließt.

"Freiheit ist ein Gefühl. Das atmet man". Dies schrieb Paul Valery zur Befreiung von Paris 1944. Die Metapher ist bei ihm überdeterminiert, dh. schon immer bedeutete für ihn Atmen Leben. Valery ist jemand, der stets hustet, zu diesem Husten ein priviligiertes Verhältnis hatte. Dabei rauchte er:
"Was habe ich heute morgen getan? Zwei Seiten Notizen. Der Geist hat mich zwischen zwei Zigaretten besucht." Husten: "Das ist zu Anfang ein unmerkliches ringförmiges Kitzeln dort, wo die Kehle sich verengt.... Dieser juckende Ring muß gekratzt werden -an einem Punkt, der für die Finger tabu ist."
Kaum jemand hat das anschaulicher beschrieben. Husten sei - so Valery - "Abbild (oder vielmehr eine andere Form) der psychischen Phänomene von Unruhe und der in die Enge getriebenen Phantasie... Das ist dumm wie Bohnenstroh. Wie das Leben, der Tod" (s.Michel, S.37ff). Die Enge der Angst begleitet ihn sein ganzes Leben. Mit drei Jahren ertrinkt er fast in einem Schwanensee; zudem stirbt sein 'geistiger Vater‘ Mallarme an einem Stimmritzenkrampf. Das Ringen um Atem, die Angst vorm Ertrinken/ Ersticken, Schwäne werden zu Motiven seiner Dichtung, doch so, daß sie nicht nur auf die Geschichte des Autors rückverweisen, sondern unseren Sinn - den des Lesers - für Erfahrungen öffnen, die wir ansatzweise selbst durchlebten, für die wir aber nie einen Ausdruck fanden.
"Ängstlich um Azur ringend, von Ruhmsucht verzehrt, Brust, Abgrund von Schatten mit Fleischesnüstern, Atme diesen Weihrauch aus Seelen und Rauchschwaden ein, Der aus der Stadt wie aus dem Meer aufsteigt!"
Die poetische, formgebende Verfremdung individueller Erfahrung bringt sie in das dialogische Zwischenreich, wo sich Exklusivität und öffentliche Teilhabe kreuzen.
Bei diesem Beispiel wird die Angst als Thema in eine dichterische Form gebracht, die als Form von der Angst nicht tangiert wird. Valery - dem viel an der Strenge der Sprache in Wort und Schrift lag - veröffentlichte nie die folgenden Zeilen, in denen das Thema die Form (am Schluß) aufreißt:
"Schrei, der all mein Fleisch durchdringt und seine ganze eigne Stimme sucht, wo ich zum ersten Mal zu schreien glaubte, als ob ich eine neue Stimme gebäre und ich erkannte meine Stimme es zerriß mich zum ersten Mal."
Eine andere Weise, Thema und Form aufeinander zu beziehen, entnehme ich einer Gedichtzeile von Jandl: "Der Mund ist ochen". Es heißt nicht "der Mund ist offen", wie es sprachlich korrekt wäre, aber was ist korrekt? Jandl bringt hier die phonetische Lautbildung beim Lesen - das Schließen des Mundes, um den f-Laut zu bilden - in Konflikt mit dem Bedeutungsgehalt der Zeile; ganz spielerisch schließt er die Kluft zwischen Vollzug und Reflexion, Dargestelltes und Darstellung.

Gedichte sind sicher eine besondere Weise, nicht nur etwas darzustellen, sondern oft mehr noch, die Sprache als Sprache zu thematisieren - Sprache ist ja das Medium, das sich selbst reflektieren, kommentieren kann. Poesie der Prosa gegenüberzustellen und erstere dem Bild und Primärprozeß näher zu rücken, verkennt vielleicht a) den hochartifiziellen Charakter vieler Gedichte und denkt zu sehr b) an das romantische Bild vom "Dichtergenie". Zudem c) differenziert sich Prosa in die Vielfalt von phantastischer, realistischer ua. Erzählung und der prosaischen Alltags- und Wissenschaftssprache. Jeweils neu gilt es zu unterscheiden, wo Primärprozeßhaftes, sofern wir diesen Begriff beibehalten wollen, sich zeigt:

1) in der Motivation, überhaupt zu schreiben;
2) in den Themen ,die ausgesucht werden;
3) in der Vehemenz, wie sie sich Ausdruck verschaffen;
4) in den Stilmitteln u.a.m.

