Exegetische
und systematische Annotate zur Rechtssatzung des Schadenersatzes
*
(2. Mose 21,
22-25; 3. Mose 24, 17-22; 5. Mose 19, 16-21)
von
Brigitte Gensch
„Kein anderes mispat (
d.h. Rechtssatzung, B.G.) ist in so vorsätzlicher und verhängnisvoller
Weise verkannt worden. Der Satz `Auge um Auge, Zahn um Zahn´ gilt
noch immer als die schroffste Verkündigung des ius talionis, die
klassische Formulierung einer strengen Vergeltung mit Gleichem, und
viele Menschen kennen aus dem AT überhaupt kein anderes Wort.“
Mit dieser zutreffenden
Bemerkung eröffnet Benno Jacob seine Auslegung der Verse (2. M. 21,
22-25), auf die es uns im folgenden vor allem ankommen soll.1
Und seit und weil die
sog. 5. Antithese der neutestamentlichen Bergpredigt dem alten „Auge
um Auge, Zahn um Zahn“ das neue Gebot, dem Bösen nicht nur nicht zu
widerstehen, sondern auch noch die andere Wange hinzuhalten (Mt
5,38ff.), entgegenhält, avanciert die alttestamentliche Talionsformel
zum Differenzpunkt der beiden Testamente2
und zum Unterscheidungskriterium gar der beiden Religionen – hie
Judentum, da Christentum – selbst.
Mit besagter Formel drückt
sich ein fatales und auch besonders hartnäckiges antijüdisches
Vorurteil aus, das mit einem Hauch von Marcion durchaus einen Rückstoß
in Gott selbst hat. Denn wenn diesem Vorurteil zufolge Gerechtigkeit
sich vornehmlich auf die erbarmungslose und also grausame Praxis der
Vergeltung versteht, dann wird allerdings fraglich, wie der gerechte
Gott des Alten Testamentes mit dem erbarmungsvollen und lieben Gott des
Neuen Testamentes identisch sein könne.
Und wie der Gott, so das
Volk: selbstverständlich wäre dann Frieden mit einem Volk, welches
einen solchen Gott den seinen nennt, nie und nimmer möglich, zumal dann
nicht, wenn es zur Machtwirklichkeit eines eigenen Staates, des Staates
Israel nämlich, gekommen ist. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: eine
per se unaufhaltsame und unabschließbare Logik der blanken
Wiedervergeltung werde damit in Gang gesetzt, die einzig dadurch an ihr
Ende komme, daß schlußendlich niemand mehr etwas zu beißen habe und
alle blind seien.
Unbestreitbar markiert
die jesuanische Bergpredigt den Beginn einer mißverstehenden Tradition,
die den Rechtsgrundsatz „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ dem ursprünglichen
Kontext äquivalenzorientierter Schadensregelung entnahm und in den
Rahmen einer gewalttätigen Vergeltungslogik einfügte. Denn auf das
Septuaginta-Zitat „Ophthalmon anti ophthalmou kai odonta anti
odontos“ („Auge für/anstatt/gegen/um Auge; Zahn...“)
folgt die Weisung, dem Bösen nicht zu widerstehen. Die Rechtsforderung,
für einen Schaden ein Äquivalent aufzubringen, wird zur
Vergeltungsnorm „Gleiches mit Gleichem /wie du mir, so ich dir“ und
zum Widerstand gegen Böses umgedeutet, welcher Widerstand zufolge der
Gleichheit dann selbst böse zu nennen wäre.3
Die lukanische Parallele (Lk 6,27ff) zieht so auch die Konsequenz
(allerdings ex silentio): daß es sich verbietet, Böses mit Bösem zu
beantworten, ergibt sich bereits aus der – im wörtlichen Sinne –
undankbaren Praxis, auf Gutes mit Gutem zu reagieren.4
Also ist auf das Böse mit der Tat des Guten zu reagieren.
Die Umdeutung zur bösen
Logik der Vergeltung schlägt sich nicht zuletzt sprachlich nieder.
