Dr. Roland Kaufhold - Bücher, Rezensionen, Texte  & Links 

Hommage an Ernst Federn

Der Psychoanalytiker Ernst Federn wird 90

 

Roland Kaufhold [1]

 

TRIBÜNE. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Heft 170, Nr. 2/2004, S. 44-48. (Originaltitel: Ein psychoanalytischer Pionier. Ernst Federn zum 90. Geburtstag).

"I do not know whether you still remember me. We spent some time together at Buchenwald. I was much more fortunate than you by being able to leave the camp. It so happened that I published an analysis of the concentration camp as a social institution, a study which received quite some attention. (...) So much time has passed since I saw you last, that I do not know where to start. (...) - I am here in Chicago on the faculty of the University and an principal of a school for neurotic and psychotic children. A job which interests me very much. I am most anxious to learn of your experiences in the concentration camp, but I think it will take you some time before you will be willing to talk about it. Once again, if there is anything I can do for you, please let me know."

Am 11. Juli 1945 erneuerte Bruno Bettelheim mit diesem Brief seine Freundschaft mit seinem ehemaligen Mithäftling Ernst Federn. Dieser war erst drei Monate zuvor, nach siebenjähriger Konzentrationslagerhaft, von den Amerikanern aus Buchenwald befreit worden und lebte nun in Brüssel. Bettelheim hingegen hatte sich nach seiner Freilassung aus Buchenwald in Chicago niedergelassen und begann mit dem Aufbau der heute legendären "Orthogenic School" - eine milieutherapeutische Spezialeinrichtung für seelisch sehr kranke Kinder.

Der am 26. August 1914 als Sohn des bekannten jüdischen Wiener Psychoanalytikers, engen Freud-Mitarbeiters und Arztes Paul Federn (1871 - 1950) geborene Ernst Federn sowie der elf Jahre ältere Bettelheim stammen beide aus Wien und sind in ihrer Entwicklung nachhaltig durch die damalige psychoanalytisch-pädagogische Reformbewegung geprägt worden. Wegen ihres antifaschistischen Engagements sowie ihres Judentums waren sie im Frühjahr 1938 in Wien inhaftiert und zuerst nach Dachau, anschließend nach Buchenwald verschleppt worden. Dort, beim gemeinsamen "Ziegelschupfen", lernten sie sich kennen. Sehr rasch erkannten sie die Notwendigkeit, ihre terroristische Wirklichkeit, in die sie schutzlos hineingeworfen worden waren, zu analysieren. Eine wichtige Überlebenshilfe bot ihnen hierbei ihre psychoanalytische Vorbildung. In gemeinsamen Gesprächen mit dem später in Auschwitz ermordeten Psychoanalytiker Dr. Otto Brief - einem Schüler Wilhelm Reichs - sowie dem Wiener Arzt Alfred Fischer (welcher überlebte und später nach England emigrierte) analysierten sie ihr eigenes Verhalten sowie das ihrer Mithäftlinge und entwarfen gemeinsam noch in Buchenwald gedanklich die Grundzüge einer Psychologie des Terrors.

Bettelheim hatte - im Gegensatz zu Ernst Federn - Glück: Im April 1939, nach knapp elfmonatiger Inhaftierung, wurde er freigelassen, mit der Auflage, zu emigrieren. Er hielt das Versprechen, welches er Federn in Buchenwald gegeben hatte und publizierte 1943, auf der Grundlage ihrer Gespräche in Buchenwald, die Studie "Individual and Massbehavior in Extrem Situations", welche ihn in den USA quasi "über Nacht" berühmt machte. Zuvor jedoch war sie eineinhalb Jahre lang von mehreren psychologischen Fachzeitschriften abgelehnt worden, weil man ihm die - bewusst, wissenschaftlich, distanziert gehaltenen - Schilderungen des Lebens in den deutschen Konzentrationslagern nicht glauben wollte (s. Federn 1998a, Kaufhold 1998, 2001).