Sodann müssen wir auch nochmals die doppelte Infantilität des primärprozeßhaften Denkens befragen: sie meint die kindliche Szenerie als Inhalts- und Themenebene, aber auch die Logik (oder gerade Un-logik) dieses Denkens. Vielleicht lassen sich die beiden Aspekte entkoppeln?

Für viele Künstler scheint mir der Rückgriff auf kindliche Ausdrucksformen (Alogik der Sprache oder Aufgabe der perspektivischen Malerei) nicht allein Regression, sondern eine Progression, die gerade durch die Analyse des verbindlich Geregelten, das was als 'Realität' gilt, hindurchgegangen ist. Die interessanteste, geschichtsphilosophische These vertrat hier sicher Heinrich v. Kleist in seinem "Marionettentheater". Dem können wir hier aber nicht nachgehen. Es ließe sich auch an Lewis Carroll - einen vortrefflichen Logiker - denken, dessen "Alice im Wunderland" weit 'aufsässigere' Bilder enthält als die bürgerlich domestizierte Märchensammlung der Gebrüder Grimm.

 

Kunst als Selbsttherapie

G.Benedetti berichtet von einer amerikanischen Untersuchung über zeitgenössische Autoren, die überdurchschnittlich an Depressionen mit Krankheitswert litten: Schreiben als Selbsttherapie, was das Werk aber nicht pathologisch machen muß.
Wechseln wir das Medium des Ausdrucks: Benedetti zitiert den Luzerner Maler Max von Moos, der zwischen seinen halluzinatorischen Einbrüchen surrealistische Bilder malte. "'Ich zeichne und male... was mir mein Unterbewußtes vorgaukelt. Das ist zunächst wirres Zeug. Wenn ich diese Prozedur hundert Male wiederhole, werden Gesetzmäßigkeiten sichtbar, und die Elaborate verlieren den privaten Charakter und spiegeln die Nöte der Zeit wider. Wenn ich nicht zeichnen und malen würde, wäre ich im Irrenhaus'" (Benedetti, 1992, S.3). Das "wirre Zeug" und das Andrängende in der Halluzinose sind dasselbe, aber "im schöpferischen Prozeß kann... das Ich die wirren Abläufe mitgestalten, so daß diese ihm als 'seine' Produkte erscheinen als Ergebnisse der eigenen Tätigkeit" (ebd.)

Ganz im Sinne der hier vertretenen These schreibt Benedetti im Folgenden: "Treten die Ungeheuer aus dem tätigen Ich hervor, so verfälschen sie die Realität nicht, sondern sie deuten sie. Die Realität wird als Not der Zeit gedeutet. Die Zeichnungen werden zu 'Warntafeln', die der Künstler für uns aufstellt". Paradoxerweise bringt der Künstler sein 'Projekt' in der Welt zur Anwesenheit, indem er sich in seinem Tun verliert. In der Komposition der Formen, dem Setzen der Farben vergißt der Maler - nach eigener Aussage - für die Dauer der Arbeit die Welt um sich herum (dh.Welt-Darstellung, die sich temporär einem Weltverlust verdankt).
Sublimation und
Projektion sind für Benedetti die Schlüsselbegriffe dieser schöpferischen Selbsttherapie. Eigene Ängste und Konflikte werden nach 'außen', auf die Leinwand projiziert: eine doppelsinnige Projektion (ursprüngl. Metapher der Optik und Abwehrmechanismus des Ichs). "Aber Projektion und Sublimation gelingen auch, weil der" Maler "mitten in der Arbeit an seinem Werk die unsichtbaren Zuschauer um sich spürt, die angesichts seines Werkes mitprojizieren, mitsublimieren und durch ihn, den Unfreien, befreit werden" (ebd.S.4).
Bewältigung des Leidens durch Projektion: als psychodynamische Aussage in sich deutlich, führt sie uns dennoch zur Frage der angemessenen Begrifflichkeit.