Das Wort „anti“, das
als Präfix im Verb „antistenai = widerstehen“ steckt, regiert ja
auch den Parallelismus „Auge-Auge / Zahn-Zahn“. In der LXX repräsentiert
„anti“ das hebr. Wort „tachat“ (mit „für / anstatt von /
stellvertretend oder ersetzend für“ zu übersetzen).
Das grch. Wort „anti“
an sich genommen besitzt eine semantische Breite, die durchaus von „um
/ gegen / wider“ bis zu „anstatt / für“ reicht. Durch den
Zusammenstand aber mit dem adversativen Verb „widerstehen“ wird auch
das „anti“ des Parallelismus (Auge, Zahn) auf die adversative
Bedeutung eingeengt, die sich in der dt. Übersetzung „Auge um / gegen
/ wider Auge“ rechtens niederschlägt.
Ganz und gar falsch
jedoch sind alle rückprojizierenden Übersetzungen, die den
adversativen Charakter sowohl dem hebr. Wort „tachat“ als auch dem
mit dem Wort angezeigten Sachverhalt unterschieben wollen. Denn, wie
jetzt zu zeigen ist, nicht um die Gleiches mit Gleichem heimzahlende
Vergeltungslogik ist es der Formel „Ajin tachat ajin (Auge für
Auge)“ zu tun, vielmehr geht es um die legitime Rechtsforderung eines
äquivalenzorientierten Schadenersatzes. Kein Kreislauf oder gar eine
Spirale – unabschließbar-friedlos – von Gewalt und Gegengewalt soll
initiiert, der Rechtsfriede vielmehr bewahrt oder durchgesetzt werden.
Und nicht täter-, sondern opferorientiert verfährt die durch besagte
Formel angeleitete Rechtspraxis, denn nicht auf die Schädigung oder
Bestrafung des Täters, sondern auf das Opferrecht des
Schadenausgleiches bzw. der „Wiedergutmachung“ zielt die
Tachat-Formel.
Befreien wir also die
ajin-tachat-ajin-Formel von den Schlacken des Antijudaismus.
Als Norm strikter
Wiedervergeltung wurde das Mischpat „Auge für Auge“ weder je
gelehrt noch je praktiziert.5 Bereits in biblischer Zeit und
allemal zur Zeit Jesu leitete die Talionsformel eine Praxis der
finanziellen Entschädigung für alle Fälle der Körperverletzung
(Totschlag und Mord exklusive) an. Die finanziellen
Ersatzverpflichtungen, welche eben nicht den Charakter der Geldstrafen
besitzen, heißen summarisch „Taschlumim“; und für auch nur
etwas hebräisch geschulte Ohren ist daraus das Wort „Schalom =
Friede“ heraushörbar. Das Streben nach Frieden, nach seiner
Durchsetzung und Bewahrung, regiert nicht nur die jüdische Religion,
sondern auch das jüdische Recht; Konfliktprävention und -bewältigung
rangieren als leitende Rechtsprinzipien; und der Grundsatz „mipnei
darchei schalom“ will die pazifistische Vernunft gerade dazu
animieren, um des Friedens willen (mipnei darchei schalom) auch ungewöhnliche
Wege zu gehen: so wie Abraham es tat, als er sich von seinem Neffen Lot,
den kommenden Konflikt ahnend, trennte und beide ihres Weges gingen
(1.M. 13, 5-12).
Zu den Taschlumim zählt
bereits die Mischna nicht nur den Schadenersatz im engeren Sinne,
vielmehr kennt sie fünf Gebiete, auf denen ein Ersatz zu leisten ist
(vgl. Mischna, Traktat Bawa Qama, Kap 8, 1): Schadenersatz
(„neseq“), Schmerzensgeld („zaar“), Heilungskosten
(„rifui“), Arbeitsausfallersatz („schewet“) und Beschämungsgeld
(„boschet“).
