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Was meint Heinz Kohut, wenn er vom 'Selbst' spricht?

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Dipl.-Psych.
Rudolf Süsske



„Schuldig" und „tragisch":
die Doppelnatur des Menschen
Die Struktur des „Selbst"
Das „Selbst" und die Triebe
Vom virtuellen zum kohärenten Selbst
Leib, Selbst und Beginnlosigkeit
Anmerkungen
Literatur

Die folgenden Ausführungen dienen - mit allen exkursiven Randgängen - nur einer Frage: was meint Heinz Kohut, wenn er vom „Selbst" spricht? Es geht hier nicht in erster Linie um seinen Beitrag zur Narzißmusforschung (1971), ebensowenig um seine spezifischen therapeutischen Konzepte (Selbstobjekt- Übertragung u.ä.), sondern um seine anthropologisch-psychoanalytische Theorie des Selbst, in der die Grundbegrifflichkeit seines therapeutischen Vorgehens sowie seiner intellektuellen Ausflüge in Gesellschaft, Kunst und Geschichte hinterlegt ist.

Mit dem Titel Grundbegrifflichkeit deutet sich Kohuts Widerpart an: die Metapsychologie Sigmund Freuds. Dieser hatte zu jener ein leidenschaftliches und zugleich distanziertes Verhältnis. Wieder einmal beim Problem, wie das Ich die Triebe zu zähmen vermag, schrieb er 1937: „'So muß denn doch die Hexe dran’(1).Die Hexe Metapsychologie nämlich. Ohne metapsychologisches Spekulieren und Theoretisieren - beinahe hätte ich gesagt: Phantasieren - kommt man hier keinen Schritt weiter." (Freud, Erg.,365f)

Grundpfeiler und Stein des Anstoßes hierbei war die Triebtheorie. Das Ich - das Bewußtsein - ist nicht Herr im eigenen Hause. In immerwährenden Konflikten re-agiert es zwischen den Triebwünschen und den Widrigkeiten der äußeren naturalen bzw. kulturellen Realität. Für beide Bereiche gilt ein erkenntnistheoretischer Vorbehalt. In der „Traumdeutung" bemerkt Freud hierzu:

„Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane". (1900, 580)

Von daher rührt auch der Begriff des Objekts und des (Erkenntnis)-Subjekts als Korrelat: In diesem sind die Strukturen hinterlegt, die ein Objekt erst zum Objekt konstituieren. Doch sind es nicht mehr die Strukturen des Verstandes oder der Vernunft, die wesentlich sind, sondern die der Triebe. Die Quelle des Triebes - der psychologischen Erkenntnis versperrt - entspringt im gewachsenen Fels des Biologischen; sie drängt zum Ziel der Entspannung. Objekte existieren vornehmlich zur Befriedigung, dh. dienen der Spannungsabfuhr. Ihr Eigensinn und ihre Widerständigkeit sowie eine innere Logik der Triebentwicklung vertreiben den Menschen nicht nur aus dem ozeanischen Gefühl des selbstgenügsamen primären Narzißmus, führen somit zur Ausbildung erkenntnis- bzw. handlungsleitender Ichstrukturen, sondern treten ihm auch moralisch-normativ fordernd gegenüber. Die Triebe erleiden ein Schicksal, das auf dem steinigen Weg vom Autoerotismus zum Ödipuskonflikt die psychische Struktur von Es, Ich und Über-Ich entfaltet. Doch bleibt das Leben in der Realität von Natur und Kultur (Realitätsprinzip) immer den Anfeindungen eines anarchisch nach Lust strebenden Prinzips ausgesetzt. Psychoanalyse gilt bekanntermaßen der Einschränkung der Wirkmächtigkeit dieses Prinzips: „Wo Es war, soll Ich werden".

„Schuldig" und „tragisch": die Doppelnatur des Menschen

Kohut lehnt dieses strukturelle Modell der Psyche nicht ab. Der „Mensch lebt innerhalb des Lustprinzips; er versucht, seine lustsuchenden Triebe zu befriedigen, die Spannungen zu mildern, die in seinen erogenen Zonen entstehen. Die Tatsache, daß der Mensch nicht nur wegen des Drucks seiner Umgebung, sondern vor allem infolge innerer Konflikte oft unfähig ist, seine Ziele auf diesem Gebiet zu erreichen, veranlaßten mich" - schreibt Kohut - „ihn als Schuldigen Menschen zu bezeichnen, wenn er in diesem Zusammenhang gesehen wird". (1977, 120) Hier liegt das Feld der klassischen Psychoanalyse, der strukturellen Neurosen und ihrer Therapie.

Doch der Mensch lebt nicht nur in einer Welt neurotischer Konflikte oder - im günstigsten Fall - triebsublimierter Kreativität. Es gibt in ihm ein primäres Zentrum von Spontaneität, ein „Leben jenseits des Lustprinzips", das nach Selbstausdruck strebt. (vgl. 1975, 269ff; 1977, 120f) Kohut spricht von „der Verwirklichung des in seinem (des Menschen - RS.) Kern-Selbst hinterlegten (Lebens)-Entwurfes durch seine Taten". „Hier veranlaßte mich" - so Kohut - „die unleugbare Tatsache, daß Niederlagen des Menschen häufiger sind als seine Erfolge, diesen Aspekt des Menschen negativ als Tragischen Menschen zu bezeichnen statt als 'sich ausdrückenden' oder 'kreativen Menschen'." (1977, 120f)

Das in seinem Selbst-Ausdruck blockierte Individuum erlebt sich beeinträchtigt, den Spannungsbogen von grundlegenden Strebungen (Ambitionen) zu grundlegenden Idealen (Werte, Ziele) mittels angeborener Talente und erworbenen Fähigkeiten zu errichten.
„Dieser Spannungsbogen ist die dynamische Essenz des vollständigen, nicht defekten Selbst; er ist die Konzeptualisierung der Struktur, deren Herstellung ein kreativ-produktives, erfüllendes Leben ermöglicht" (1984, 21)

In Kohuts älteren Schriften (1966 ff) steht für Selbst zumeist noch Narzißmus , doch schon dort bereitet sich die Trennung zweier, dem Menschen innewohnender Haupttendenzen - seinem Streben nach Lust und sein Streben, der Struktur seines Selbst Ausdruck zu geben - vor; Tendenzen, „die entweder harmonisch zusammenwirken oder in Konflikt miteinander stehen können" (1975, 273). Dabei kommt kein quantitatives Gleichgewicht ins Spiel, eher die Möglichkeit, ob „der schwächere (...) Sektor die ergänzende Rolle zu spielen vermag" (ebd.), wie es auch eine lebenslange „reibungslose Kooperation" zwischen beiden geben kann. Zwar führt kein Weg vom Narzißmus zur Objektliebe - Selbstobjekte werden nicht durch Liebesobjekte ersetzt - jedoch interagieren beide.
Kohut: „Wiederholend habe ich betont (...), daß Objektliebe (...), wie jede andere intensive Erfahrung, das Selbst stärkt. Außerdem ist wohlbekannt, daß ein starkes Selbst uns in die Lage versetzt, Liebe und Begehren intensiver zu erleben" (1984, 86)
Auf unsere Frage, was Kohut meint, wenn er vom „Selbst" spricht, ergaben sich bislang eher Anmutungen denn Antworten. Schauen wir
genauer hin.