Anmerkung zum Projektionsbegriff

DürerDieser ist eine durchaus schillernde Gestalt. Er findet in der Neurologie seine Anwendung, wo ein bestimmtes Hirnareal die Projektion eines bestimmten somatischen Apparates - afferent oder efferent - darstellt. Ergebnis einer Projektion aus dem Zentrum in die Peripherie sei z.B. auch das Riecherlebnis in der Nase, obgleich die 'Reizverarbeitung' im Gehirn stattfindet. Vergessen wir nicht, Freud war von Hause aus Neurologe.
Bleibt der Begriff bislang auf Vorgänge innerhalb des Organismus beschränkt, so dient er anderen aber auch zur Erklärung der Beziehung von Organismus und Umwelt. Der Raum bzw. die räumliche Gegliedertheit unserer Welt z.B. wird so zu einer Projektion unseres Sinnesapparates, ähnlich ergeht es der Ding- und Menschenwelt überhaupt. Reize, Impressionen - meist physikalisch definiert - treffen unser Bewußtsein und dieses ent-wirft dann die Realität, wie wir sie alltäglich erleben. Die Verwendung des Begriffs 'Projektion' schwankt in ungeklärter Weise zwischen Empirie (Medizin, Biologie als experimentelle Wiss.) und transzendentalphilosophischer Begründung (dh. Aufweis der Grundbegriffe, die Erfahrung/Empirie erst ermöglichen). Das Fragwürdige daran ist die Aufspaltung in eine objektive physikalische und eine subjektive erlebte Welt, denn der physikalische Weltentwurf hat als seinem Ausgang und sein Anwendungsfeld unsere gemeinsam erfahrene Lebenswelt.

Der Schnitt mit dem Rasiermesser durch das Auge im Prolog von Bunuels und  Dalis Film <Un Chien Andalou>

Bei Freud kommt nun ein Drittes hinzu: Projektion trägt mitunter auch eine pathologisierende Bedeutung. Eigene unbewußte, aggressive 'Anteile' werden auf den Anderen projiziert, tragen zu einer Realitätsverfälschung bei.
Bei Benedetti spielen nur die letzten Bemerkungen in seine Verwendung des Projektions- begriffs hinein. Er gebraucht ihn:
a) als Wort für Weltentwurf/ -Interpretation überhaupt, was der Patient malt ist ja keine 'falsche' Realität, sondern ein Aspekt der Welt, für den uns der Künstler erst sehend macht.
b) Sodann meint er schon einen Abwehrmodus des Ichs, das Andrängende der Angst in eine Gestalt zu bringen.
c) Zudem beschreibt Projektion auch - fast wörtlich - das Hinauswerfen 'innerer Bilder' auf eine Leinwand.
Immerhin konfrontiert uns Benedetti mit den Ausdrucksgestaltungen so, daß diese nicht nur diagnostischen Wert in Hinblick auf die Patienten haben, sondern mitunter gegenwarts- diagnostischen Charakter tragen. Wir verkennen dabei nicht die Bemerkung, der Patient sei der Unfreie (Patient = Leidender), aber sicherlich sind manchesmal auch wir es, die unfrei der Verleugnung und Rationalisierung erliegen. Die Sicherheit auf der richtigen Seite
des 'Realitätsprinzips' zu stehen, übersieht vielleicht, daß Realitäts-Prinzip uns nicht ineins sagt, wie wir die Realität auszulegen haben.

Was eine Kinderzeichnung verrät

Die neue Überschrift scheint nur einen thematischen Bruch zu kennzeichnen. Kinderzeichnungen sind zwar kreativ, aber unrealistisch. Kinder malen die Welt nicht, so wie sie ist. Merkwürdigerweise finden wir aber Elemente dieser Darstellungen in der modernen Malerei wieder. Biedere Museumsbesucher stehen vor einem Bild und meinen: 'das kann meine Tochter auch!'
E.Schiffer rückte in seinen Ausführungen zur 'Aufsässigkeit der Bilder'
(s. Teil 1), beides in die Nähe des Primärprozesses als Ausdruck individueller Kreativität. Die Kinderzeichnungen gewannen dabei exemplarischen Charakter.