V.22-25:
exegetische, halachische und sozialgeschichtliche Komplikationen
(Benno Jacob, S. R. Hirsch, Frank Crüsemann, Jürgen Ebach)
Der
Konsens:
Einigkeit herrscht in der
maßgeblichen Lieratur dahingehend, daß „tachat“ mit „anstatt, für,
stellvertretend oder in Haftung für“ zu übersetzen ist. Zahlreiche
biblische Beispiele können dies belegen, einige seien hier angeführt:
1. M. 2,21: „Da ließ
Gott Tiefschlaf auf den Menschen fallen, und als er schlief, nahm er
eine von seinen Seiten und schloß Fleisch an deren Stelle“
(„tachtena“).
1. M. 4,25: „Adam
erkannte wieder seine Frau, sie gebar einen Sohn und nannte ihn Scheth,
denn Gott hat mir einen anderen Samen gesetzt an Hewels statt; denn ihn
hatte Kain erschlagen“ („tachat Hewel“).
2. Kön 10,24 (Jehu
verpflichtet seine Wächter, für die Gefangenen zu haften). „Wer
einen von den Männern, die ich euch ausliefere, entkommen läßt, der
haftet mit seinem Leben für ihn!“ („nafscho tachat nafscho“ = des
Wächters Leben für das des Gefangenen).
1. Kön 20,39 (auch hier
geht es um die Haftung für einen Gefangenen): „Wenn er abhanden
kommt, so haftest du mit deinem Leben für ihn, oder du mußt ein Talent
Silber bezahlen“ („nafschcha tachat nafscho“).
Die letzten beiden
Beispiele werden uns noch beschäftigen, denn auf sie stützt Frank Crüsemann
seine zentrale These, daß – wann immer die finanzielle Ersatzleistung
nicht ausdrücklich genannt ist – die „nefesch tachat
nefesch“-Formel („Leben für Leben“) die Möglichkeit einer
Geldentschädigung ausschließt und vielmehr darauf insistiert, einzig
(verschuldetes) Leben könne verlorenes Leben ersetzen.
2. M. 21, 36: „Oder es
ist nun erkannt, daß er ein stößiger Ochse ist, dadurch, daß er auch
gestern und vorgestern gestoßen, und es hütet ihn fortan sein Eigentümer
nicht: so hat er voll zu ersetzen Ochsen für Ochsen, der tote aber
bleibt sein“ („schalem jeschalem schor tachat haschor“).
Zwei
Rabbiner - zwei Meinungen: zu einer unausgetragenen Kontroverse zwischen
S. R. Hirsch und Benno Jacob
Die bereits zu Anfang
genannte Interpretation des Bundesbuches durch den großen Exegeten und
Rabbiner Benno Jacob besitzt, die Auslegung des 21. Kapitels betreffend,
den Vorteil, bruchlos geschlossen zu sein, da sie durchgehend alle Fälle,
die die tachat-Formel bei sich führen, als solche des finanziellen
Ausgleiches behandelt. So übersetzt B. Jacob folgerichtig auch V.23 so:
„Wenn aber ein Unfall
geschieht, so sollst du geben Lebens-Ersatz für Leben“.6
Selbstverständlich
insistiert auch B. Jacob auf dem Apriori jüdischer Ethik, daß das
(menschliche) Leben und seine Erhaltung von allen Gütern das höchste
und schützenswerteste Gut7 ist und kein
Tauschwert der Welt, erst recht nicht der Tauschwert des Mammon,
verlorenes Leben zu ersetzen vermag.
Aber, argumentiert Jacob,
da es sich in V.23 um einen gänzlich unabsichtlichen tragischen Unfall
handelt („asson“), d.h. weder um einen versehentlichen Totschlag
noch gar um Mord, kommt auch hier das Mischpat einer Geldzahlung zum
Zuge, obgleich die männliche Rauferei ein Leben, nämlich das der
schwangeren Frau, kostete. Und während die Geldzahlung in V.22 nicht
obligatorisch ist (das Ehepaar kann, muß aber nicht auf einer Entschädigung
für den Verlust der Föten bestehen), besteht im Falle des tödlichen
Unfalles für die Richter ( „pelilim“, in V.22 genannt) die
Verpflichtung, dem Mann der Verunglückten eine Entschädigung zu zahlen
(„so sollst du geben“, das „du“ bezieht Jacob auf die Richter).
