Treffpunkt Tunnel

Klick - zwei Finger schoben sich durch die grauen Lamellen einer Jalousie, träge folgte der Blick über die Straße in die schwankenden Fenster gegenüber.

Ein obligatorischer Blick, der nichts - trotz aller Anstrengung - zu erkennen vermochte; eher der Versuch, die Blicke aus den Fenstern gegenüber zu bannen. Im gläsernen Aschenbecher qualmte eine Selbstgedrehte. Klack - die beiden Finger, etwas rissig, müde wie der Rest, griffen die Nikotinierende, ein tiefer Zug: Schluß jetzt, auf geht's! sprach es zu sich selbst. Hinaus, Tür abschließen, durch den schmalen Gang - an der anonymen Nachbarschaft vorbei - die Treppe hinunter. Die rechte Hand faßte das Kindergeländer, die Doppelung des Handlaufs war monatelang gar nicht aufgefallen, aber wieso fand der Griff dort seinen Halt - kleiner geworden? Wirklich, der Mantelsaum klopfte im Rhythmus der Schritte an die Fersen, ob das noch schlimmer wird? Lovecrafts 'Ding auf der Schwelle' fiel augenblickshaft durch den schmalen Schacht der Aufmerksamkeit und fiel - G'tt sei Dank - hindurch.

Trapp, trapp, trapp! die Holztreppe macht so schön Krach, noch durch die schwere, quietschende, von einer Feder gehemmte Eingangstür: draußen. Elsa, eine Riesenmotte und Hanibal, die Fledermaus hockten ziemlich übernächtigt auf dem Geländer, nahmen die Störung zum Anlaß, sich zu verabschieden: "man piept sich, tschüß!"

Irgendetwas stimmte nicht. Das Schulterhalfter saß zu locker, schlackerte fast am Oberschenkel. Wo kamen nur die Kinderschuhe her, die paßten ausgezeichnet. In die Verwunderung hinein grüßte eine Patientin, einen Regiesessel hinter sich her ziehend.Ihr bandagiertes linkes Bein - größer als sie selbst - drängelte zur Therapiestunde, andererseits humpelte sie nicht - noch waren drei Beine unterwegs. Tief durchatmen, Augen zu - auf, ein verstohlener Blick in die Gegend: Villa 'Vue sauvage' unverändert, wirkte nur irgendwie größer, mächtiger als sonst. Wieso waren eigentlich die Mantelärmel umgenäht?

Weiter. Post holen. "Mahlzeit" - "Mojn!" Unappetitlich, dieses Mahlzeit, hörte sich nach undefinierbarer, bindemittelgesättigter Kantinensoße an, der Klang des Wortes weckte Geruchsassoziationen: Sparkasse. Hauptgebäude, enger Fahrstuhl, einer dieser großen, aufgeschwemmten, Anzug und Krawatte wie ein Fell tragenden Abteilungsleiter trat hinzu, füllte den allzu engen Raum mit seiner Selbstgefälligkeit und dann "Ma....". Da war es mit dem 'Mojn' doch viel einfacher, morgens, mittags, abends, kurz und knapp - einfach mojn.
Hoppla, die Glastür war ja schon erreicht - gut, daß sie offen stand. "Schirme, bitte im Ständer abstellen", erste Tür: plexibeglastes Telefon und der scharfe Geruch aus dem Kaffeeautomaten. Ein mausgrauer Läufer lockte mit einer umgeknickten Kante die Eintretenden zum Sturze. Links über der Heizung, auf einem Bord, saß eine Katze: grün-weiß gestreift, mit zwei Köpfen sich gegenseitig den Bart und über die Augenlider leckend.

Ordnungsheischender Diensteifer rührte sich: die Katz' unten in der Ambulanz abgeben? Doch warum soll man den Psychotikern immer ihre wahnhaften Projektionen hinterhertragen? Langsam, das leise Geräusch gegenseitigen Leckens zurücklassend, löste sich die Katze auf - na also, anscheinend hatte ein Patient gerade seine Medikation erhalten.

Pforte verschlossen. Wo war bloß der Schlüssel - es klappert doch unten am Fußgelenk? Klickklack. Rechts die Postfächer, zweites von oben - 'oben'?!, ein Enterseil war wieder nicht zur Verfügung. Was tun? Um sich schauend fiel der Blick auf die andere Seite des, durch ein tischhohes Bord geteilten, Pfortenhäuschens. Ein großer Felsblock lag, kaum atmend, auf einem formschönen Sitzmöbel: Petrifizierte Depression, von der keine Hilfe zu erwarten war. Freundliche Augen hinter einer Goldrandbrille, den Postkorb am Arm, betraten den Raum - endlich die Post. Reklame, Reklame, Prospekte, der "Night Mirror of the Cats" nebst einer Mausefalle - immer diese Werbegeschenke. Letztes Jahr gab's den Dosenöffner für die vernachlässigte Katz, mit der Aufforderung mitzuteilen, ob er sich links- und rechtspfötig gleich gut bedienen ließe. Ein Brief noch, aber bevor sich die Adresse entdeckte, wurde es eng in der Pforte: Vermeintlich leichtfüßig rollte ein Brummkreisel heran, farblich fein daneben abgestimmt, stimmlich eher kreischend als sonor summend - drei Kinder in der Eingangshalle nahmen umgehend - Erdbeereisflecken zurücklassend - reiß aus. Der Kreisel griff mißtrauisch nach seiner Post und verschwand. Die Differenz im Modus des Verschwindens - zwischen ihm und der Katz' vom Eingang - könnte nicht größer gewesen sein.