Anfänge der Kinderzeichnung: Kritzelzeichnungen, darunter Rundkritzeln, Schreibkritzeln, Kreuzform. Aus H Daucher, Künstlerisches und ratio-nalisiertes Sehen. München 1967, S 119

Die ersten Kritzeleien eines Kindes - ich folge hier den Ausführungen von M.Karlson (1987) - entstehen häufig aus der Nachahmung von Schreibewegungen. Zuerst ist es die Lust an der Bewegung, grobkoordiniertes Gekritzel (Kreisformen) mit dem Stift auf relativ kleiner Fläche. Es entsteht eine dunkle Stelle, die die visuelle Aufmerksamkeit an sich zieht. Kontraste werden hervorgebracht, wobei der sensorisch-motorische Bewegungs- eindruck vorherrscht. Das Auge folgt der Hand und ihrem Spiel. Die Bewegung weiß sich noch nicht dem 'kontrollierenden Blick' untertan. Bald wandeln sich die Kritzel- bewegungen in gerichtete Ortsveränderungen: "'Die sinnlich, lustbetonten Kurven der frühen ...Stufe werden seltener und abgelöst von harten Geraden, die entschieden von hier dorthin wollen' (Daucher). Die Bewegung des Zeichenstifts auf der Ebene des Papiers ist nun den Bewegungen des Kindes im Raum, seinem Krabbeln und Gehen ... vergleichbar.

Den Zeichnungen kommt bislang keine darstellende i.S. abbildender Funktion zu. Die Bilder verkörpern eher Spuren als Bedeutungen. Wenn die Kritzeleien mehr als sich selbst oder die Spuren des senso-motorischen Selbstausdrucks vorstellen, dh. etwas 'bedeuten' (Bedeutung haben & auf etwas anderes hindeuten), müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: "Zum einen ein Verständnis symbolischer Beziehungen (die Dinge haben einen Namen, ein Name steht für verschiedene Dinge, ein Ding steht für ein anderes etc.), zum anderen die Tendenz des Auges, wahrgenommene Zeichen und Formen willkürlich zusammenfassen und zu vertrauten Gestalten zu ordnen" (ebd.S.335).
Z.B. ein Junge von gut zwei Jahren malte eine Schlangenlinie und rief plötzlich freudig aus: 'Puff, puff!' (d.i. Rauch), mit weiteren Ringeln ergänzte er die erste spontane Schöpfung.
Es ist die Zeit, wo Gegenstände eine Vielzahl von bedeutungshaften Verweisungen zeigen: der Bauklotz wird zum Auto, zum Schiff; dem Anblick der Aktentasche folgt der Ausruf 'Papa'! Von hier ab beginnt der Streit zwischen sinnlich-leiblicher Ausdrucksgebärde und kontrolliertem Einsatz der Motorik zur Abbildung der erlebten Welt. Im Zeichnen wird das Bild benannt und mittels weiterer Zeichen ergänzt, um das Genannte deutlicher zu machen. Worte, Namen müssen aber in dieser Zeit noch 'szenisch' verstanden werden, sie sind noch keine Symbole für Isolierte Objekte; die visuell-perspektivische Sicht bestimmt nicht ausschließlich die Realitätsangemessenheit. Zudem sind Affekt/Stimmung und Objektwelt kaum nach 'innen' und 'außen' differenziert - dieser Gesichtspunkt fehlt bei Karlson weitgehend. Er betont einen anderen Aspekt:
"Die Grundformen des Kritzelns werden ikonographisch verwendet: abgeschlossene Formen ..als räumliche Einheiten, meist als (menschliche) Körper aufgefaßt, Striche verweisen auf Bewegung. Durch Einfügen weiterer Zeichen in die Rundform wird diese der Gesichtsgestalt ähnlich. Die so entstehenden 'Kopffüßler' sind also sich bewegende, gestalthafte Körper; auf die Frage nach dem Bauch deutet das Kind in die Kreisform.... Die Vielfalt verfeinerter Schemata erlaubt allmählich, der Zeichnung typisierende Details hinzuzufügen, um z.B. Personen durch Attribute näher zu bestimmen:.. ein Mann mit Brille = Lehrer, ein Mann mit Hut = Nachbar usf." (ebd.S.337).

Entwicklung der Menschendarstellung. a nachträglich als >Mutta< benanntes Kritzelzeichen; b-d Kopffüßler; in e sind die Beine einem Rumpfzeichen angefügt, allerdings fehlt die Gesichtsgestalt; in f ist die Nase außen der Gesichtsform angesetzt, in ihr sind die Zeichen für Augen und Mund. Die Zahlen sind Altersangaben in Jahren und Monaten. Aus: H. Meyers, Die Welt der kindlichen Bildnerei. Witten 1957, S.51f.