Samson Raphael Hirsch,
der große neo-orthodoxe Rabbiner des 19.Jh., zieht aus der
schlechthinnigen Inkommensurabilität von Geld und Leben andere Übersetzungs-
und Auslegungs-konsequenzen als Benno Jacob. So heißt es für V.23:
„Wenn aber ein
Todesfall eintritt, so hast du zu geben Leben für Leben.“
Aus dem Satz V.22: „...
und es erfolgt aber kein Todesfall, so soll er mit Geld bestraft
werden...“ gewinnt sich Hirsch den Gegen-Satz, den er auch halachisch
abstützt, nämlich: ereignet sich aber überhaupt ein Unfall mit
Todesfolge (als Folge einer menschlichen Handlung), so „enthebt“
auch diese „nicht straffällige Verübung todesstrafwürdiger
Verbrechen der Geldstrafe“8 (die straffällige
Verübung ist ja auf jeden Fall der Möglichkeit der Geldentschädigung
entzogen; Asyl oder Hinrichtung sind hier die Sanktionen).
Die halachische Stütze
findet sich im babyl. Talmud, Traktat Ketubboth (Ket. 35a). Ebenda wird
der grundsätzliche Unterschied diskutiert, welcher die Tötung eines
Tieres von derjenigen eines Menschen hinsichtlich der zu verhängenden
und nicht zu verhängenden Sanktionen scheidet. Ausgangspunkt ist der
Satz aus 3. M. 24,21:
„Wer ein Tier erschlägt,
der soll es ersetzen, wer aber einen Menschen erschlägt, der soll getötet
werden“.
In der Schule Hiskias
wurde gelehrt – so unsere Paraphrase v. Ket. 35a –, daß die Tötung
eines Tieres in jedem Fall zur Geldersatz-Zahlung verpflichtet, gleichgültig,
ob das Tier absichtlich oder unabsichtlich, vorsätzlich oder
versehentlich getötet wurde. Und ganz entsprechend dazu befreit das bloße
Faktum der Tötung eines Menschen durch einen Menschen diesen von der
Pflicht der Geldentschädigung; weder Vorsatz noch Versehen, weder
Absicht noch Unabsichtlichkeit noch irgendein nur denkbarer Grad der
Fahrlässigkeit können daran etwas ändern.
S. R. Hirsch nimmt also
aus der Gesamtheit der durch die tachat-Formel geregelten Rechtsfälle
den besonderen Fall des Lebensverlustes heraus, für welchen es keine
finanzielle Ersatzregelung geben kann; und bis auf diese Ausnahme trägt
Hirsch die jüdisch-rabbinische Konsensformel, „tachat“ leite die
Rechtspraxis der Taschlumim an, in seine Übersetzung ein (wie auch B.
Jacob und Buber/Rosenzweig dies tun):
V.24-25: „Auge Ersatz für
Auge.....Geschwulst Ersatz für Geschwulst“.
Gleiches
Recht für alle?
Auch Frank Crüsemann,
auf dessen sozialgeschichtlich motivierte Exegese wir nun zu sprechen
kommen, grenzt die Problematik des „nefesch tachat nefesch“
(„Leben für Leben“) aus der Gesamtheit der Taschlumim-Regelungen
aus, allerdings aus anderen Gründen und mit anderen Abzweckungen als S.