Die Struktur des „Selbst"

Kohut wird nicht müde, auf die Rolle der Empathie, dh. der Einfühlung in die Introspektion des Anderen, hinzuweisen. Dennoch führt er nirgends genau aus, was sie denn sei. Jedenfalls soll sie nicht nur Therapeutikum, sondern auch theoretisches Erkenntnisinstrument (2) sein, an manchen Stellen wird sie gar zu einem Ideal der Lebensführung.

Fragen wir empathisch nach dem Selbst, so antwortet uns ein:

-#- „Gefühle, daß wir ein unabhängiger Mittelpunkt von Antrieb und Wahrnehmung sind";
-#- „ein Gefühl, das mit unseren zentralsten Strebungen und Idealen und unserer Erfahrung integriert ist";
-#- daß ,"unser Körper und Geist eine Einheit in Raum und ein Kontinuum in der Zeit darstellen" (1977, 155).

Hiermit liegen uns - noch entfaltungsbedürftig - die wesentlichen Merkmale des Selbst - genauer des bipolaren Selbst - vor, dem wir uns nun zuwenden.
Sofern wir die Ursprünge des Selbst vorerst noch im Dunkeln lassen und mit der Mehrzahl psychoanalytischer Überlegungen hypothetisch von einer symbiotischen Phase ausgehen, so geschieht Folgendes:

„Das Gleichgewicht der vollkommenen Geborgenheit des Kindes wird durch die unvermeidlichen Begrenzungen mütterlicher Fürsorge gestört, aber das Kind ersetzt die vorherige Vollkommenheit (a) durch den Aufbau eines grandiosen und exhibitionistischen Bildes des Selbst: das Größen-Selbst; und (b) indem es die vorherige Vollkommenheit einem bewunderten, allmächtigen (Übergangs)-Selbst-Objekt zuweist: der idealisierten Eltern-Imago" (1971, 43).

Diese Konstellation bringt Kohut im sprachlichen Ungetüm der Selbst-Selbstobjekt-Beziehung zum Ausdruck. Selbstobjekte sind also diejenigen Objekte (3) oder deren Funktionen, die das Selbstgefühl wecken, aufrechterhalten oder positiv beeinflussen.
Zur Frage nach dem Ursprung des Selbst - die uns noch eingehender beschäftigen wird - hier nur zwei Hinweise Kohuts:

1) Die kindliche Umgebung (Selbst-Objekte) reagiert auf die Äußerungen des Säuglings so, als hätte es bereits ein Selbst bzw. die Selbst-Erfahrung eigener Initiative, Einheit und Kontinuität. Dh. die gelingende mütterliche empathische Zuwendung nimmt nicht nur partielle Bedürfnisse und Leistungen (z.B. Saugreflexe, Strampeln u.a.) wahr, sondern spricht das Kind als ganzes an (s.o.).

2) Die Annahme eines rudimentären Selbst wurde auch in der psychoanalytischen Forschung immer weiter zurückverlegt. Für Kohut sind früheste kindliche Äußerungen von narzißtischer Wut und Angst hierfür Indizien. Es zeigt sich - früher als angenommen - ein aktives Streben nach vollkommener Beherrschung von und Verfügung über das schemenhaft wahrgenommene Außen des Selbstobjekts bzw. als Komplement zu dieser Strebung, Angst vor Desintegration und Fragmentierung (4) des Selbst (Phänomene, die in der Therapie - u.a. narzißtischer Persönlichkeitsstörungen - immer wieder auftauchen).

Immer wieder bemüht Kohut die empathische Zuwendung der Mutter auf das ganze Selbst des Kindes, was weniger Lob und Bedürfnisbefriedigung als einen Stil, eine Atmosphäre der Anerkennung meint. Im Glanz der mütterlichen Augen spiegelt sich das aufkeimende Größen-Selbst und dieses hat mit seiner eigenen Grandiosität teil an der Allmacht und Omnipotenz seines Selbst-Objektes. Beide sind verschmolzen, jedoch in der Form einer in sich differenzierten Einheit (5).

In der ersten Zeit (1. bis 3.Lebensjahr) werden die Eltern die Strebungen des kindlichen Größen-Selbst fördernd spiegeln und sich selbst als idealisierte Eltern-Repräsentanzen nicht in Frage stellen. Sofern sich das, was Kohut Kern-Selbst nennt, etabliert hat, setzt eine stärkere Desillusionierungsbewegung ein. Das Entwicklungsmodell Margaret S. Mahlers von Loslösung und Individuation findet ansatzweise - selbstpsychologisch geläutert - Anwendung (6). Die Hereinnahme der Selbst-Selbstobjekt-Erfahrung in die innere Struktur des Selbst nennt Kohut umwandelnde Verinnerlichung. Was meint dies genauer?

„Das Selbstobjekt, das eine reife psychologische Organisation besitzt, die die Bedürfnisse des Kindes und das, was dafür zu tun ist, realistisch einschätzen kann, wird das Kind in seine eigne psychologische Organisation aufnehmen und dem homöostatischen Ungleichgewicht des Kindes durch Handeln abhelfen".(Kohut 1977, 84)

Bei der Reaktion ist der erste Punkt wesentlich: „Aufnahme in die eigene psychische Organisation" meint - nur technischer ausgedrückt - Empathie: Einfühlung in die Introspektion des Anderen. Z.B. Wut und Angst sind keine Abkömmlinge ursprünglicher Triebe, die die Mutter durch Liebe oder Festigkeit (neutralisierte Aggression) zähmen muß, sondern es ist die „Erfahrung der Desintegration (einer) vorher umfassenden und komplexen psychologischen Einheit selbstverständlicher Bejahung." Die Mutter spürt diese Angst des Kindes und teilt sie ansatzweise mit ihm, dann „nimmt (sie) das Kind auf und spricht mit ihm, während sie es hält oder trägt und schafft so Bedingungen, die das Kind phasengerecht als Verschmelzung mit dem allmächtigen Selbstobjekt erlebt" (ebd. 84f).