Das Kind bringt in starkem Maße auch die nicht-visuellen Qualitäten ins Bild, z.B. das Tastbare, Feste, das durch dicke und dunkle Konturen verdeutlicht wird. Die Proportionen entsprechen nicht den meßbaren Größenverhältnissen, sondern ihrer (gefühlshaften) Bedeutung - Wichtiges muß groß und im Zentrum dargestellt werden. Das Kind will mit den Zeichnungen sich verständlich machen, es fügt dazu Details an, die aus der erinnerten (und phantasierten!) sinnlich-leiblichen Erfahrung mit dem Gegenstand stammen. Es erzählt eigentlich eine 'Geschichte' mit dem Bild - ganz im Gegensatz zum Augenblicksdokument eines Photos (obgleich wir auch bei guten Photos Geschichten zu erzählen vermögen, aber nur dann, wenn diese auch einen erinnerungs- und erfahrungsversammelnden Charakter tragen).
"Das Kind betrachtet und betastet in der Erinnerung die Gegenstände von allen Seiten und 'erzählt' in der Zeichnung seine Kenntnisse, wenn es z.B. der Ladefläche eines Marktkarrens vier liegende Speichenräder anfügt, oder zwischen einem Tisch und der darauf stehenden Vase deren Form durch mehrere Kreise zeigt" (ebd.).

Karlson weist noch darauf hin, daß das Kind wie der Künstler einen Kompromiß herstellen muß zwischen bildnerischem Ausdruck und Darstellungsabsicht. 'Ausdruck' meint dabei doch wohl: subjektiv- bedeutsam und 'Darstellung': die eines objektiv Dargestellten bzw. Abbildbaren. Aber was zeigt uns der Marktkarren?
Nicht zwei Räder, wie in der perspektivischen Seitenansicht, sondern vier, die er selbst hat und die sich im Herumgehen zeigen. Damit wird die Zeichnung dem Karren gerechter als die perspektivische Seitenansicht, die eine für den 'rationalen Blick' ist, der nach festen Regeln sich den Rest des Karrens hinzudenken kann.

Detailbezeichnung in der Gegenstandsdarstellung. a Marktkarren mit Äpfeln; b Tisch mit runder Vase. Zeichn. 5 1/2 jähriger Kinder.
Aus: Bareis, Vom Kritzeln zum Zeichnen und Malen. Donauw. 1972, S.30

Dieser fertigt verschiedene Ansichten an, um den Gegenstand vollständig zu haben, wirklich 'ganz' hat er ihn aber erst im Bauplan. Doch im Plan entschwindet ihm zugleich der Karren, wie er vor ihm steht - das Kind hat in Annäherung beides. Genauer: die Kinderzeichnung ist nicht linearperspektivisch (sogenannte 'realistische' Zeichnung), aber auch nicht perspektivfrei wie der Plan, der weniger ein Bild als eine Idee ist. Das Kind malt poly-perspektivisch: es bringt in das Bild, das hier und jetzt vor uns liegt, die Zeit des Herumgehens, Erfahrens mit hinein; aber indem es dies im zeitlosen Bild versammelt, zeigt es uns - ohne selbst darum zu wissen - der Karren hat seine vier Räder als er selbst, unabhängig von der zeitlich strukturierten Erfahrbarkeit.

Das Kind läßt sich noch von der Welt anmuten, sofern es die Gelegenheit dazu hat. Wir begreifen die Dinge erst, wenn wir wissen, wie sie (potentiell) herstellbar sind; denken, wir wüßten was Natur ist, wenn wir den 'genetischen Code' entschlüsselt haben. Aber die Natur und die Dinge haben eine Rückseite, die sich unzivilisierbar, dem kategorisierenden Verstand entzieht. Dem Ausdruck zu verleihen, vesuchten Maler wie Cézanne. Sie malen nicht das Unsichtbare eines Innenlebens, sondern den Widerstreit in den Dingen selbst, obgleich dieser durch sie - durch ihre leibliche Existenz - hindurchgegangen ist.