R. Hirsch. Crüsemann nämlich fragt nach der sozial= geschichtlichen
Bedingtheit des biblischen Textes, d.h. nach dessen sozialen und
politischen Enstehungsbedingungen und nach dessen sozialen und
politischen Aussageintentionen. So läßt er sich von der Fragestellung
leiten, inwiefern die Unterscheidung der damaligen Gesellschaft in
Sklaven und Freie die Rechtsstruktur des Bundesbuches bestimmt.9
Für das Bundesbuch
insgesamt konstatiert er, dessen rechtsprinzipieller Tenor sei mit der
Taschlumim-Regelung gegeben, es gehe also vornehmlich und überwiegend
um die Praxis des finanziellen Schadenersatzes. Das 21. Kapitel, das im
Mittelpunkt unseres Interesses steht, thematisiere wesentlich das
Sklavenrecht; es regiere Aufbau und innere Struktur des Kapitels
(Vv.2-11 regeln die Dauer des Sklavenzustandes, den Übergang in die
Dauersklaverei und Rechte und Modi der Freilassung; Vv.12-17 sind dem
eigenen Thema des Todesrechtes gewidmet und hier einzuklammern; Vv.18-32
werden durch den dreimaligen Rhythmus „Delikte gegen Freie – Delikte
gegen Sklaven“ gegliedert: V.18ff; V.22ff; V.28ff).
Für den Passus
V.23b-V.25 („Leben für Leben ...Beule für Beule“) notiert Crüsemann
einen deutlichen Stilbruch zum Vorhergehenden, denn die bisherige
kasuistische Redeweise wird mit V.23b unverkennbar verlassen. Die
exegetische Zentralthese lautet nun: angezogen von der absoluten Formel
„nefesch tachat nefesch“ (der Todesfall in V.23 fordert
verschuldetes Leben ein) wurde dem Text die Glosse V.24-25 mit analogen
tachat-Formulierungen eingefügt, die allesamt den Vollzug der strikten
Talion anstelle finanzieller Entschädigung fordern. Besieht man sich
das textliche Umfeld des späteren Einschubes, so erhellt sich dessen
Sinn. Erleidet nämlich ein Sklave oder eine Sklavin eine schwere Körperverletzung,
so ist er oder sie – nur – freizulassen (V.26), stirbt ein Sklave
oder eine Sklavin nicht unmittelbar unter der Prügel, sondern erst 1-2
Tage hernach, so tritt überhaupt keine Rechtsfolge für dieses Vergehen
ein, denn der Sklave oder die Sklavin „ist sein Eigentum“ (V.21).
Crüsemann zufolge also
protestiert die strikte Talionsforderung des Einschubes gegen die
Ungleichbehandlung von Freien und Sklaven, sofern es sich um die
Verletzung körperlicher Integrität handelt. Das strikte Talionsgesetz
im Kontext des Sklavenrechtes klagt ein, die Herren möchten doch nicht
so billig-allzubillig ihrer Schuld ledig werden und von den Folgen ihrer
schädigenden Handlungen sich freikaufen können.
Mit guten Gründen, die
hier aufzuzeigen nicht der Ort ist, datiert Crüsemann die Glosse 2. M.
21, 24-2510 in die soziale Krisenzeit des
8.Jh., auf welche die prophetische Kritik reagiert. Etliche Passagen der
weisheitlichen und prophetischen Literatur belegen die zeitliche und
sachliche Parallelität: so heißt es etwa in den Sprüchen Salomos
(Prov. 13,8):
„Sühnegeld für das
Leben eines Menschen ist sein Reichtum, aber der Arme hört kein
Schimpfen.“
D.h.: der Reiche kauft
sich von seiner Schuld frei, darüber erbost sich das Volk; der Arme ist
solchen Schimpfes ledig, denn er kann sich nicht freikaufen, sondern muß
mit Leib und Leben haften. Analog reflekiert die Glosse die Problematik,
daß angesichts der sozialen Krise (Verarmung und Verelendung, Abstieg
in die Schuldsklaverei und Reichtumsakkumulation) das Bundesbuch mit
seiner – für sich genommen guten – Entschädigungspraxis des
finanziellen Ausgleiches mißbrauchbar und mißbraucht wird.