R. betrat den Raum, verteilte eilig ein paar Kopien, hatte ihn gar die 'schwere Not' erwischt, er wirkte so gehetzt. Heimlicher Blickkontakt und ebensolcher Austausch eines Briefchens. Schon war er weg. Briefchen? Pustekuchen - nur ein Stück abgerissenes Packpapier - hatte wohl wieder eine Büchersendung bekommen, die er nicht bezahlen kann. "Sei in zwei Stunden im Tunnel, pünktlich! R."

Es ging wieder los! Gedankenversunken entging der Aufmerksamkeit, wie sich Hänsel und Gretel, ein abgerissen-häßlicher Troll sowie eine schal-schöne Prinzessin in Richtung Keller bewegten. Gleichermaßen blieb unbemerkt, wie Schwester Sabine von 'oben' einen großen Bogen um den Troll schlug - die letzten Püffe hatten ihr gereicht - während eine Weißgekleidete von 'unten' mitten durch den hageren Hänsel hindurchging. Seitdem es die Märchenstunde gab, lag ein mittelalterlicher Zug über dem Haus. 'Zug über dem Haus?' - genau: unsere Technofreaks wollten ja einen Magnetschienenbahn- Anschluß zum Speisesaal. Da könnte R. direkt - mit einem Patientenfrühstück in der Hand - bis zur Philharmonie in Berlin düsen. Nur Hanibal und Elsa, nacht-grüne Landbewohner, hatten Einspruch eingelegt.

Oh je, muß das sein? Dr. Alfred Anankastus kam direkt auf ihn zu (ihn? um wen geht es hier eigentlich): weißer, hochgeschlossener Kittel, den nackten Schädel etwas schief; das bekannte, maskenhafte Lächeln schob sich langsam ins Gesicht. 'Guten Morgen' - 'guten Morgen', geschafft, das Ritual war beendet. Hatte er nicht die Veränderungen an der Gestalt vor ihm gesehen? Umso besser. Im Weggang zeigten sich im Kittelrücken des Doks zwei fast symmetrische Risse, durch die sich, im Einklang mit der Schrittfolge, Lederjacke und Netzstrümpfe zeigten - schwarze Netzstrümpfe auf grauer, spärlich behaarter Beinhaut. Muß das sein? Das angedeutete Kopfschütteln erstarb, da war sie wieder: die grün-weißlich gestreifte Katze mit den zwei Köpfen, etwas größer vielleicht und... an den Hinterläufen zierliche Hufe und... Ziegenhörner! Wie war das nochmal mit der "Gestalt eines mannigfaltig zusammengesetzten und vielköpfigen Tieres, das ringsherum Köpfe von zahmen und wilden Tieren trägt und imstande ist, sich zu verwandeln". (Er sollte sich doch wieder mal den alten Griechen unters Kopfkissen legen.) Immer noch besser eine solche Chimäre als die feucht klebrigen, unförmigen Tonklumpen, die sich damals über die Treppen, aus dem Keller der BT kommend, nach oben ins Stationszimmer schleppten, um dorten über phantasielose Patienten Klage zu führen: Schwester Adelheit stellte gerade Tabletten. Nach der 'Begegnung' nahm sie ihren Jahresurlaub, es ging ihr dann wieder besser, sie meidet Keller, lehmige Wege, kleine schmutzige Kinder und einiges andere. Sie war noch lange im Hause... stationär.

An dieser Stelle eine Bemerkung aus dem Off: um wen geht es hier eigentlich? Die Herausgeber von 'The Private Eye' haben keine Kosten und Mühen gescheut - sich nur die Veröffentlichungsrechte gesichert - um die Identität des Protagonisten vorliegenden Berichtes herauszubekommen. Es ist oder war, sein jetziger Aufenthalt liegt im Dunkeln, Murpel Oblomow. Er gehört zur seltenen Spezies der Zwielinge, nicht mit dem Sternkreiszeichen Zwilling zu verwechseln. Die Frage nach seiner Identität scheint von vornherein falsch gestellt, denn er ist ein 'achtes Dividuum': mal existiert er einfach, dann wieder in zwei Personen, Murpel und Oblomow. Über die Herkunft wissen wir wenig: irgendeine Ofenbank unter dem Sternzeichen der Kassiopeia zwischen Transsylvanien und Murpelpotanien. Prof. Siegfried Ofenholz hatte bekanntermaßen über diese untergegangene Kultur der Murpel geforscht, seine Funde aber nicht veröffentlicht, so daß außer dem legendären Interview im italienischen Fernsehen (RAI 1976) nichts bekannt wurde. Von seiner letzten Forschungsreise im Frühjahr 1977 kehrte er nicht mehr zurück. Schuhe und seine heißgeliebte Zahnspange fanden sich in der Nähe einer verschütteten Erdhöhle auf einem tellerähnlichen Gebilde, dessen eingravierte Zeichen sich einer Deutung bis heute entziehen; ebenso versagte die C 14 Archäologie.
Charles Dexter Ward behauptet felsenfest, in Neuengland eine verwandte Kultur entdeckt zu haben. Nur wissen wir aber, was wir von diesem 'Wissenschaftler' zu halten haben, dem es bislang nicht einmal gelang, den Vorwurf, er sei nur eine Romanfigur, zu entkräften.
Wie dem auch sei, verläßlichere Spuren finden sich von Murpel in den achtziger Jahren in Berlin (damals noch Berlin-West). Eine gewisse Frau Schneg hält Briefe von M.Os. eigener Hand unter Verschluß, zu einem Interview war sie bislang nicht bereit. Ende 1990 schleuste R. den Zwieling in Q ein, aus dieser Zeit stammen wohl auch die vorliegenden Aufzeichnungen. Q muß nach unseren Recherchen eine Millionenstadt in Norddeutschland sein, ein Kino mit gut abgehangenen Filmen und als Sehenswürdigkeit, eine periodisch brennende Fahradfabrik.

