Fundstücke aus Murpel & Oblomows Zettelkasten


 

 

Traum und Frühstück

 

Diktatonitis

 

 

Traum und Frühstück

Der Tag begann trüb, Reste von Nebel hielten sich auf dem Gehsteig. Die kleinen, halslosen Ungeheuer - wie immer lärmend.- marschierten in kleinen Kolonnen zum Spielplatz: ein Stück ausgetretene Wiese, Rutsche und ein paar alte Reifen um die aschkalte Feuerstelle.

Beim genauen Hinsehen blinkte es metallisch, eine Zahnspange vielleicht? Schon verschwand, besser: verschwamm - in kurzen wellenförmigen Irritationen - dieser Eindruck. Welle? Optischer Zerhacker? Was verbürgt die Identität des Geschauten (Gescheuten?), zeigt es sich doch jeweils ver-rückt. 'Augenzittern', Nystasgmus? - der Augenarzt sollte wieder mal einen Kongreß besuchen, vielleicht den zur 'ophtal- mologischen Futurologie' in Lem (Pol.). Oder hat ihn die modallogische Paranoia ergriffen? Schlingernd erfaßte der Blick einen größeren Ausschnitt dessen, was das Fenster preisgab, streifte den Rahmen, raste über die Decke und Murpel lag rücklings wieder im Bett.

Üblicher Unfall - er sagte als Kind immer "Umfall", aus guten, offensichtlichen Griinden. Man übezeugte ihn eines Besseren und so wurde es mit seiner Sicht problematisch. Auch der Vorenthalt künstlicher Linsen verhinderte nicht die Erarbeitung seiner 'Phänomenologie der Trugnehmung', leider nur als Privatdruck erschienen und schon längst vergriffen ...

Kalt, es zog fürchterlich, Hupen und Autolärm drängten ins Ohr. Bloß im Hemd stand Murpel in der 'Heine-Buchhandlung': ein vergilbtes Exemplar seines Werkes in der Hand. De Gruynter 19... - Erschütterungen des Focus gaben die letzten Zahlen nicht preis.

"Eh, aufstehen, nicht weiterschlafen, der Turm hat Sehnsucht nach Dir!"
- "Hmmm - jaa, bißchen noch." Er fand jedoch die Tür der Buchhandlung nicht wieder, nur holzverrammelte Eingänge in der Jebenstraße, keine Passierscheine mehr. Dann doch lieber aufstehen.

Durch die leeren Flaschen des Vorabends bahnte er sich einen Weg zur Dusche: wohlig, warmes Wasser. Nur das dröhnende Leitungssystem erinnerte eindringlich an die Züge vom Bahnhof Zoo - über der Buchhandlung! In dieser tat die Sprinkleranlage gerade ihren - völlig überflüssigen - Dienst. Die herrlichen, alten Bücher tranken das Wasser in vollen Zügen, füllten fasrige Bäuche, daß die Einbände krachten. Mit beschlagener Brille, atemlos panisch, fiihlte Murpel mit den Fingerspitzen wie sich die Buchstabenordnungen ent-setzten; eine Orgie von Permutationen: die Vorrede zur'Kritik der reinen Vernunft' mischte sich, kopulierte geradezu mit dem Freudschen 'Witz', woraus ein Ecosches Gelächter entsprang, welches breitseitig in die 'ND' hüpfte und nicht mehr gesehen ward.
Murpel ahnte dies alles nur im warmen Wasserdampf, der sich nunmehr gänzlich auf seine Atemwege legte. Dröhnender Husten ließen ihn aus seinem Duschtraum erwachen, das halbe Bad stand unter Wasser.

Oblomow bereitete gerade das Frühstück vor: Espresso, Aspirin, Brötchen, Fisch, Käse und Marmelade, das Übliche halt. - "Is' was?" brach er das kauende und schlürfende Schweigen. Murpel suggerierte freischwebende Aufmerksamkeit und schwieg, rückte die Tasse zur Seite und mit dem Drehen der ersten Zigarrette schob sich verräterisch ein Lächeln in sein Gesicht.
- "Im Turm gibt's viel zu tun, aber... ich träum' in letzter Zeit wieder von Berlin und von einer Arbeit, die ich geschrieben haben soll.....`

In hoher Frequenz verschwand und erstand das Frühstückschaos in seinem Blickfeld. Gibt es eigentlich eine Untersuchung nystagmatischer Noemata? Er griff nach einem Stück Transzendetalkonfekt und betrachtete gedankenverloren - aber nun ruhigeren Blickes - seine Fingespitzen: Druckerschwäne? - nein, kleine Buchstabenreihen, fein geschwungen im Rhythmus seiner Papillarien.