 

"Die Dinge sind da, nicht mehr nur wie in der Perspektive der Renaissance nach ihrem projektiven Augenschein und den Erfordernissen des Panoramas, sondern im Gegenteil aufrecht, eindringlich, mit ihren Kanten den Blick verletzend, jedes eine absolute Gegenwart beanspruchend, die mit der der anderen unvereinbar ist und die sie dennoch alle gemeinsam haben kraft eines Gestaltungssinnes, von dem der 'theoretische Sinn' uns keine Idee vermittelt". Maurice Merleau-Ponty

Diese Überlegungen haben sich weit von den anfänglichen Betrachtungen zum Verhältnis von Gestaltungstherapie und Kunst wegbewegt, letztere gerade in der Hinsicht herausgestellt, in der sie sich von den schöpferischen Arbeiten der Patienten unterscheidet.
Jedoch lassen sich auch Bilder von Cezanne nicht einfach mit denen von Francis Bacon vergleichen. Der Vergleich mit den Kinderzeichnungen macht Kinder nicht zu Künstlern oder umgekehrt. Ein Kind vermag die linearperspektivische Darstellung nicht hervorzubringen, auch wenn es dies gern möchte, es ist von seiner Entwicklung her nicht frei dazu. Ein
Maler kann so malen, aber er setzt sich über diese Normierung der Erfahrung hinweg bzw. 'sein' Erleben drängt ihn zu deren Überschreitung.

 

Das Bild, das Malen und
der therapeutische Dialog

Wenn Patienten malen und zeichnen, so oftmals das erste mal seit Jahren und z.T. mit einem gewissen Unbehagen, nicht 'richtig' zeichnen zu können. Sie messen sich dabei an den ihnen vertrauten ästhetischen Standards. Im begleiteten Vollzug gewinnen sie jedoch bald Selbstvertrauen, sie vergessen die ästhetischen Konventionen, weil die Sache selbst und der Prozeß der Gestaltung wichtiger werden. Ein weiterer Punkt spielt hier noch hinein: Die 'Regeln' der Bildgestaltung haben nicht den verbindlichen Charakter wie die der Sprache, so muß das Bild - nach der Eingangsphase - nicht so kontrolliert werden. Unbewußte und vorbewußte Elemente scheinen im Gemalten eher durch, sprachliche Fehlleistungen, Differenz von Wort und Mimik haben es da schon schwerer.
Die (wieder)-erweckte offene oder verhaltene Freude am Gestalten macht auch Mut zum Experimentieren; welcher Patient experimentiert schon mit der Sprache, schreibt Geschichten o.ä. Einen Lebenslauf zu schreiben, macht ja schon große Mühe, sicherlich auch, weil das Bild des geschriebenen Textes als Bild nicht die sinnliche Präsenz und Anmutung hat wie ein gemaltes Bild.
Im Vortrag
(Teil 1) wurde die These geäußert, Bilder seien gegenüber der Sprache individueller. Begrenzen wir sie auf Patientenbilder, so fragt es sich, was meint 'individuell'?
Dazu müßte man das Malen erst einmal auseinanderlegen in Motive, Stil, Material, Prozeß (Akt) und Situation sowie deren freie Auswahl bzw. Vorgegebenheit. Dazu können unsere GestaltungstherapeutInnen sicher Genaueres vortragen. Es ist ja ein Unterschied, ob in der Absicht, die synästhetische Erfahrungswelt zu fördern, mit Material experimentiert oder mit Händen und Füßen gemalt wird, vielleicht noch in der Gruppe - oder, ob ein Therapeut dazu anregt, einen angstvollfremden Traum aufzuzeichnen. Im ersten Fall bestünde die 'Aufsässigkeit' des Bilde(n)s - z.B. für einen zwanghaften Patienten - schon darin, sich den Bewegungsimpulsen, dem Eigensinn des Materials (Kleister und Fingerfarben) und dem Zusammenspiel in der Gruppe hinzugeben. Bilder, die über das situative Aktionsmoment - an das sich aber durchaus reflexive Prozesse anschließen können - hinausgehen, (be) deuten auf etwas hin: auf einen Traum, Erinnerungen, Stimmungen und Phantasien des Bedrohlichen oder Hoffnungsvollen. Viele Zeichnungen sind symbolisch, d.h. hier; Bilder in einem doppelten Sinne.
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Abb. 8   Abb. 9