Federn bekam von diesem Erfolg seines Freundes nichts mit: Sieben fürchterliche Jahre lang wurde Ernst Federn in Dachau und Buchenwald gefangengehalten, musste das Sterben zahlreicher Freunde erleben, das immer neue Scheitern seiner verzweifelten Hoffnung auf Befreiung ertragen, ohne den täglichen Überlebenskampf aufzugeben - und war in seinen Gedanken doch immer wieder bei seiner in Wien auf ihn wartenden Verlobten Hilde sowie bei seinen Eltern Wilma und Paul Federn. Diese waren 1938 nach New York emigriert und unterstützten ihn von dort aus - über den in Basel wohnenden Psychoanalytiker Heinrich Meng sowie über seine Verlobte Hilde Federn (geb. Paar) - mit regelmäßigen, lebensrettenden Geldüberweisungen.

Ernst Federn überlebte. Wegen seiner anfänglich trotzkistischen Überzeugungen kehrte er aus Angst vor den Russen nicht nach Wien zurück, sondern suchte Zuflucht in Brüssel. In Buchenwald war er als Trotzkist der Gefahr der Lagerjustiz mehrfach konkret ausgesetzt gewesen, weil die mehrheitlich stalinistische "Häftlingsselbstverwaltung" "abweichende" Meinungen zu dulden nicht gewillt war.

In Brüssel engagierte er sich politisch, arbeitete u.a. mit Ernest Mandel sowie Heinz Kühn zusammen und begann mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner grausamen Lagererfahrungen. Bereits drei Monate (!) nach seiner Befreiung verfasste er einen ersten, 70seitigen Entwurf "Der Terror als System: Das Konzentrationslager" (in: Kaufhold 1998), welcher in seiner Darstellungsweise noch stark von seinen traumatischen Erfahrungen geprägt war. Scheinbar ungebrochen, vom Impetus des Aufschreibens, der Aufarbeitung inspiriert, vertiefte er seine Freud- und Marx-Lektüre und systematisierte seine Analysen. So antwortete er am 21. August 1945 auf Bettelheims einführend wiedergegebenen Brief: 

"Dein Brief vom 11. Juli hat mich ganz ausserordentlich gefreut, von vergessen kann überhaupt keine Rede sein. (...)  Nun freue ich mich sehr, dass es Dir gut geht und bin ausserordentlich an Deiner Arbeit über das Konzentrationslager interessiert. Wenn Du sie mir schicken könntest wäre ich Dir sehr dankbar. Das Manuskript meiner politischen Broschüre über Buchenwald habe ich an meinen Vater geschickt, ich denke sie wird Dich sehr interessieren. Ebenso habe ich eine Arbeit über seelische Hygiene der Völker und Neuerziehung der Jugend geschrieben, die aber noch nicht publiziert werden kann. (...) Ich arbeite jetzt an einer Psychologie des Terrors und bereite mein Buch über Marx und Freud in mir geistig vor." (Federn 1998b, S. 220, S. 151f.)

Im Juli 1946 schloss Federn seine große wissenschaftliche Studie "Versuch einer Psychologie des Terrors" (Federn 1998b) ab, mit welcher er, parallel zu den Arbeiten Bettelheims, die Grundlagen einer Psychologie des Terrors entwarf.

In der Einleitung formulierte er:

"Statt dem deutschen Volk zu helfen, die schrecklichen Geistesverwirrungen zu überwinden, in die es die politische Entwicklung gestürzt hatte, begnügte sich die Mehrzahl der Journalisten und Politiker mit der bequemen Erklärung, an dem Hitlergreuel sei es allein schuld und nur die Deutschen wären einer solchen Entwicklung fähig gewesen. (...) Doch bin ich überzeugt, daß letzten Endes Verstand und wahrhaftige Gesinnung sich durchsetzen und meine Erfahrungen, die ich hier niedergeschrieben habe, von Nutzen sein können. Ist doch die menschliche Natur ein dauernder Kampf mit unseren ursprünglichen Trieben, und wie Freud gezeigt hat, muß man ihn wissenschaftlich zu verstehen suchen. (...) Eben weil der Mensch eine besonders bösartige Spezies ist, ist es so wichtig zu erkennen, daß er aber auch die Fähigkeiten besitzt, seine ›Bestialität‹ zu überwinden und die ursprünglichen Triebe zu kulturvollem Tun umzugestalten. Diese Aufgabe wird dem Individuum wesentlich leichter, das von seinen atavistischen Trieben und ihrer Gewalt Kenntnis hat. Daher meine ich, daß es von großem Wert ist, in schrecklichen Geschehnissen nicht bloß blindes Wüten unbekannter Mächte zu sehen, sondern notwendige Folgen von psychischen und sozialen Bedingungen". (Federn 1999b, S. 36f.)