Murpel bewegte sich nach draußen. Durch den am Boden schleifenden Mantel schien er zu schweben oder trug er Rollschuhe? Strahlendes Licht einer weißen Sonne am klaren violetten Himmel, er nahm auf dem Regiesessel, den ihm die bereits erwähnte Hysterikerin überlassen hatte - ihr Bein war schon kleiner geworden - platz. Langweilige Artikel im 'Mirror', ein Blick auf die schuhkartongroße Küchenuhr: noch 50 Minuten bis zum Treffen im Tunnel. Aus der nahen Krankenpflegeschule stolzierte, tippelte oder watschelte - je nach dem - junges Geflügel heran, unter den Federn die Kolleghefte, sie verteilten sich nun auf die Stationen, um Patienten zu ärgern.

Prof. Tegaip - Mongole mit schweizer Paß - machte seine Runde, an der Leine zerrten Assi und Akko: ersterer warf Förmchen über Büsche, Bänke und Passanten, die zweiterer wieder zurückholen mußte, wobei er häufig verprügelt und die Förmchen demoliert wurden. Die vermeintliche Unsinnigkeit dieser Szenerie gründet in einem sogenannten rethelschen Theorieunfall, als die sprechenden Hunde des frankfurter Grafen Wiesengrund sich in der Beschwörung einer Realabstraktion versuchten. Fast wäre Tegaip mit Dr. Petrus Vischer - mit V, wie er immer betonte - zusammengestoßen. Dieser meinte nur: "Gut so, weitermachen! und nicht die Bilder vergessen, schön raufen, Himbeermarmelade! Tschüß." Schon war er weg, jedoch nicht, ohne einen kräftigen Klaps auf Murpels Rücken zu hinterlassen - ein dritter Modus des Entschwindens.

Auf dem Sessel engte es, Murpel doppelte: Oblomow, sich den Schlaf aus den Augen reibend, begrüßt mit einem unmäßigen Gähnen den jungen Tag - es war Mittag. Aus den Untiefen seines Trenchcoats zog er eine halbleere Weinflasche - Chatêau sowieso vom Rücken schnallte er ein Klapptischchen, auf dem dann das restliche Frühstück angerichtet ward: Schwarzbrot, Butter, Pilzpastete, Gürkchen, etwas Käse und ein paar Scheiben Marmorkuchen, eine Kleinigkeit halt. Murpel trank bereits den dritten Espresso, leider zu kalt. Das Café war vier Minuten entfernt, die Bedienung nicht nur groß-, sondern auch schwerfüßig. Nervöses Trommeln auf die Eieruhr, die nunmehr die Größe eines Hydranten erreicht hatte. Time!: Stuhl, Uhr, Rollschuhe (also doch) wanderten auf die Müllkippe neben dem Eingang, Oblomow packte mürrisch sein Frühstück ein. Von der Kippe vernahmen sie ein helles, gellendes Fiepen. - "Wir sind Rattus Rex noch zwei Flaschen schuldig". Murpel antwortete nur ein abwesendes "Hm", war mit den Gedanken schon weit voraus.

Wieder durch die beiden Eingangstüren, rechts, links um einen Tisch herum (zwei Psychotiker kommunizierten - mit ihren Tonpfeifen Rauchzeichen gebend - zufrieden aneinander vorbei) ... die Treppe hinunter dem Keller zu: Die große, schwere, grüne Tür - wär's doch schon vorbei. Murpel rutschte selbst in seinen Kinderschuhen, der Bogard-Browning im Halfter vermittelte ihm kaum Sicherheit. Angst mäanderte, sich vergrößernd durch die kleinen grauen Zellen. Wieder ein Federzug, feuchter, sickigwarmer Dampf schlug ihnen übelriechend entgegen. Oblomow kämpfte mit seinem Magen und gewann. Zweimal links, dann rechts oder umgekehrt, gut einen Meter vor dem Gitter hing ein zerfranstes Hanfseil von der Decke herab, Murpel kletterte auf Oblomows Rücken und zog. Unwillig quietschend bewegte sich das rostige Gitter aufwärts, noch einen Schluck aus der Flasche und hindurch. Zwei graugekittelte, blasse, bölkstoffgetränkte Arbeiter schoben mäßigen Tempos Mineralwasserflaschen und unruhige Straußeneier auf kleinen Wagen vor sich her. "Mojn" - "mojn". Ziemlich viel los, hier unter der Erde. Bleuler zitierend hüpfte ein netzbestrumpftes Männerbein auf sie zu, irgendetwas von abgebrochenem Absatz, kätzischem Mistvieh und schwarzen Augen plappernd. Dann Stille - bis auf das weiße Rauschen der frei verlegten Versorgungsleitungen.