Verschmelzung jedoch um der umwandelnden Verinnerlichung willen, Beziehung wandelt sich (teilnehmend) in Struktur (7): Die erlebte Progression von Angst im Selbst - Desintegrationsangst - beantwortet das Selbstobjekt (die Mutter) mit leichter Angst, dh. mit einem Affekt-Signal, dem folgt Beruhigung, der Affekt klingt ab, dh. die Angst schwindet. Es zeigt sich hier im vorsprachlich-affektiven Feld, was auch später (z.B. in der Therapie) gilt: ich nehme das Sich-ängstigen wahr, ich teile es in beherrschter, maßvoller Weise und zeige, wie es verständlicher werden und möglicherweise schwinden kann. (Kohuts zweiphasige Übertragungsleistung - Verstehen und Deuten, aber auch Winnicotts holding function gründen in diesem Phänomen.)

Fehlende oder schädliche Verschmelzung, dh. Empathiemangel oder inadäquate Reaktionen führen zu einer Schwäche der Fähigkeit, Affekte zu zügeln oder zum Erwerb fehlerhafter, defekter Strukturen. In unserem Beispiel, wenn das Selbstobjekt statt mit einem Affekt-Signal mit einer Affektausbreitung antwortet. Die Desintegrationsangst des Selbst intensiviert sich in der Verschmelzung mit der mütterlichen Panikreaktion. Nichtbeachtung oder Ambivalenz in den Reaktionsformen der Selbst-Objekte führen nicht nur zur desintegrierenden Affektausbreitung, sondern nehmen dem Kind möglicherweise die Sicherheit der Selbstgegebenheit und der Angemessenheit des Affektes: „ist das wirklich mein Gefühl?"

Zeitlich nimmt Kohut folgende ontogenetische Einteilung vor:

-#-Bereits in der Säuglingszeit zeigen sich Spuren erfolgsgerichteter Strebungen und idealisierter Ziele;
-#- im Alter von 2 - 4 Jahren konsolidiert sich der Hauptteil der Kern-Grandiosität zu Kern-Strebungen (Ambitionen);
-#- bis zum 6.Lebensj. dauert der Erwerb von Kern-Zielstrebungen, also der kleineren oder größeren Anliegen bzw. überpersönli-cher Ideale, die den Sinn des Lebens ausmachen.

Zusammengefaßt: das Kern-Selbst besteht aus Strebungen (Ambitionen), dem Größen-Selbst entwachsen, und Idealen, Zielen, Werten, aus dem idealisierten Eltern-Imago verwandelt. Zwischen beiden Polen besteht ein Spannungsbogen, welcher Begabungen und er--worbene Fähigkeiten mobilisiert. Genauer: Kohut spricht von einem Spannungsbogen als „dauernde(n) Fluß tatsächlicher psychologischer Aktivität (...) zwischen den beiden Polen des Selbst" und vom Spannungsgefälle, einer „handlungserzeugenden Verfassung, die zwischen den Strebungen des Menschen und seinen Idealen entsteht" (1977, 157)(8).

Mit der spezifischen Ausbildung des bipolaren Kern-Selbst (9) ist der Mensch in seinem Lebensentwurf festgelegt, der gelingen oder scheitern kann. Wir erkennen nun genauer den Tragischen Menschen.

Kohut bedient sich in der Darstellung höchst fragwürdiger Metaphern aus der Physik z.B. elektrisches Spannungsgefälle (1977, 156f). Körperbezogene Abläufe geraten schnell unter die Räder einer kausalen, bedeutungsfreien Interpretation (10).
Merleau-Ponty dagegen bemühte sich, die fungierende Intentionalität eines inkarnierten, verleiblichten Bewußtseins zu beschreiben.

„Das Bewußtseinsleben (ist) getragen von einem 'intentionalen Bogen', der um uns her unsere Vergangenheit, unsere Zukunft, unsere menschliche Umwelt, unsere physische Situation, (...) unsere moralische Situation entwirft, oder vielmehr es bewirkt, daß wir in all diesen Beziehungen situiert sind. Dieser intentionale Bogen ist es, der die Einheit der Sinne, die Einheit der Intelligenz und die Einheit von Sinnlichkeit und Motorik ausmacht. Er ist es, der in der Krankheit seine 'Spannkraft' einbüßt" (1945, 164f).

Die psychoanalytische Substativierung von - verkürzt gesprochen - situierten, leiblichen, emotiven und kognitiven Vollzugsweisen in gegenständliche Terme wie Selbst, Objekt u.ä. gestalten allerdings einen Dialog mit diesen phänomenologischen Gedanken sehr schwierig (11). Wir kommen in sehr schwieriges Fahrwasser, da auch der frühe Merleau-Ponty seine Fragwürdigkeiten beinhaltet.

Wenden wir uns wieder Kohut zu. Das bipolare Selbst verdankt seine Konstitution den strukturbildenden Selbst-Selbstobjekt-Beziehungen. Wir erinnern an die o.g. umwandelnde Verinnerlichung. Diese kommt aber nie zu einem Abschluß. Beziehungen dieser Art werden nie überflüssig, bleiben ein Leben lang notwendig:

„Ein Mensch erlebt sich als kohärente, harmonische Einheit in Raum und Zeit, die mit ihrer Vergangenheit verbunden ist und sinnvoll in eine kreativ-produktive Zukunft weist, (aber) nur solange, wie er in jedem Stadium seines Lebens erlebt, daß gewisse Vertreter seiner menschlichen Umgebung freudig auf ihn reagieren, als Quellen idealisierter Kraft und Ruhe verfügbar sind, im Stillen gegenwärtig, aber ihm im Wesen gleich und jedenfalls fähig, sein inneres Leben mehr oder weniger richtig zu erfassen, so daß ihre Reaktionen und seine Bedürfnisse abgestimmt sind und ihm erlauben, ihr inneres Leben zu begreifen, wenn er solcher Unterstützung bedarf". (1984, 84)

An dieser Elle gemessen, kann Kohut in der 'modernen Welt' fast nur fragmentierte Selbste erkennen, er bedauert geradezu den Zerfall traditioneller Ideale und Wertvorstellungen. Er spricht häufig vom Fehlen großer künstlerischer oder geschichtlicher Gestalten, die die Funktion eines idealisierbaren Eltern-Imagos übernehmen. Jenseits der Grundregel, dh. außerhalb der analytischen Situation, verfügt er kaum über einen alternativen Interpretationshorizont. Zum Kontrast Russel Jacoby:

„Die Kälte warmer, subjektiver Liebe verharrt in ihrer Weigerung, den gesellschaftlichen Mechanismus, der die Kälte erzeugt, wahrzunehmen. Hartnäckiges Festhalten an der subjektiven Liebe treibt sie in ihr Gegenteil, in die Rechtfertigung einer lieblosen Welt" (Jacoby 1978, 148).