Die Zeitumstände verunmöglichten einen Erfolg seiner weitreichenden Bemühungen: Seine Studie erschien nur in der kleinen flämischen Zeitschrift "Synthèses" auf französisch, wurde von Hannah Arendt in ihrer ersten Studie über die Konzentrationslager (1950) erwähnt, wurde von Bettelheim euphorisch begrüsst, blieb jedoch ansonsten ohne jegliche Rezeption. Erst 1989 wurde sie in der Zeitschrift "psychosozial" erstmals auf deutsch publiziert; 1998 erschien sie in einem Sammelband mit weiteren Studien von und über Ernst Federns Terrorstudien als Buch (Kaufhold 1998).

Am 7. Februar 1947 heiratete er seine Verlobte Hilde, die sieben Jahre lang in Wien auf ihn gewartet hatte und deren Unterstützung er sein Überleben verdankte (s. Federn 1999, S. 1). Am 1. Januar 1948 fuhren die Federns mit einem Schiff nach New York, zu seinen Eltern - gut zehn Jahre später als der große Strom der vor den Nazis vor allem in die USA geflüchteten deutschsprachigen Psychoanalytiker und Psychoanalytischen Pädagogen (s. Kaufhold 2001, S. 27-50). Die Wiedersehensfreude währte nicht lange: Seine Eltern verstarben kurz nach seiner Ankunft in den USA, 1949 sowie 1950. Die neue Situation in den USA bot ihm nicht viel Gelegenheit, das erlittene Trauma zu "bearbeiten". Auch von seinen "euphorisch-revolutionären", gleichermaßen gesellschaftspolitisch wie auch psychoanalytisch-pädagogisch geprägten europäischen Prägungen musste er sich im antikommunistisch geprägten Amerika radikal verabschieden. Es gelang Federn, seine durch seine Gefangennahme jäh unterbrochene Berufsausbildung nachzuholen. Er wirkte bis 1972 in den USA, trotz bzw. wegen des dort vorherrschenden "Medicozentrismus" (Paul Parin), als psychoanalytischer Sozialarbeiter und Sozialtherapeut und wurde zugleich, sein familiäres Erbe produktiv verarbeitend, zu einem bedeutenden Historiker der Psychoanalyse. Er veröffentlichte sowohl in den USA als auch später im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Schriften über historische, gesellschaftspolitische, klinische, psychoanalytisch-pädagogische und sozialtherapeutische Themen; u.a. gab er (mit H. Nunberg) noch in den USA die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (1906-1918) heraus.

1972 kehrten Hilde und Ernst Federn auf Einladung der österreichischen Regierung wieder nach Wien zurück, und er engagierte sich - seinerzeit maßgeblich unterstützt durch den ehemaligen sozialistischen Justizminister Christian Broda, den er noch aus gemeinsamen Jugendjahren im Untergrund kannte -, als Konsulent an der Reform des österreichischen Strafvollzugs.

Er unterstützte die Einführung psychoanalytisch-sozialtherapeutischer Arbeitsformen im Gefängnis und arbeitete, entsprechend  der Methode August Aichhorns (1878 - 1949), als Therapeut und Supervisor in zwei Gefängnissen in Wien-Favoriten sowie in Stein/Krems. Nach seiner Erfahrung können Gefangene im Gefängnis gut therapiert werden, weil sie sich durch den Ausschluss von der Öffentlichkeit besonders intensiv mit sich selbst beschäftigen. Gefangene haben ihm immer wieder versichert, daß eine Stunde Therapie für sie wie eine Stunde der Freiheit sei. Als Grundsatz seiner sozialtherapeutischen Arbeit benennt Federn: "Für mich ist jeder Gefangene – egal was er gemacht hat – ein Mensch mit menschlichen Problemen. Mit diesen Grundsätzen habe ich sehr viel be­wirkt." (in: Kaufhold 2001, S. 89)