Flackernd änderte sich die Farbe des Neonlichtes in ein blutentleerendes Grün, Linolium ging in Parkett und dann in Kopfsteinpflaster über. "Mir ist kalt." - "Mach den Mantel zu!" Es roch modrig, Boden und Wände, von denen das Wasser herunterlief, schienen uneben. Da war was: zwei weiße Laborratten, gerade noch Freunde auf der Flucht, prügelten sich nun um ein Straußenei, unsere beiden Freunde nicht beachtend. Andersens Tannenbaum delierte nadelwerfend in einer Ecke: "Kerzen, wo sind die Kerzen und meine schöne goldene Spitze?" Kaum zu glauben, Hannibal hatte hier unten seine Zweitwohnung, bot sich Ruhe aus, ohne aber selbst genau zu wissen, an wen er seine Tirade richtete. Oblomows großes, durchnäßtes Schuhwerk quatschte, wollte zurück in der Kinderabteilung von 'Salamander', Sandkasten, Weinkeller, das ging ja noch, aber dies hier...

Fünf Minuten waren erst vergangen, es kam ihnen viel länger vor. Oblomow wollte gerade halbverdautes Wissen über die Lorentzsche Zeitdilatation vom Stapel lassen (gegenüber Murpel beschlich ihn häufig ein kompensations-heischendes Minderwertigkeitsgefühl) da öffnete sich rechts ein dämmrig beleuchteter Gang. Mitten auf der Weggabelung lagen Rs. Schuhe, seine Brille und etwas entfernt, ein abgerissener Ärmel seiner Lederjacke. Diese zu befragen, schien sinnlos, sie hatte bereits das Ledrige gesegnet. Murpels Kehlkopf gab ein gequältes Geräusch von sich, Oblomow versuchte zu scherzen: "Gut, daß er keine Zahnspange trägt". Ein Windzug, Hanibal gesellte sich zu ihnen, ohne irgendetwas sagen zu können. Kam gerade vom Frühstück, Dosennahrung B, Rhesus negativ. Wollte seine Ohren offenhalten, flog von dannen, während Murpel und Oblomow dem geheimnisvollen Gang weiter folgten...

 

Café 'Prosatal'

Sie saßen an einem abgestoßenen, ovalen Tisch, auf einem Fetzen Wachstuch zwei riesige Biergläser. Immer noch wunderten sie sich darüber, wie sie wenige Meter innerhalb des dämmrigen Ganges vor einem Schild 'Café Prosatal' standen - nie davon gehört. Kurz darauf eine gläserne Drehtür, hinter der ihnen Lärm sogenannter Musik und der Qualm diverser Tabakwaren betäubend entgegenschlug. Verstohlene Blicke in die Runde. Schon näherte sich ein Kellner, das Schmerzen seiner Füße stand ihm ins Gesicht geschrieben, Chatêau sowieso hatten sie nicht, also zwei Bier, schlurfend schlich das hagere Wesen von dannen.

Da saßen sie also, von R. keine Spur, nur am Tisch gegenüber Prof. Tegaip mit etlichen Glasbehältern hantierend - hohe schmale, flache breite und einer Karaffe Waldmeister. Schon wieder grün, Oblomow schüttelte sich. Anscheinend versuchte Tegaip etwas zu erklären, schüttete dauernd die Flüssigkeit um. An seiner Seite hockte ein Kind, nicht gerade sehr aufmerksam, wie es Murpel vorkam. Dieser wollte sich schon abwenden, da stutzte er: Kind? Nun ja, es hatte einen olivfarbenen Strampelanzug an, darüber eine schwarze, halblange Jacke mit großen, abgegriffenen Messingknöpfen, aber dieses Gesicht...: hell und rundlich, aber nicht mit der Haut der üblichen frittengemästeten kleinen, halslosen Ungeheuer, sondern durch und durch haarig, feines goldblondes Haar an allen - zumindest slchtbaren Hautpartien. Ein Fellchen, eigentlich zum Streicheln einladend, doch zögerte die imaginierte Handbewegung beim Anblick dieser Augen: schwarzumrändert, aber ebenso geädert, riesige fast spiegelgleiche Pupillen, das ganze Café war darin zu sehen, eins schien grün, das andere wasserblau. Lange Wimpern umrahmten einen stechenden, bösen Blick. Die Nase, klein mit länglich offenen, schnuppernden Nüstern, links ein schmaler Ring, von dem eine feingliedrige, rotgoldene Kette, lose hängend zum Ohr führte. Dieses unverhältnismäßig groß, oben schwärzlich und spitz zulaufend, aber mit großer Beweglichkeit, lauschte ständig kreisend an dem Gerede von Tegaip vorbei in die Runde. Der Mund war breit, sehr breit, violett schmallippig, ab und an zeigten sich - in Korrespondenz mit dem Blitzen der Augen - zwei Reihen blendend weißer, spitzer Zähne. Murpel blickte unwillkürlich auf seinen Zeigefinger ... er kannte dieses Gesicht, wenn auch nur als momenthaften Schatten.