- "Roll' mal ein Stück Tesa aus". Oblomow schaute verdutzt, folgte jedoch kommentarlos der Aufforderung. - "Werte das bitte nachher im Davinciograph aus". Oblomow nickte.

"Ich muß zum Dienst" Murpel zupfte seine Fliege zurecht, griff zum unentbehrlichen Terminkalender und ließ sich an der Feuerwehrstange auf die Straße herunter. Hüfthoch wogten die Nebelschwaden, von den kleinen Ungeheuern gewahrte er nur kreischende Haarschöpfe.

 

 

Diktatonitis

 

 

"Sehr geehrter Herr Kollege ... wir berichten Ihnen über o.g. Patienten, der sich vom..... Diagnose: Narzißtische Persönlichkeitstörung... Die Psychotherapie fand in Einzel- und Gruppengesprächen auf einem tiefenpsychologisch fundierten Verstehenshintergrund statt. Der Patientin gelang es.... gleichwohl... zudem, dennoch kann davon ausgegangen werden.... Das 'flaue Gefühl' in der Bauchgegend läßt sich als körperbezogenes Angstäquivalent deuten... Der Patient war zum Erbrechen ..."

Wie bitte? Sanfter Druck des Daumens nach oben, das rote Lämpchen erlischt, leisen Surren, geringer Druck nach unten: "Der Patient reagierte mit massiver Abwehr..." Die Augen schließen sich fast, es blättert im Kopf, semantische Tunnelrutschen bieten sich zur Bahnung an. Wieder daneben. 'Bahnung' ist doch ein anderes Fach, anderes Thema, Verhaltenstherapie oder? Nein, der alte Freud war doch auch Assoziationspsychologe; halbvergorenes Wissen taucht schemenhaft auf, zerfleddert vom vielen Andenken und nie zu Ende zu bringen. Glich dem löchrigen Bild des Alten, der doch so gerne in Wien gestorben wäre. Aber was schert der den, der diesen Bericht - mit vielen Durchschlägen - vielleicht lesen, sicherlich jedoch ordentlich abheften wird. Braune Packpapierumschläge mit kleinen Beulen, wo sich die Minibänder abzeichnen, braune Packpapiermappen...

Daumen, Augen, jetzt also der Magen. Magensäure hebt die weiße Bleiche ins Angesicht, macht - genau: 'macht' - diese Unfarbe, die sich weniger sehen, aber riechen läßt. 'Synästhesie': Zusammenspiel und Vertretung der Sinnesvermögen, hat erst einmal gar nichts mit Himbeermarmelade.. lade... lade der Kindheit zu tun.

'Platsch' - wieder einen Umschlag in die Ablage am Fußboden. Oblomow erwacht aus seeligen Träumen, reibt sich die Augen: "Wo sind wir?" - "Noch zwei, dann bin ich bei ‚W‘ - aber mach' schon mal 'nen Espresso".

"Prognostisch gesehen... weitere krisenhafte Entwicklung nicht auszuschließen" - Ja, ja - immer mit doppeltem Boden arbeiten. Wer war das eigentlich noch mal? Es lächelt, Schluß mit der miesen Stimmung. Die Erinnerung ziert sich immer so, neckisch lupft sie an ein paar geschriebenen, kaum lesbaren Notizen und Bilder erscheinen - zuerst zögernd holzschnittartig, dann kontur- und farbenreicher, bis Mimik, Gestik, Blicke sich geradezu aufdrängen. Sogar die Stimme, wenngleich mehr ihre Mefodie, weniger semantisch relevante Sätze, läßt sich vernehmen. Geht es denen wohl älinlich?

Dummheit ärgert, besonders wenn sie selbstgefällig daherschlurft. Da bekommt die holding function Spriinge. Der Nacken schmerzt. Wer war das noch mal? Kein Bild; zuerst das fröstelnde Gefühl von Abwesenheit, dann zwei tränenlose Augen - leer. "Was hindert mich, diesem Sog nicht einfach nachzugeben und (mit) in den Abgrund zu stiirzen?" - "Sprichst Du von deiner Patientin oder vom Sartre-Seminar?" Murpel runzelte die Stirn: "Es käme darauf an, ob man ihn zu lesen verstünde" und schlürfte genüßlich den frisch Gebrühten.

Woher kommen diese Fragmente? Sie gehören zu R.,
in dem Abenteuer:

 

"Essen in der semantischen Badewanne"

"Die Fälle von Murpel & Oblomow"

 

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