Diese Form einer radikalen Gesellschaftskritik scheint Kohut sehr fremd. Er „springt" eher von dualen Beziehungen (Mutter - Kind) über die großen Gestalten in „kosmische Regionen", spricht von „der Teilhabe an einer überindividuellen, zeitlosen Existenz" (1966, 162) entwindet sich damit Komplikationen, die uns an den o.g. „Sprung" von der Physik in den Psychismus erinnern.

Nach soviel Selbst und (tragischer) Selbst-Verwirklichung, wo bleibt der Schuldige Mensch oder bleibt die Anerkennung der triebbestimmten Objektbeziehungen ein leeres Versprechen? Ein Kritiker Kohuts brachte diesen Vorwurf einmal in einen bezeichnenden Witz:

„Ein Filmmagnat in Hollywood redet zu einer jungen Schauspielerin pausenlos über sich selbst. In einem seltenen Augenblick der Selbsterkenntnis unterbricht er sich und sagt: 'Genug von mir. Reden wir mal über Sie. Was halten Sie von mir?" (zit.n.Eagle,1988, 79)

Das „Selbst" und die Triebe

Kohuts Verhältnisbestimmung von Trieb- und Selbstpsychologie erweist sich als nicht ganz konsistent. Einmal spricht er von Komplementarität (12), dh. ein psychisches Phänomen läßt sich in beiden Sprachen darstellen, dann wieder liegt ein eindeutiger Primat bei der Selbstpsychologie, die die Objektbeziehungen integriert (13).

Sein Modell des bipolaren Selbst scheint dem des Triebes analog: Wenn wir uns an die Einleitung erinnern, so war das Triebgeschehen durch (psychologisch unzugängliche) Quelle, Drang, Objekt und Ziel (= Spannungsabfuhr) bestimmt. Das Objekt tangiert - als variabelster Aspekt - in seinem Befriedigungs- bzw. Widerstandscharakter kaum ein wesentlich innerorganismisches Geschehen. Ansonsten hätte Freuds Redeweise vom Triebschicksal keinen sachhaltigen Sinn.

Beim Selbst sind ebenfalls Quelle, dh. Strebungen und Ziel, dh. Ideale/Werte im Selbst hinterlegt, haben aber ihre Geschichte nicht allein von Seiten der Natur - also des Somatischen -, sondern von den re-agierenden Selbststrukturen der Eltern. Wie auf dem Wege zur gehemmten Befriedigung sich Ichstrukturen und -leistungen aufbauen, so fordern die - auf Ideale-Verwirklichung gepolten - Strebungen Talente und Fähigkeiten heraus. Selbstverwirklichung ist nicht Spannungsabfuhr, vollzieht sich aber ebensowenig - wie wir kritisch anmerkten (14) - in wirklichen Andersheitsbeziehungen.

Trieb- versus Selbstheorie: Was könnte dies konkret meinen? Klassisch triebtheroretisch bestimmt sich z.B. das „oral-anklammernde Verhalten" als „Manifestation

(a) einer Triebfixierung auf orale Fixierungspunkte und
(b) eines entsprechenden Entwicklungsstillstandes des Ich infolge infantiler Befriedigungen, von denen das lust-orientierte, unreife Ich des Patienten abhängig geworden ist" (Kohut 1977, 74).

Damit aber haben wir weder genetisch noch dynamisch-strukturell den Brennpunkt der Psychopathologie: Als Konsequenz der gestörten empathischen Reaktionen der Eltern wurde das Selbst des Kindes nicht sicher etabliert. Dh. bei einem schwachen und von Fragmentierung bedrohten Selbst kommt es - im Versuch, sich in seiner eigenen Lebendigkeit selbst zu vergewissern - zur „Stimulierung erogener Zonen (Lustzielen, welche) dann, sekundär, die orale (und anale) Triebfixierung und Versklavung des Ich an die mit den stimulierten Körperzonen verbundenen Triebziele herbeiführt" (ebd., 75)

Ähnlich bei der Charakterpathologie des „analen Geizes": Die Mutter reagiert in der Annahme, Ablehnung oder Nichtbeachtung des „fäkalen Geschenkes" nicht auf den Trieb, sondern „sie reagiert (...) auf ein Selbst, das im Geben und Anbieten Bestätigung durch das spiegelnde Selbstobjekt sucht" (ebd., 76).

Auch die Destruktivität (Wut) gründet nicht in einem primären Trieb, sondern stellt ein Des- integrationsprodukt der Selbsterfahrung dar. Reagiert - so Kohut (ebd., 88f) - ein Patient auf eine Deutung mit Wut, beweist das nicht eine Lockerung des Widerstandes, womit eine Neutralisierung zurückgenommen wird und sich in aggressive Energie rückverwandelt. Erfahrungsadäquater beschreibt es eine genetisch wichtige traumatische Situation, die sich im Therapiezusammenhang wiederholt: eine mangelhafte, unempathische Reaktion des Selbstobjektes verweist auf einen Zustand, worin das Kind totale Kontrolle über Reaktionen und vollkommene Empathie verlangte.

In allgemeinen Begriffen zusammengefaßt: „Das Auftreten von Triebfixierungen und der damit verbundenen Aktivitäten des Ich kommt infolge der Schwächung des Selbst zustande. Das Selbst, auf das kein Widerhall erfolgte, war nicht in de Lage, seine archaische Grandiosität und seinen archaischen Wunsch nach Verschmelzung mit einem allmächtigen Selbstobjekt in verläßliches Selbstwertgefühl, Strebungen nach realistischem Erfolg und erreichbaren Idealen umzuwandeln. Die Abnormitäten der Triebe und des Ichs sind die symptomatischen Konsequenzen dieses zentralen Defekts im Selbst" (ebd., 81).
„Symptomatische Konsequenzen" meint dabei die Kompromißbildung im Konflikt zwischen Triebforderung und Abwehrleistung. Letztere entspricht selbstpsychologisch in etwa dem Aufbau defensiver Strukturen (ebd., 20 u.a.). Sie 'überdecken' den primären Defekt. Kompensatorische Strukturen, ebenfalls in der Kindheit instituiert, kompensieren die Schwäche eines Selbstpoles oder -sektors durch die Stärkung des anderen; zumeist fördert das intensive Verfolgen von Idealen die Selbstachtung eines - im Bereich von Ehrgeiz und Exibitionismus - geschwächten Selbst. Wir können diesen Punkt hier nicht weiter besprechen (vergl. 1977, 160ff). Mit kompensatorischen Strukturbildungen erhält das Individuum eine zweite Chance; genau sie wirken - nach Kohut - auch in der Therapie.
Triebziele, Abwehrmechanismen und Konflikte stellen untergeordnete Inhalte des Selbst dar (
15), deren Ungleichgewicht auch ein primär nicht defektes Selbstwertgefühl tangieren kann. Hier ließe sich von einer sekundären Selbst-Pathologie sprechen. Da wir jedoch unser Hauptaugenmerk nicht auf die Klassifikation und die Therapie von Persönlichkeitsstörungen legen wollten, wenden wir uns einem anderen Punkt zu: Wenn triebbestimmte symptomatische und Charakterpathologien Des-integrationsprodukte eines defekten Selbst sind, dann ergeben sich die Fragen, wann, wo und wie das Triebbestimmte überhaupt in das Selbst 'integriert' wird. Wir wollen dies ineins mit Überlegungen zu den Ursprüngen des Selbst diskutieren.