Damals befand er sich mit R. in London, den Fall der plötzlich ergrauten Bärenfellmützen hatten sie abgeschlossen. Oblomows Weinfahne brachte die Queen einem Ohnmachtsanfall nahe, was sich dann im Honorar schmerzhaft niederschlug. Eine Bruchbude in Eastend war deshalb ihr Domizil. Eines nachts, man hatte sich über die Bedeutung englischer 'gothic novels' zerstritten, nahm Murpel verärgert seinen Mantel und spazierte im Viertel umher. Wie er auf den Friedhof kam, wußte er bis heute nicht, jedenfalls fand er sich dort auf einer Bank, im zerfledderten Exemplar seines 'Melmoth' lesend, wieder. Da vernahm er das Geräusch eines Zwiegesprächs. Geräusch, weil er kein Wort verstand: gutturale Kehllaute mit schmatzenden Unterbrechungen und ein leises Wispern, das sich mit höhnischem Gekichere ab und an selbst unterbrach. Vorsichtig näherte er sich der Lautquelle, stolperte dabei jedoch über eine listig liegende Baumwurzel, die sich sofort wieder zurückzog, und fiel einem grabsteinernden Engel fast in die Arme. Dann ging alles sehr schnell: ein Stein wurde gewälzt, unter dem - nur als Schatten erkennbar - ein Pferdekopf verschwand; für den Bruchteil einer Sekunde sah er aber - im vollen Licht des Mondes - zwei schwarze Augen, die ihm einen mitleidig-bösen Blick entgegenschleuderten, die beiden Zahnreihen entblößten sich und schon war das Wesen verschwunden, hatte sich in einem mächtigen Satz auf die Friedhofsmauer katapultiert. Ein schweres Motorrad war das letzte, das er vernahm.

Nur verspürte Murpel im kurzen Blickkontakt mit dem vermeintlichen Kind vom Nebentisch kein Wiedererkennen. Hatte er damals vielleicht nur geträumt, war dies hier nur ein Traum - 'dies hier': Leser/in träumst Du?

Wie zur Selbstvergewisserung stieß er Oblomow mit der Schulter an "He, schau mal.." Der Angesprochene gewahrte im flüchtigen Blick nur die Hände des 'Kindes' und verschluckte sich fast an seinem halbleeren Bierglas. Prof. Tegaip schien das alles nicht zu irritieren.

Murpoblomow nahm(en) jetzt die Spelunke genauer in Augenschein. Es war ein quadratischer Raum, etwa achtzig mal achtzig Pfoten (ein altes murpel-potanisches Längenmaß, ca.0,876 Fuß).
Ein casablancinischer Deckenventilator durchpflügte in kierkegaardscher Verzweiflung die rauchgeschwängerte Luft, die ab und an phantastische Pareidolien gebar. Links von ihnen eine Theke mit verschiedenen Alkoholika in Flaschen, eine dampflokähnliche Espressomaschine und fünf große Kaffeekannen - von Kaiser - nebst weißen Porzellanfiltern. In der Ecke, kaum sichtbar, saßen drei alte, runzlige Weiblein, deren graues, ineinander verfilztes Haar eine gemeinsam erstarrte Turbulenz bildete. Auf ihren Knien hielten sie hölzerne Kaffeemühlen, die sie schicksalsergeben in ewiger Wiederkehr drehten.
Auf einer Anrichte gab es belegte Brötchen, die ihren Bäcker längst vergessen hatten; diverse Frösche, Salamander und Lurche in köstlicher Marinade, knusprige spider-chips sowie Bärentatzen, die Old Shatterhand noch lebend begegnet waren. Erheblich einladender wirkten drei große Bier- und fünf kleine Likörfäßchen. Merkwürdigerweise gab es Wein nur in Pappschachteln, was Oblomow einen Schauer über den Rücken rieseln ließ.
Diagonal gegenüber ein langer, leerer Tisch, weißgedeckt, mit 'reserviert: Vischer-Chöre' gekennzeichnet. Ansonsten waren noch vier oder fünf runde Tische über den Raum verteilt, spärlich besetzt.

Fast unbemerkt lehnte sich nun an oder auf einen Thekenhocker ein netzbestrumpftes Bein, roter Stöckelschuh. Die große Arterie mit einem Strohhalm verlängert, schlürfte eine 'Bloody Mary', ab und an rülpste die Vene.
"Das ist doch vorhin an uns vorbeigekommen". - "Nein, das war das andere", antwortete Murpel, der wieder vom Anblick des 'kindlichen Wesens' gefangen genommen ward. Ohne in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen, kramte er aus seinen Taschen Tabak, Blättchen und ein Feuerzeug, die Finger hantierten in voller Selbständigkeit. Kurz vor dem leckenden Verschließen noch ein paar Körnchen guten Afgans, dann fauchte das voluminöse Benzinfeuerzeug, Marke 'Pyromania'. Murpel nahm hörbar einen kräftigen Zug und gab ihn in kleinen wirbelnden Stößen durch die Nase wieder von sich. Oblomow hatte schon sein Pfeifchen aus dem Bild genommen - praktisch: unbenutzt ganz flach - das Geschenk eines belgischen Freundes, der meinte jedoch, es sei keine Pfeife. Entspannung breitete sich aus, Oblomow nickte mit dem langsam erkaltenden Tabakkocher ein, während Murpel weiter in seinen Taschen grub: Notizblock, einige Stifte, Patronen, drei Pässe, ein Korkenzieher und... ach ja, der Brief aus dem Postfach. Die Erinnerung an die mittägliche Szene kam ihm wie aus einer längst vergangenen Zeit vor. Auf dem Umschlag Ms. Adresse, kein Absender, vorsichtiges Öffnen - man weiß ja nie. Ein weiterer Umschlag, festes bräunliches, ehemals weißes, Bütten, darin ebensolches Briefpapier, drei Seiten krakelig beschrieben. Oblomow begann im Schlaf zu murmeln, was sich angestoßen, in ein näselnden Schnarchen verwandelte.