Es gibt
keine „Wiedergutmachung“ (Jürgen Ebach) oder:
Schadenersatz statt „Entschädigung“
Jüngst hat ein anderer
Exeget des AT, Jürgen Ebach, die Überlegungen Frank Crüsemanns
aufgenommen und fortgeführt.11 Ebachs
Thesen jedoch zwecken nicht so sehr aufs Sozialgeschichtliche als mehr
auf die Dimension der Rechtsphilosophie und Ethik ab.
Ebach übernimmt die
These Crüsemanns, die Vv. 24-25 brächten einen protestierenden späteren
Einschub in eine frühere Textschicht, die von der Regelung des
geldlichen Ersatzes ausgehe. Die jünger anmutende Schicht des
Schadenersatzes entpuppt sich also als die ältere, die archaisch
wirkende der strikten Talion aber als die in Wahrheit jüngere Schicht.
Warum jedoch diese
scheinbare Re-Archaisierung des Rechtes, das in Lehre und Praxis niemals
den Vollzug der strikten Vergeltung kannte und kennen wollte. Belegen
doch vielmehr die rabbinischen und talmudischen Diskussionen die
Absurdität aller Versuche, eine solche Forderung strikter Vergeltung
real und praktisch werden zu lassen. Die Gemara B.Q. 83b/84a diskutiert
einige der Absurditäten, z.B.: wie soll man zu einer Äquivalenzregelung
kommen angesichts der natürlichen Tatsache, daß zwei Augen nie gleich
groß, sondern immer im Verhältnis größer oder kleiner sind. Was soll
man tun, wenn der Schädigende bereits blind ist, wie soll er den
Schaden eines Augenverlustes, den er zufügt, „wiedergutmachen“?
Oder: Wie soll man zu
einem gerechten Ausgleich finden, wenn ein Einäugiger entweder schädigt
oder geschädigt wird? Verliert er ein Auge und somit sein ganzes
Sehvermögen, muß dann der Schuldige auch erblinden oder nicht? Ist
aber der Einäugige der Schuldige und bringt seinen Nächsten um ein
Auge, darf man ihn dann mit dem Verlust des einzigen Auges
sanktionieren, obgleich diese Sanktion doch unverhältnismäßig wäre?
Usw., usw.
Obgleich also eine
Realisierung der strikten Talion nicht möglich ist, hält die biblische
Glosse mit ihrer archaisierenden Formel an ihr fest. Sie mahnt damit an,
bei jedem Vollzug monetären Schadenersatzes der Diskrepanz eingedenk zu
sein, die zwischen dem Schaden und seinem Ersatz bestehen bleibt. Jede
finanzielle Schadensregelung kann nur eine Annäherung an die Äquivalenz,
keine wirkliche Entsprechung realisieren – einzig ein Leben könnte
ein Leben ersetzen. Ein Schaden mag zwar hinsichtlich seiner Folgen
gemildert, er kann aber schlechterdings nicht „wiedergutgemacht“
werden.
Vielleicht sollte man
ganz auf das Wort „Entschädigung“ verzichten, weil es suggeriert,
es könne ein Schaden aus der Welt fortgeschafft werden, und stattdessen
konsequent von Schadenersatz sprechen, denn das Wort „Ersatz“ zeigt
ja gerade an, daß der Schaden nicht zum Verschwinden gebracht werden
kann.
Ein Schaden, jeder
Schaden bleibt der Wirklichkeit eingezeichnet. Aber gerade diese
Unaufhebbarkeit des Schadens markiert sowohl die Notwendigkeit als auch
die Grenze des real praktizierten finanziellen Schadenersatzes.
Zuletzt wäre zu fragen,
worauf die Unaufhebbarkeit jenseits der Grenze des Ersatzes denn
verwiese. Sie verweist auf die Notwendigkeit der Vergebung, so zumindest
könnte man die Mischna B.Q. 8,7 verstehen:
„Obgleich er ihm eine
Entschädigung zahlt, so wird ihm dennoch nicht eher vergeben, als bis
er ihm Abbitte geleistet hat.“
Nur das Zusammenspiel von
Ersatzleistung und (gewährter) Vergebungsbitte tilgt den Schaden, und
somit befinden wir uns theologisch im Vorfeld von „Jom haKippurim“.