Vom virtuellen zum kohärenten Selbst

Kohut geht von der Annahme aus, „daß das neugeborene Kind keinerlei reflexives Bewußtsein seiner selbst haben kann, daß es nicht fähig ist, sich selbst - und sei es noch so schemenhaft - als eine im Raum kohärente und in der Zeit dauernde Einheit zu erfahren, die Ausgangspunkt von Antrieben und Empfänger von Eindrücken ist" (1977, 95).

Und doch reagiert seine Umwelt ab initio auf die Regungen des Neugeborenen als sei es eine ganze Person, sie „nimmt die spätere Selbst-Bewußtheit des Kindes vorweg" (ebd.). Kohut spricht hier von einem virtuellen Selbst, metaphorisch bestimmt als „die umgekehrte Entsprechung jenes geometrischen Punktes im Unendlichen, an dem sich zwei parallele Linien schneiden" (ebd.,96)

In Übereinstimmung mit der traditionellen psychoanalytischen Theorie ging Kohut noch in „Analysis of the Self", dt. „Narzißmus" (1971) von der Bildung des Selbst „durch die Verschmelzung seiner Teile" aus und zwar in umgekehrter Reihenfolge der später möglichen Fragmentierung unter widrigen Umständen. Das Erleben seiner selbst des Kindes als körperlich-seelische Einheit (s.o.) „etabliert sich allmählich durch die Verschmelzung der Erfahrungen einzelner (zunächst noch unverbundener) Körperteile und isolierter körperlicher und seelischer Funktionen". (Kohut 1975, 260)

Vor der Bildung des kohärenten Selbst mußte es demnach „Stadien des fragmentierten Selbst", isolierte körperlich-seelische Fragmente oder Nuclei - also Selbst-Kerne - geben (vgl.1971, 48). In den „Bemerkungen zur Bildung des Selbst" (1975) zieht er diese These in Zweifel: für den Prozeß der Verschmelzung von Selbst-Kernen gäbe es keinen Beweis (vgl. 1975, 262f). Hier findet sich die wichtige Behauptung, der Entwicklungsgang der kindlichen Selbst-Erfahrung sei unabhängig von demjenigen, den seine triebbestimmten Bereiche nehmen. Diese Selbst-Erfahrung entsteht jedoch nicht nur unabhängig, sie nimmt an Bedeutung zu, „wie sie sich (...) der Erfahrung von Körperteilen und einzelnen Funktionen zunächst bei-, dann aber mehr (und mehr) überordnet. (...) Die Teile bauen nicht das Selbst auf, sie werden in es eingebaut" (ebd.).

Es scheint bezeichnend, daß ein Jungianer (M. Jacoby 1985) diesen Einzug einer Ganzheitspsychologie in die Psychoanalyse besonders hervorhebt - wie auch andere Kohut'sche Thesen dort Anklang finden.
Die genetischen Wurzeln des Selbst suchend, „gewann ich den Eindruck", - schreibt Kohut 1977 - „daß in der frühesten psychischen Entwicklung ein Prozeß stattfindet, bei dem einige archaische psychische Inhalte, die als zum Selbst gehörig erlebt worden waren, ausgelöscht oder dem Bereich des Nicht-Selbst zugeteilt werden, während andere weiter innerhalb des Selbst bleiben oder diesem hinzugeführt werden" (154).

Dieser Satz verweist wieder auf die Bedeutung der Selbst-Objekte, die nach ihren Fähigkeiten, ihrer eigenen Struktur und nach dem Bild, des in ihnen hinterlegten virtuellen Selbst, den kindlichen Regungen und dem Kind als ganzes Selbst begegnen. In der Selbst-Selbstobjekt-Beziehung vollzieht sich der Prozeß von Differenzierung und Ausschluß.

Andererseits beinhaltet der Satz eine Schwierigkeit: solange wir von Selbst-Erfahrung bzw. -entwicklung und dem Schicksal der Triebregungen getrennt sprechen oder die Integration benennen, taucht nicht die Frage danach auf, wo denn das Desintegrierte oder das Noch-nicht-Integrierte sein sollen, wenn doch das Selbst den „Mittelpunkt eines psychischen Universums" (ebd., 12) und nicht „Teil eines psychischen Apparates" bilden soll. Beide Hinsichten lassen sich nicht so beliebig trennen wie Kohut meint. Eigentlich müßte man von einem Selbst im Selbst sprechen, was unseres Erachtens aber wieder in die metaphorisch-verdinglichende Redeweise vom Selbst - i.S. eines räumlich-substanzhaften Gebildes - führt.

Noch einmal zurück: Das Selbst ist eines von Anbeginn (16); es ist nicht die Summe von Teilen oder gar Fragmenten (letztere verweisen von sich her schon auf ein vorgängiges Ganzes). Es gibt keine isolierten, dann zusammengestückten Teile, sondern - in einer Merleau-Ponty verwandten Formulierung - die zunehmende innere Gliederung (via Differenzierung und Ausschluß) einer amorph-opaken, ursprünglichen Ganzheit. So hat zu Anfang des Lebens noch der ganze Leib appellativen Charakter, ist ganz Ausdruck: Schreien, Strampeln, Blicken verkörpert kaum geschieden eine Intention, die sich erst später differenziert und die Unterscheidung in Gestik, Mimik, Sprache und kausal bzw. semantisch relevante Bewegungsvollzüge erlaubt.

So geschieht auch die Sprachentwicklung nicht im Aneinanderreihen von bedeutungsvollen Lauten, die dann syntaktisch und semantisch zu einer Sprache verbunden werden. Das Kind lallt, es produziert - im Rahmen seiner anatomischen Ausstattung und Reifung - alle Laute gesprochener Sprache und behält für das Sprechen - via Differenzierung und Ausschluß - jene, die in seiner Sprache relevant sind. Das Ausgeschlossene, der Un-Sinn kann aber später in Neologismen oder anderen Sprachspielereien wieder Eingang finden.