"An die... Nachwelt" (rechts am Rand): "Burghölzli, den 1. Jänner 1914".
"Werther Leser, es mag Dir jaa nicht wichtich erscheinen, soll ja Krieg geben, wie's unten im Dorffe heisst..."

Murpel mußte sich erst an die eigenwillige Orthographie gewöhnen, er las mit wachsendem Interesse weiter:

"... im Dorfe heißt. Der Professor sagt ja, ich wäre verrückt - dementia praecox - verrückt, verrückt? ...wär er doch verrückt, auf meinen Platz gerückt als dieses Vieh durchs Fenster schaute ... durchs Fenster genau in seinem Rücken, dieses Vieh mit zwei Köpfen, weiß und grün ...hätte er doch hingehört, anstatt mich nach Datum und anderen Nebensächlichkeiten zu fragen, von flüchtigen Ideen, Wahngebilden und Halluzinationen zu faseln. Ich, ich, ich hörte doch diese hellen Stimmen, fühlte den Blick - einen Blick aus vier Augen der mich erzittern ließ, ich hörte den Blick und fühlte die Stimmen, welche ich nicht verstand, biß mir in den Handrücken, auf dem sich ein Flaum weiß-grüner Härchen bildete. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr, erwachte nur frierend im Wannenbad. Ochsenknecht - der Pfleger - starrte mich mit seinen roten Jägermeisteraugen an, aber er sah mich nicht. Den Mund geöffnet, ein erstarrter, stummer Schrei, vom Kragen liefen zwei, drei rote Fäden über den grauen Kittel, die unten am Boden sich zu einem feuchten Gewebe verstrickten.
Und plötzlich hörte ich diese Stimme, es war wie: 'Medardos, komm!' Zwei Wannen weiter kreischte Erwin auf, er der seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesprochen, rief nach seiner Mutter. Der Schrei kam aber nicht gegen die lüstern-flüsternde Aufforderung an, wenn ich ihr doch nicht gefolgt wäre, das Versprechen war zu verlockend. Diese schwarzen Augen! Wer sprach, wer schaute - zwei oder vier Augen? Ich schau aber nicht in den Spiegel. Da werd' ich immer so beobachtet. Beobachter sind immer unterwegs, schlafen nie" (unleserlich) 11... nieder mit ihnen, aber ich kenn sie: die grünen, weißen und schwarzen. Ludwig fragt immer, wer beobachtet die Beobachter? - Ich, ich, ich..?..hci, hci ebierhcs" (Es folgte eine halbe Seite unleserliches Gekrakel).
"Burghölzli, du Paradies, angesichts dessen, was ich erleben mußte und vor dem ich Dich - lieber Leser - warnen möchte. Achte der Zeichen....."

Mit einem lauten Krachen fiel Oblomow vom Stuhl. Bevor noch Murpel ihm aufhelfen konnte, wuselten der Kellner und das Trollwesen vom Nebentisch heran, zerbrachen die Biergläser und verbreiteten ein absolutes Chaos. Ein neuer Stuhl, Ruhe kehrte ein. Oblomow sah etwas verdattert seinen Partner an, der gerade wütend losschimpfen wollte, als er, von einer unheimlichen Ahnung gepackt, den Brief suchte - er war verschwunden, ebenso wie das 'koboldhafte Kind' von nebenan. Ärger verwandelte sich in Zorn, ein Grasbüschel lugte durch die Diele, ein falscher Schritt und Murpel lag zu Füßen Prof. Tegaips. Bebendes Tremolo in der Stimme: "Wo ist es .. wo ist er hin?" Der Prof. schien einer Antwort nicht mächtig, glasigen Blickes gab er nur Unverständliches von sich. Die Karaffe leer - von wegen Waldmeister, grüner mongolischer Frühlingswodka!

Außer sich über den verschwundenen Troll, den Brief, über sein Mißgeschick und die ganze vertrackte Situation schnaubte Murpel, sich aufraffend, seinem anderen Ich zu, packte Oblomow am Kragen, wollte schon losbrüllen, da fiel sein Blick, mit wenigen Resten dem Realitätsprinzip gehorchend, auf den zerbrochenen Stuhl. "Angesägt!.." flüsterte er dem immer noch sprachlosen Partner zu. Beide nahmen visuelle Witterung auf, nichts schien verändert, keiner beachtete sie und doch... die Drehtür war verschwunden, es gab weder Ein- noch Ausgang. Ruhe bewahren, erst 'mal eine drehen, G'tt sei Dank, der Tabak samt Utensilien lag noch auf dem Tisch, nur etwas klebrig vom verschütteten Bier.