(Abb.8 malte ein Patient am Tag seines Suizids. "Es zeigt rechts unten, im Bereich des Hier und Jetzt und der Muttersymbolik, eine Spinne, die ausweglos in ihrem Netz gefangen ist. Darüber im rationalen Bereich eine Stadt, die der Patient als Illusion bezeichnete."
Abb.9 gemalt von einer Patientin kurz vor der Entlassung: "links von der Bildmitte ein breiter, grüner Weg, der aus dem Fluß aufzusteigen scheint und direkt in den Himmel führt."
H.Junge, 1990, S.737)

Auf dem Blatt Papier stehen Metaphern in einer Konstellation: die 'Spinne' für das Bedrohliche; die 'Sonne' verkörpert erlebte oder erhoffte gute Zeit; der 'grüne Weg' vom Fluß in den Himmel steht für den Fortschritt in der eigenen Entwicklung. Auch Farben und Formen - wenn sie selbst die Darstellung bestimmen - tragen symbolischen Charakter. In ihrem Bedeutungskern sind sie gerade nicht individuell, es sind kollektiv geteilte Interpretations- muster, was aber nicht heißen muß, sie seien als 'archetypische Urbilder' in einem kollektiven (anonymen) Unbewußten hinterlegt. Nüchtern gesprochen, deuten sie eher auf eine stereotypisierte Erfahrung. Das Individuelle liegt in der je besonderen Form, d.h. wie die Muster angeeignet und dargestellt werden. Z.B. ein 'Käfig': Kernbedeutung scheint ja wohl Unfreiheit, Gefangenschaft, Enge; vielleicht auch fragwürdige Sicherheit.
Individuell sind die Nuancierungen, wie viele Stäbe, wie dick sind sie; der Käfig als Gitterkiste oder 'goldener Käfig. Zudem werden Symbole kombiniert, nur in Teilen aufgenommen und abgewandelt. Die Auswahl, Kombination und der Stil der Hervorbringung im Prozeß des Gestaltens sind Kriterien des Individuellen bei der Verwendung auch fremdbestimmter Vorlagen. Die 'Aufsässigkeit' läge dann in der produktiven Deformation der vormals verbindlichen kollektiven Muster. Die inneren Bilder sind nur in beschränkter Weise 'ursprünglich eigene'. Sobald sich Erinnerungen und Phantasien Ausdruck verschaffen - für sich selbst oder dialogisch, sprachlich oder gestalterisch - greifen sie zu Darstellungsmustern, die nie ganz die eigenen sind. Im Erleben gibt es aber den Eindruck des Stimmigen oder Inkongruenten, der zur weiteren Darstellung motiviert. Das Allgemeine und das Individuelle stehen sich nicht gegenüber, sondern die unverwechselbare, eigene, private Erfahrung wird - in immer neuen Anläufen - eingekreist. Dieses Phänomen sollte keinesfalls als Manko verstanden werden, ganz im Gegenteil: es ist der Ermöglichungsgrund für ein dialogisches Verständnis.
Um die Individualität des Anderen zu verstehen, sogar therapeutisch über sein Selbstverständnis hinaus, partizipieren wir beide an einem Gemeinsamen (gesprochenes Wort, gemaltes Bild), das wir in einem Vor-Urteil immer schon verstanden haben. Im Fortgang des Interpretierens, Phantasierens und Deutens - stumm oder als Äußerung - wandelt sich das Vorverständnis in eine stimmige, kongruente Interpretation. Keiner hat diese für sich, sie entsteht im "Zwischenreich des Dialogs" (Waldenfels), mitunter mit Rückschlägen, Widerständen und Mißverständnissen. Auch die typischten Bildmotive müssen auf ihr Bedeutungs-Feld hin befragt werden.
Benedetti spricht von der "introjektiven Kompetenz" des Bildes, d.h. "dessen Fähigkeit, sich als Projektions-objekt für den Therapeuten zu eignen. Wir projizieren auf das Bild des Patienten unsere Liebe für ihn, unsere... Erschütterung, Ergriffenheit, auch unser eigenes Leiden." (1992, S.5ff) Der unbewußt durchstimmte gestalterische Ausdruck erfährt vom Therapeuten eine Deutung aufgrund eigener phantasierender Aneignung, die aber nichts wegnimmt, sondern dem Patienten zuträgt. über das Angesprochensein seitens des Therapeuten kehrt das Bild und sein - nunmehr deutlicher gewordener - Sinn zum Patienten zurück. Die Deutung, so Benedetti, kann dabei selbst graphisch sein, der Therapeut wird zum "Mitkünstler". Er arbeitet auch hier 'spiegelnd', indem er die im Bild vorhandenen, positiven Möglichkeiten weiteroder ausmalt. Um den Patienten nicht zu enteignen und den Fortschritt auch dokumentieren zu können, paust er das Krankenbild ab und gestaltet es fort.
Es ließen sich auch noch andere Möglichkeiten denken; auf jeden Fall muß Malen oder Zeichnen für den Therapeuten selbst ein Darstellungsmedium sein, als bloße Technik angewandt, gefährdet es nicht nur die Beziehung, sondern entwertet eventuell auch die Gestaltungsarbeit des Patienten.
Bilder haben in ihrer materiellen Gestalt, den Vorteil zu dauern. Das gesprochene Wort muß eigens, aufgrund seiner Flüchtigkeit, erinnert werden. Beim sichtbaren Wort - dem geschriebenen Text - finden wir bei unseren Patienten kaum Schöpfungen, die der Bedeutungsfülle ihrer Bilder standhalten. Ebensowenig gibt es nur wenige Erzählungen oder Texte, in denen sich herumwandern läßt wie in einem Bild, Sprach- und Bildlogik weisen - in unserem Alltag - eben einen unterschiedlichen Grad von Strenge auf.