Für Kohut gilt (Einschränkung vgl. 1975, 281) zum Selbst die Vorgängigkeit des Ganzen vor seinen Elementen. Bezüglich der „körperlichen Teile", der „leib-seelischen Funktionen" und ihrer libidinösen Besetzung zu „erogenen Zonen" folgt er aber ganz klassisch der Annahme einer Integration von isolierten Teilen zu einem Ganzen.

Leib, Selbst und Beginnlosigkeit

Das virtuelle Selbst im Anderen ist nicht der Anfang der kindlichen Selbst-Erfahrung; für die reflexive Erfahrung gibt es keinen absoluten Anfang, für sie gilt Beginnlosigkeit. Jeder Anfang ist für ein Bewußtsein ein gesetzter, also der Vollzug eines Bewußtseins mit Vergangenheit. Wir geraten in einen infiniten Regress oder in die Abgründe des Deutschen Idealismus.

Kohut u.a. bemerken dieses philosophische Problem selten, weil in ontogenetischen Überlegungen die Perspektive gewechselt wird: Empathisch nehmen wir - wie Kohut fordert - an der kindlichen bzw. infantile Szenen erinnernden Selbst-Erfahrung teil, z.B. den Desintegrationsängsten. Im Dunkeln der frühesten vor-sprachlichen Eindrücke, wechseln wir die Hinsicht und begreifen die vermeintliche Vor-Erfahrung in Kategorien eines funktionierenden Organismus. „Ich bin in der Tat der Meinung, daß Zustände, die existieren, ehe der Apparat des zentralen Nervensystems genügend gereift ist und ehe die Sekundärvorgänge etabliert sind, in Spannungszuständen beschrieben werden müssen - Spannungsanstieg, Spannungsabnahme - und nicht als verbalisierbare Phantasien„ (1977, 96).

Kohut lehnt - mit Recht - Melanie Kleins Annahme verbalisierbarer Phantasien im frühkindlichen Stadium ab. Die Forschung zum „kompetenten Säugling" bestätigt dies nachdrücklich (vgl. Dornes 1993). Hier Selbst-Erfahrung einer vagen raum-zeitlichen Existenz (Erleben) - dort ein aktiver Organismus (Leben). Tertium non datur? Wir wagen hier nur zwei Hinweise für Antwortmöglichkeiten:

Ein Problem, von dem her sich der massive Kampf um die Bestimmung des Ursprungs von „Selbst- empfinden", -erleben, letztlich von Selbstbewußtsein herleitet, scheint uns das einer Unterbestimmung des Leibes und dessen zu sein, was Merleau-Ponty „Zwischenleiblichkeit" nennt. Die inkarnierte Subjektivität unterläuft die Subjekt-Objekt-Spaltung und wahrt sich in der Formulierung von intentionalen (Selbst)-Vollzügen vor verdinglichenden Konzepten (17).

Das reflexive Ich bin ist eine Leihgabe des Anderen an die aktiven, intentionalen, leiblichen Vollzüge des Kindes. Dieses besitzt aber auch ein Zentrum von Antrieb und Wahrnehmung. Nur ist dieses Zentrum, dieses Selbst keines der reflexiven und damit erinnerbaren Erfahrung, eher eines des leiblichen Können, der fungierenden Intentionalität (Merleau-Ponty).

Eine Ausarbeitung dieser Überlegungen bedürfte einer eigenen Untersuchung - insofern bleibt sie leerintentional. Hier nur - zur Anregung - ein konkretes Beispiel: „Nehme ich im Spiel die Finger eines fünfzehnmonatigen Kindes zwischen die Zähne und beiße ein wenig, so öffnet es den Mund. Und doch hat es schwerlich je sein Gesicht im Spiegel gesehen und ähneln seine Zähne nicht den meinen. Aber sein eigener Mund und seine Zähne sind für das Kind, so wie es sie innen fühlt, unmittelbare Beißwerkzeuge, und mein Kiefer, so wie es ihn von außen sieht, unmittelbar mit der gleichen Intention begabt. 'Beißen' hat für das Kind unmittelbar eine intersubjektive Bedeutung." (1945, 403 vgl. 405)(18)

„Zwischenleiblichkeit" geschieht aber auch im zitierten „Spiegeln", welches sicherlich nicht auf jenes „im Glanz der mütterlichen Augen" zu beschränken wäre. Im Beispiel mit der Empathie kindlicher Desintegrationsangst kommt mehr zum Tragen: Spiegeln und Halten (Winnicott) und „amodales Affekt-Attunement" (D.Stern).

Die leibliche Erfahrungsverschwisterung beschreibt aber nur ungenügend den Kontext, in dem sich die Geburt des Selbst vollzieht. „Bereits vor der Sprache erscheint der frühkindliche Leib als ein Text von Lust und Schmerz (...), von dem seine Eltern besessen sind, weil sie jedem Ton, in jedem Aufruhr, in jedem Lächeln und in jeder Träne ihr eigenes Schicksal lesen. Auf diese Weise läßt sich jede Elterngeneration bereitwillig unterjochen von der majestätischen Pantomime ihrer Kinder." (O'Neill 1986, 254)

Brazelton und Cramer (1990) entwickelten das Konzept einer imaginären Interaktion., die direkt beobachtbare Interaktion als auch die subjektiven Erwartungen und unbewußte Phantasien der Beteiligten umfaßt. „Die Erwartungen, die die Eltern schon vor der Zeugung über ihr zukünftiges Kind hegen, wurzeln in ihrer eigenen (...) Geschichte. (...) In diesen Rahmen (phantasierter Beziehungen) tritt das Kind ein, wenn es zur Welt kommt; sein spontanes Verhalten 'erweckt' diese Phantasien und gibt Anlaß zu Deutungen und Zuschreibungen. Das Kind nimmt sich selbst unter der Bedingung dieser Interaktion wahr - sein Selbstbild entfaltet sich im Spiegel der bewußten und unbewußten Phantasien der Eltern über sich selbst und über das Kind" (Hamburger 1995, 66). Die das kindliche Selbst mitkonstituierenden Phantasien (19) bestehen hier auf seiten der Eltern, sie kommen in den Umgangsformen mit dem Kind zur Geltung, dh. sie bilden schon eine Struktur, die nicht mehr natural vorgegeben (20), aber auch nicht - und sei es nur potentiell - bewußtseinszugänglich übernommen ist. Das virtuelle Selbst des Kindes ist im Anderen - in ihren/seinen Entwürfen, Wünschen und Phantasien - hinterlegt, ihm gleichsam anvertraut. Diese Struktur läßt sich nicht hintergehen, aber sie ruft zur Verantwortung auf: alle projektiven Entwürfe „verkennen" unumgänglich das kindliche Selbst (21).