Sie beäugten die Gäste genauer, biedere Leute, etwas feist und teigig vielleicht, vereinzelt fisch- oder triefäugig, kein junges Volk. Alle löffelten in ihren Schüsseln, vorhin auch schon? Sicher nicht! Jetzt jedoch löffelten sie gelblichen Brei aus grauen, gratiggeränderten Schüsseln, ihre Gesichter wandelten sich unvermerkt: spitzbübisches bis höhnisches Lächeln auf zahnlosen Greisengesichtern. Einige erhoben sich, kugelten über den Boden, leises, dann immer lauter werdendes, rhythmisches Löffelschlagen - ein Höllengetöse. Die Situation wurde kritisch. Wie auf ein Kommando holten die Greise große, weiße Gebisse aus ihren Taschen... starke Gebisse. Der Raum verlor seine Konturen, pulsierte fast. Murpel rückte ganz nah an Oblomow, der murmelte noch ein "die brauchen keine Zahnspan...", der Rest war nicht mehr zu vernehmen, die 'Entdoppelung' trat ein. Das Mauerwerk an der Wand gegenüber, von dem lose Tapetenfetzen herabhingen, vibrierte, aber nicht durch den Ventilator, der ebenfalls seinen Rhythmus verloren hatte und nun wie wahnsinnig in seinen Kugellagern kochte. "Da muß ich durch!" Murpel riß seinen Browning aus dem Halfter, gab zwei Warnschüsse ab und raste mit einem Skateboard auf die Mauer zu. Das kreischend greinende Geschrei schwoll an, Hände wollten ihn greifen ...noch drei Meter, dem Mantel entriß die tobende Masse ein paar Fetzen, die Erfindung der Sollrißstellen bewährte sich. Ohne die Empfindung eines Widerstandes raste Murpel Oblomow durch die Mauer. Wenig später - wo auch immer das war - stürzte er, fiel und fiel.

 

Ratschlag im 'Traholoval'

Nach ihrem traumhaften Fluchtstart realisierten Murpel & Oblomow in einer Bushaltestelle. (Anm. der Redaktion 'The Private Eye': Dortige Erlebnisse mit einem explodierenden Laserkocher und einem Angriff roter Stöckelschuh erscheinen in einer der nächsten Nummern) Später fanden sich M&0 in Rs. Zimmer, etwas euphemistisch Appartement genannt, wieder. Schreibtisch, Bett, Kochnische und Naßzelle, etliche Papiere und Bücher - ein Chaos. - "Ist hier eingebrochen worden?" murmelte Oblomow.

"Nein, hier sieht es immer so aus. Wir müssen rüber, mal sehen was auf Station los ist."

Es war noch nicht 21 Uhr, unbehindert gelangten sie nach oben. Sie lugten ins Zimmer der kleinen Bärin, die Tür war kaum zu öffnen, sie war im Gespräch, kämpfte sich gerade durch das zähe, weiße Gespinst feiner Lügen und Selbsttäuschungen ihrer, sie umgarnenden Patientin.
Dr. Vischer stand zwischen Tür und Angel in einem Trigespräch, blätterte in den Haaren und raufte sich den Terminkalender, vergaß dabei aber nicht, unsere beiden Freunde zu grüßen. Im Stationszimmer hektisches Treiben, eine Axt lag in der Ecke, Die Märchenfiguren - so erfuhren sie - hatte sich in eine Wäschekammer verkrochen. Selbst Dr. Grimm bekam nur unzusammenhängendes Gefasel von Katz' und schwarzen Augen aus ihnen heraus.
Balintgemäß arbeitete das Team ihre Gegenübertragungen durch und griff zur Axt. Die Wäschezimmertür splitterte - herrliches Geräusch!
Ein sonst zu allerlei Schabernack aufgelegter Troll hockte winselnd in der Ecke, der 'mutige Jüngling' schien durchaus das Fürchten gelernt zu haben. Selbst Hänsel und Gretel versteckten sich unter dem Rock der Hexe und das will schon etwas heißen.

Auf der anderen Station ebenfalls nichts Neues über R. Oblomow stibitzte sich noch einen Negerkuß, knapp verfehlte ihn ein präpharmakologischer Beruhigungshammer. In Rs. Klause zurückgekehrt, öffneten Murpel & Oblomow den Kleiderschrank, schoben die Anzüge beiseite und betraten durch einen schmalen Durchgang ihr eigenes Reich.

Es hatte die Ausmaße einer großen Scheune, durch die Aufteilung in verschiedene Ebenen, diverse Schränke, Regale, Spiegel und Geräte schien der Raum fürchterlich unübersichtlich. Von der Decke hingen Schnüre, zog man an ihnen, so polterten gebündelte Akten, Zeitungsausschnitte und Manuskripte herab. Viele kleine Tischlampen erzeugten ein diffus gelbes Licht. Oblomow ging in die hinterste rechte Ecke zu einem voluminösen Kühlschrank, natürlich mit Karabinerverschluß, hatte er aus einer amerikanischen Familienserie der fünfziger Jahre geklaut. Mit einem großen Glas Milch und einem Stück Marmorkuchen kam er zurück. - "Mußt Du immer fressen?" muffte ihn Murpel an, der sich gerade an einem präzusischen Computer zu schaffen machte. "Ich geh' mal unsere letzten Fälle durch, vielleicht finde ich da etwas, woran R. gearbeitet haben könnte. Setz' Du das Traholoval in Gang, Zebulon könnte uns auch helfen."