Anmerkungen:
-
Benno
Jacob, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, 661-673. Stuttgart 1997,
661-673.
-
Die
Opposition „alt-neu“ wird in dt. Bibelübersetzungen auch
dadurch befördert, daß die entsprechende Passage Mt 5,38ff. mit Überschriften
wie „Von der Vergeltung“ oder „Gebot, nur maßvoll zu
vergelten“ (letztere Überschrift steht in der „Guten
Nachricht“) versehen wird.
-
Zu
welcher ethischen Absurdität es führen kann, wenn man die
Umdeutung und Kontextänderung nicht hinreichend beleuchtet und die
Kontexte unscharf hält, zeigt ein Zitat von Eduard Schweizer, das
Mt 5, 38ff deutet: „Bei Jesus ist wieder die Ausrichtung auf den
andern eindeutig; es geht ihm um die zerbrechliche und stets gefährdete
Gemeinschaft, die durch die Anwendung der Gewalt, und wäre es die
rechtliche der Klageerhebung und des Prozesses, so oft Erbitterung,
Gegengewalt und eine sich steigernde Eskalation hervorruft, die in
die Katastrophe führen“, ders.: Die Bergpredigt, Göttingen 1982,
46.
-
V.33:
„Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, was für einen
Dank habt ihr?“
-
Leider
meinte auch Calvin sich antijudaisch vergaloppieren zu müssen, als
er in der „Institutio“, Mt 5 interpretierend, bemerkte: „So
unterwiesen die Pharisäer ihre Jünger zum Begehren nach Rache“
(Inst. IV 20,20).
-
Ebd.,
661. Die Regelung, das je erste Glied der tachat-Formel mit
„Ersatz“ zu verbinden: Lebens-Ersatz, Auges-Ersatz,
Zahnes-Ersatz usf. werden dann Buber/ Rosenzweig in ihrer Bibelübersetzung
übernehmen, wie insgesamt deren Übersetzung in einigen
sprachlichen und theologischen Entscheidungen auf dem Kommentar und
der Übersetzung B. Jacobs aufruht. Gerade auch die
„Namenstheologie“, das Tetragramm mit „ICH“ „DU“,
„ER“, „SEINE“ usf. (groß und gesperrt geschriebene
Personal- und Possesivpronomona) wiederzugeben, fußt auf
theologischen Einsichten Jacobs.
-
Nur
drei Handlungen brechen diese Hierarchie, denn jene zu vermeiden
rangiert höher als die Lebens- und Selbsterhaltung: wenn jemand
unter der Drohung des Todes gezwungen wird, den Ewigen zu lästern,
einen anderen Menschen zu morden oder zu vergewaltigen, so hat er/
sie das eigene Leben daranzugeben.
-
S. R.
Hirsch, Der Pentateuch, 2.Teil: Exodus, Tel-Aviv 1986, 241.
-
Wir
geben im folg. Crüsemanns Ausführungen wieder, die er publiziert
hat in : Ders.,
„Auge um
Auge...“ (Ex 21,24f), Zum sozialgeschichtlichen Sinn des
Talionsgesetzes im Bundesbuch, Evang. Theol. 47.Jg., Heft 5, 1987,
411-426.
-
Das
Bundesbuch insgesamt ist älter und entstand erst nach der
Staatenbildung Israels im 9.Jh., denn erst mit dieser gab es
Sklaverei in größerem Umfang und damit auch die Notwendigkeit
ihrer rechtlichen Regelung.
-
Jürgen
Ebach, Der Fluch des Christentums? Gewalt und Gewaltlosigkeit in der
Bibel, Vortrag v. 18.1. 2001, gehalten in der ESG Bielefeld.
Vortrag
auf der Tagung des ISAK
(Intersynodaler Arbeitskreis Christen und Juden)
am 18.03.2002 im Haus der Kirche, Köln
|