Zum eigenen Anfang kommt das Bewußtsein, die Selbst-Erfahrung, immer zu spät. Der ursprünglichen Verspätung ist mit Setzungen nicht Herr zu werden, aber es gibt eine Reprise , gleichsam eine heteronome Spontaneität: Die Zeit vor dem Erwachen des Bewußtseins, die früheste Kindheit, ist keiner Erinnerung zugänglich, sie bleibt ein Traum, ein Feld der Imagination, aber nicht eines der willkürlichen Fiktionalität, da sich die - manchmal traumatische - Vorgeschichte im Stil, in den individuellen Begrenzungen der leiblichen Vollzüge niedergeschlagen hat. So hat auch dieser Traum seine - nicht unwesentlichen - Tagesreste.

Anmerkungen

*In die vorliegende Fassung sind - bes. in den Anmerkungsteil - Fragen und Anregungen aus der Diskussion zum gleichnamigen Vortrag in der „Ges. für Philosophie und Wissenschaften der Psyche", Berlin (8.5.97) eingegangen.
Eine erste Fassung wurde im Juni 1993 auf einer Weiterbildungsveranstaltung der Abt. f. Psychotherapie/ Psychosomatik (Chefarzt: Dr.med. E. Schiffer) des Christl. Krankehauses e.V. in Quakenbrück vorgetragen.

1 Goethe, Faust, Teil I, Szene 6.

2 Kohuts ontogenetische Hypothesen erwuchsen den introspektiven, empathischen Erfahrungen aus Therapien, nicht den Ergebnissen der Säuglingsforschung. Die 'Bipolarität' des Selbst gründet in der Entdeckung von Spiegel- und idealisierender Übertragung (vgl. 1971 u.a.). Bei Wolf (1988) scheint die Bipolarität gerade auch mit der Präzizierung und Differenzierung von Übertragungsmodalitäten in den Hintergrund zu rücken.

3 „Strenggenommen (...) sind Selbstobjekte weder Selbst noch Objekt; sie sind der subjektive Aspekt einer Funktion, die durch eine Beziehung erfüllt wird" (Wolf 1985, 271). Kohuts Psychologie des Selbst will keine Objektbeziehungspsychologie oder Interpersonelle Psychoanalyse (i.S. Sullivans oder Stolorow u.a 1987) sein. Dies führt aber immer wieder zu Mißverständnissen (z.B. der Verwechslung von Person und Selbstobjekt). Die dialogische Struktur des psychoanalytischen Setting kann sich der Intersubjektivitäts- problematik aber nicht entziehen. Vielleicht wäre hierbei den immer wieder auftretenden Äquivokationen vorzubeugen, indem nicht verdinglichend „Objekte", „Selbst" und „Beziehungen", sondern je spezifische Vermeinensweisen des Anderen unterschieden werden. Doch dies wäre ein anderes Thema.

4 Dieser Begriff meint nicht unbedingt psychosenahe Phänomene, sondern durchaus ganz alltägliche - normalpsychologische - Erfahrungen. „Wenn ich beispielsweise auf der Straße einem Freund begegne, der an mir vorbeigeht, als existiere ich nicht, so scheint es für mich keine Rolle zu spielen, daß dieser Freund in Gedanken versunken war (...). Einen Augenblick bin ich weniger selbst als vorher". Überrascht mich jemand mit der Äußerung, ich sähe aber schlecht aus, so fühle ich mich, „als hätte man mir ein Stück meines Selbstbildes durch die notwendige, aber jetzt fehlende bestätigende Resonanz auf meine Gegenwart genommen." (Wolf 1988, 29f)

5 Die Metapher der „Verschmelzung" oder Symbiose, einer weitgehenden Ungeschiedenheit von Selbst und Objekt, wurde durch die jüngere Säuglingsforschung massiv in Frage gestellt (vgl. Dornes 1993). Damit wird aber die anthropologische Prämisse tangiert, es gäbe eine ursprüngliche wohlige „Vollkommenheit" (s.o. Kohut 1971, 43), die gestört und durch die Illusion von eigener Grandiosität und Omnipotenz ersetzt werden müßte. Insofern verdanken sich Welt- und Selbstkonstitution dem notwendigen Übergangscharakter eines (vermeintlich) ursprünglichen paradiesischen Zustand. Dies läßt sich bis in die psychoanalytischen Beiträge zur „natürlichen Religion" verfolgen.
Daß der Säugling von Anfang an auf die Welt intentional bezogen ist, Lust an Wirkmächtigkeit (welche adäquater faßt, was Omnipotenz meint) und Neugier besitzt, spricht eher für seine/ihre „Weltoffenheit" als für ein „Aufbrechen der autistischen Schale" (M. Mahler).

6 Inzwischen bemühen sich die Vertreter der Selbstpsychologie um eine eigene, modifizierte Form von Entwicklungspsychologie, in deren Kontext auch Formen der Pathologie einzuordnen sind. (vgl. u.a. Wolf 1988)

7 Diese Weise der Verwandlung von interaktiven Erfahrungen in leibliche und psychische Struktur, findet ihr kognitives Pendant in der frühen Theorie Piagets.

8 Die ganze Konstruktion eines Spannungsbogens von (a) Strebungen, Ambitionen, (b) Zielen, Werten sowie © Talenten und Fähigkeiten - immer wieder zitiert - scheint fragwürdig, sicher jedoch teilweise erklärungsbedürftig:
ad a) gemeint scheint so etwas wie „Bedürfnis nach Bestätigung„, „Streben nach Macht und Erfolg" (Wolf, 1988, 224) oder Selbstanerkennung, Selbstakzeptanz, Ehrgeiz, Attraktivität und das Gefühl, in seiner Existenz wertvoll zu sein. Passivität: bewundert und anerkennt zu werden und Aktivität: ehrgeiziges Zentrum von erfolgsgerichteter Initiative gehen ineinander.
ad b) Wenn (a) in etwa den Erlebnis- und Aktionspol von Potentalitäten darstellt, haben Ideale und Werte auswählenden, erlebnis- und handlungsleitenden Charakter. Sie sind symbolische Repräsentanzen von Funktionen früherer Selbstobjekte, die im Vorgang der Idealisierung/Identifizierung in das Selbst aufgenommen wurden. Für die Geltung der Ideale und Werte ergeben sich - als kritische These - Konsequenzen, die an den späten Nietzsche erinnern: „Der Gesichtspunkt des 'Werts' ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer (hier des 'kohärenten Selbst' - R.S.) des Lebens innerhalb des Werdens" (Wille zur Macht, Aph.715).