In einer Studie über den therapeutischen Umgang mit der Gewalt hat Federn eine unmittelbare Verknüpfung zwischen seinen Lagererfahrungen sowie seiner Arbeit im Strafvollzug gezogen. Er formuliert:

"Ich habe so lange und so intensiv unter Gewalt gelebt, daß ich ohne ungebührlichen Narzißmus behaupten kann, daß ich etwas von ihr verstehe. (...) Ich weiß, wie es ist, Opfer von Gewalt zu sein, weiß aber auch, wie man sich fühlt, wenn man selbst gewalttätig sein will. (...) Auch nach so vielen Jahren sind diese Bilder in mir noch so lebendig. Und sie haben mich gelehrt, daß man bei genauer Introspektion Versuchungen zu häßlichem, gewalttätigem Verhalten auch bei sich selbst finden kann. Es ist daher wichtig, sich selbst zu kennen. Und um sich selbst zu kennen, müssen Sie lernen, Gewalttätigkeit zu verstehen". (Federn 1999, S. 86)

Sein Wirken wurde in den letzten Jahren vielfältig geehrt.

Hilde und Ernst Federn stehen mit ihrer in mancher Hinsicht einmaligen Biographie für die Schrecken, die der nationalsozialistische Terror sowohl individuell als auch kulturell verursacht hat, aber auch für die ungebrochenen Hoffnungsperspektiven, die aus einem Überleben des Terrors in den Konzentrationslagern erwachsen kann. Am 26. August  feiern sie in Wien seinen 90. Geburtstag.

 

Literatur

Federn, E. (1976): Marxismus und Psychoanalyse. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. II: Freud und die Folgen (1). Hg. Dieter Eicke. Zürich, S. 1037–1058.

Federn, E. (Hg.) (1984): Freud im Gespräch mit seinen Mitarbei­tern. Aus den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt/M.

Federn, E. (1988): Die Emigration von Sigmund und Anna Freud. Eine Fallstudie. In: Stadler, F. (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil Österreichischer Wissenschaft 1930–40. Wien-München, S. 247–250.

Federn, E. (1992): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Bemerkun­gen eines Zeitzeugen. In: Luzifer-Amor: Hitlerdeutungen, Nr. 9, S. 43–47.

Federn, E. (1993): Zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Kaufhold (Hg.) (1993): Pioniere der psychoanalytischen Pädagogik: Bettelheim, Ekstein, Federn und Bernfeld, psychosozial Nr. 53, Heft 1/1993, S. 70–78.

Federn, E. (1998a): Bruno Bettelheim und das Überleben im Konzentrationslager. In: Kaufhold (Hg.) (1998): S. 105–108.

Federn, E. (1998b): Versuch einer Psychologie des Terrors. In: Kaufhold (Hg.) (1998), S. 35–75.

Federn, E. (1998c): Einige klinische Bemerkungen zur Psychopathologie des Völkermords. In: Kaufhold (Hg.) (1998): S. 76–88.

Federn, E. (1998d): Fritz Grünbaums 60. Geburtstag im Konzentrationslager. In: Kaufhold (Hg.) (1998): S. 95–97.

Federn, E. (1999): Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Kaufhold, R. (Hg., 1994): Annäherung an Bruno Bettelheim, Mainz.

Kaufhold, R. (Hg., 1998): Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn, Gießen (Psychosozial-Verlag).

Kaufhold, R. (1999a): Material zur Geschichte der Psychoanalyse und der Psychoanalytischen Pädagogik: Zum Briefwechsel zwischen Bruno Bettelheim und Ernst Federn. In: Kaufhold (1999), S. 145-172.

Kaufhold, R. (1999b): „Falsche Fabeln vom Guru?“ Der „Spiegel“ und sein Märchen vom bösen Juden Bruno Bettelheim. In: Behindertenpädagogik, 38. Jg., Heft 2/1999, S. 160-187.

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Kuschey, B. (2003): Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers. Bd. I und II. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Nunberg, H., & Federn, E. (Hg.) (1967 – 1975): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. I – IV. Frankfurt/M. (Fischer).


[1] Ich danke Thomas Aichhorn (Wien) herzlich für seinen kontinuierlichen Gedankenaustausch, welcher in diese Studie eingeflossen ist.

 

 


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