Wir beschließen hier unseren Text, wohlwissend, daß vieles unklar bleibt, etliches gar keine Erwähnung fand.
Mit keinem Wort haben wir z.B. auf D.C.Winnicott Bezug genommen, dies aber gerade, weil er zu wichtig ist. Ihm gebührte eine eigene kleine Abhandlung. Im Strand unter dem Pflaster finden sich viele Ideen. Hier wurde nur versucht, in Anregung durch den Vortrag 'von der Aufsässigkeit der Bilder', einige Fragen zu stellen und Interpretations- linien auszumal
en.

 

Literatur

Arlow, J.A./ C.Brenner (1976); Grundbegriffe der Psychoanalyse, Reinbek

Bader, A. (1974): Die Beziehung zur Umwelt in den Bildern Schizophrener, in: Broekman/ Hofer (Hg.): Die Wirklichkeit des Unverständlichen, Den Haag 1974, S.228-240

Barthes, R. (1980): Lecon/Lektion, Frankf./M.

Benedetti, G. (1992): Schöpferische unbewußte Fähigkeit der Bewältigung des Leidens - der Patient als Künstler, Vortragstext Köln (s.Petersen)

Brenner, C. (1972): Grundzüge der Psychoanalyse, Frankf./M.

Freud, S. (1900): Die Traumdeutung, St.Ausg., Bd.2. Frankf./M.

Heise, J. (1989): Traumdiskurse, Frankf./M.

Jacobson, E. (1978): Das Selbst und die Welt der Objekte, Fnm

Junge, H. (1990): Maltherapie bei psychiatrischen und psychosomatischen Krankheiten, DKZ 10/90, S.733-738

Karlson, M. (1987): Spuren des Sinnlichen, in: J.Belgrad u.a.(Hg) Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung»Frank./M., S.331-346

Kuiper, P.C. (199l): Seelenfinsternis, Frankf./M.

Lenk, E. (1983): Die unbewußte Gesellschaft, Münch.

Merleau-Ponty, M. (1967): Das Auge und der Geist, Hamb.

Michel, F.-B. (1991): Der geraubte Atem, Zürich

Petersen, P. (1992): Von der Notwendigkeit der Kunst in der Medizin, Vortragstext, Köln: 'Therapie als Kunst - Kunst als Therapie'. XXI. Jahrestagung d.Dt.Ges.f.psychosom. Geburtshilfe und Gynäkologie, 1.-4.4.92


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A. "Von der Aufsässigkeit der Bilder"

rs@suesske.de © Entstanden im Rahmen der Weiterbildung in der Abt.
Psychotherapie/Psychosomatik (Christl. Krankenhaus Quakenbrück) Mai 1992
last updated 26.8.99


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