9 Hier ließe sich die Typologie von Selbst' einfügen, auf die wir aber nicht eingehen können. Vgl. das kohäsive, fragmentierte, leere, überlastete und überstimulierte Selbst (Übersicht vgl. Wolf, 1988, 225f)

10 Die Metaphorik einer substanzhaft-räumlichen Struktur des 'bipolaren Selbst' bietet ähnliche Angriffspunkte wie das Freudsche Strukturmodell. Stolorow u.a. (1987) kritisieren z.B. das Konzept des Spannungsbogens als „Rückschritt zu mechanischem Denken (...) Spannungsbögen wie Triebe sind der Empathie nicht zugänglich. Aus der empathisch-introspektiven Sicht lassen sich Strebungen und Ideale als Systeme affektiver Bedeutungen verstehen, die ihrem Wesen nach motivierend sind." (36)

11 Entscheidend bei dem Hinweis auf Merleau-Ponty ist das Konzept der Intentionalität, die die Bezogenheit / die Relation (être au monde) logisch vor die Relata stellt. Deren je eigene Bestimmung verdankt sich dem abstrahierenden Akt einer analytischen Scheidung, deren begriffliche Verdinglichungen immer wieder in Vollzugsweisen von Subjektivität rückgegründet werden müssen.

12 Den Vorschlag der Komplementarität kann man grundsätzlich ablehnen (z.B. Stolorow u.a.1987), in der klinischen Praxis scheint mir oft die Entscheidung pragmatischer, weniger von (meta)-psychologischen Hintergrundsannahmen als von „privaten Theorien zum psychoanalytischen Handwerk" abhängig (vgl. z.B. Streeck 1995).

13 In der Nachfolge Kohuts haben sich einige Selbstpsychologen - aber auch andere Psychoanalytiker - gänzlich von den (schon modifizierten) Vorstellungen der klassischen Triebtheorie entfernt (vgl. Anm. 11). Eine Psychologie der Affekte und deren Regulierung (z.B. Krause 1983) oder der „Modell-Szenen" (Lichtenberg 1989) scheinen Nachfolgestatus zu erlangen. Interessanterweise sind sie ebenfalls eher verhaltensbiologisch konzeptualisiert, tragen das alte Problem des Verhältnisses von Kraft und Sinn (Ricoeur), Kausalität und Bedeutung in neuem Gewande aus.

14 Vergl. Anm. 4

15 Die Vernachlässigung der Sexualität in der Selbstpsychologie war und ist ein wesentlicher Stein des Anstoßes. Wie sexuelles Erleben interpretiert wird zeigt eine Zusammenfassung von Wolf (1992, 113f):
„1. Das subjektive Erleben sexuellen Getriebenseins wird von der Psychologie des Selbst verstanden als ein Bereich von Phänomenen, die die Konstitution und Kohäsion des Selbst zum Ausdruck bringen oder schützen. 2. Sinnliches Vergnügen kann sich zu sexueller Erregung steigern und dann auf einem orgasmischen Niveau einen Zustand vorübergehender struktureller Regression erreichen, wobei Bestandteile des Selbst aus ihrer kohäsiven Integration herausgelöst werden. 3. Ein starkes Selbst geht aus dieser (...) Regression mit einer neugeordneten Konfiguration seiner Bestandteile hervor, die ihm eine stärkere Kohäsion verleiht. 4. Ein verletzbares Selbst kann sich vor der gefürchteten Regression durch sexuelle Hemmungen und zwanghafte Konfigurationen schützen. 5. Ein Selbst mit defekter Struktur, das nicht in der Lage ist, die orgasmische Regression zu hemmen und zu kontrollieren, füllt den strukturellen Defekt mit sexualisierten Abbildern der benötigten Selbstobjekt-Konfiguration aus, was mit lüsternen Selbstobjekt-Erfahrungen in der Phantasie und im Verhalten verbunden ist." Wolf schlägt vor, „parallele Unterscheidungen im Hinblick auf die Aggression zu treffen, nämlich normale selbstbehauptende Aggression, gehemmte selbstbehauptende Aggression und narzißtische Wut". (ebd.)

16 Stimmt diese These - und für sie gibt es auch außerhalb der Selbstpsychologie gute Gründe - so könnten die klinischen Erfahrungen von radikaler Fragmentierung, Phantasien vom „zerstückelten Körper" nicht als Regression in dem Sinne interpretiert werden, daß sie auf ein gelebtes/erlebtes kindliches Stadium verweisen. Es wären - im Sinne der adäquatio - keine Erinnerungen.

17 Vgl. Anm. 4 und 12.

18 Dies allein unter dem Titel einer Kompetenz des Säuglings zu verbuchen, scheint genauso unterbestimmt wie die Interaktion in verhaltensbiologischen Termen zu begreifen. Die Redeweise des Philosophen - der jedoch einen Lehrstuhl für Kinderpsychologie innehatte - scheint den meisten „Baby-watchern" zu spekulativ sein. D. Stern bildet da wohl eine Ausnahme; zur Diskussion vgl. u.a. Lichtenberg (1983)

19 Brazelton / Cramer (1990, 162-190) nennen drei typische Interaktionsmuster, in denen die unbewußten (und vorbewußten) Phantasien der Eltern zur Geltung kommen: a) „Der Säugling als Gespenst aus der Vergangenheit" (z.B. als „Wiedergeburt eines Vorfahrens", als Mutter- oder Richterfigur); b) „Die 'Neuinszenierung' alter Beziehungsformen", c) „Das Kind als Teil seiner Eltern" (z.B. der 'Bösewicht', das 'enttäuschende Baby'). Ähnliche Beobachtungen finden sich bei Merleau-Ponty schon in seinen Sorbonne-Vorlesungen aus den Jahren 1949-52!

20 Wir treffen hier auf eine Formulierung des virtuellen Selbst, welches die Bestimmungen Kohuts und Wolfs ergänzen, aber auch auf die Schwierigkeit einer strikten Trennung von introspektiv-empathischer und sozialpsychologischer Erkenntnis hinweist.

21 An dieser Stelle verlassen wir den ontologisch-wissenschaftlichen Diskurs, die obige Formulierung lädt aber ein, in Lévinas'schen Gedanken weiterzugehen: vor dem 'Antlitz' zerschellen die Vorstellungen, die projektiven Entwürfe.

Literatur

Kohut bei  

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http://www.suesske.de/kohut_selbst.htm

© Dipl.-Psych. Rudolf Süsske
(last updated 28.05.00)

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