Oblomow nickte, stellte seinen Teller beiseite und räumte in der Mitte des Raumes ein Oval frei, im Parkett zeigte sich nun eine solchermaßen verlaufende Schiene. Er trat beiseite, schloß die Augen, legte die rechte Hand an den Hinterkopf und gab einen leisen Singsang von sich. Das Oval versank, wenig später kehrte der Boden zurück: zwei Meter über der Mitte schwebte eine kleine blaue, selbstleuchtende Wolke. Um diese herum standen fünf Schaukelstühle und ein Kissen - irgendwie orientalisch und nicht ganz real. Ein sonores Schnurren erfüllte den Raum. Murpel wandte sich um: "Du sollst noch nicht schlafen". Das Schnurren verschwand. Oblomow rekelte sich behaglich in einem Schaukelstuhl, die weiße Nachtbrille bereits auf der Nase. Murpel nahm zwei Sessel weiter platz. "Wir werden erst dialieren und dann Zebulon treffen, der weiß ja schon bescheid." Wieder ein leiser Singsang, Murpel und Oblomow doppelten jeweils, aber monomorph. Das sonore Schnurren erklang erneut, Zebulons Schatten ruhte auf dem Kissen.

Ihm selbst - noch als Schatten wirkte dieser angegraute schwarze Kater mächtig und unnahbar - war es ja nicht vergönnt, den Büchersaal in Murpelpotanien zu verlassen. Damals als das große Erdbeben diese friedliche, aber nicht streitunlustige Kultur zerstörte, befand er sich allein im 'Saal'. Dieser stammt aus der Zeit als es auf der Erde noch Riesen gab; einer blies das letzte Ei des Phönix aus, die Murpel errichteten daraus ihre 'Heilige Bibliothek', sie war unzerstörbar. Bis ins 15. Jh. wußten nur einige Bergschäfer um dieses Ei in den Höhen der transsylvanischen Karpaten. Später dann kamen immer mehr Neugierige, Zebulon gingen fast die Veitstanzpastillen aus. Mit einigen Tricks, über die er selbst heute noch nicht spricht, gelang es ihm, den Saal in die Schattscheidersche Zeitschneise zu bringen, eine halbe Minute vor die menschliche Weltzeit. Murpel träumte einige Jahrzehnte später von diesem Ereignis und erreichte es sogar, mit Zebulon einen Zwietraum zu träumen. Um mit Oblomow und anderen Personen einen gemeinsamen Traumdialog führen zu können, entwarf er dann das Traholoval. Heute waren sie aber nur zu fünft, der sechste Stuhl blieb leer.

"Grüß Dich Zebulon, alter Kater, haben wir Dich sehr in Deinen kabbalistischen Studien gestört?" frug Murpel wortlos in die Schläferrunde.
"Aber nein, die Sefirot können warten." Bekanntermaßen arbeitete er an einer Theorie der 'elften Sefira'. Chaim Ben Chatol, kätzischer Begleiter von Isaak Luria, hinterließ ein lange verschollenes Manuskript ('Das Buch vom Thronkissen'), welches der Kater bereits edierte und zur Grundlage seiner Studien nahm (vgl. 'Cats Research', 3/1967, p.125-238).

"Ich habe Euch etwas mitgebracht". Vor aller Augen im Nirgendwo entfaltete sich eine pergamentene Landkarte, eine Mondlandschaft, über und über mit kleinen Kratzzeichen versehen. Das war die Schrift der Uslarschen Katzenmütter, die außer Zebulon und einer grauen Zenkatze aus Kyoto - Mia Tschu-Lai - niemand mehr entziffern konnte. Murpel hatte sie nicht mehr gelernt.
"Die großen Pagodenkrater brauchen uns nicht zu interessieren", begann schweratmig Zebulon seinen Vortrag. "Die sind längst von Meteoriten zerstört. Nachdem Armstrong seinen Fuß auf den Mond gesetzt hat, ein 'großer Schritt für die Menschheit, aber eine Katastrophe für die Gemeinschaft der Kätzischen, war es uns unmöglich, bei Vollmond auf die Rückseite des Mondes zu springen, die übermütigen Katzen von Salem ziehen heute noch ihre Bahn um den Mars." Dicke Tränen rollten dem alten Kater über den Bart. "Um die Jahrhundertwende, ich springe einmal zurück, fand vor dem Obersten Katzengericht 'Notre Chat de Paris' ein geheimer Prozeß statt. Angeklagt war, soweit mir bekannt, die Hauskatze von Xantippe, bekanntermaßen die Frau des Sokrates. Weniger bekannt: sie hatte ein Verhältnis mit Glaukon, dieser wiederum wurde seinem Lehrmeister abtrünnig ...

"Zebulon, keine genealogischen Eskapaden!" warf Oblomow in die sich ereifernde Traumrede. "Bin ja gleich soweit", schnurrte es zurück. "Glaukon jedenfalls ließ sich mit magischen Praktiken ein, wollte eine Realchimäre fertigen, seinen Meister übertrumpfen. Mitten in den Zauber sprang die oben erwähnte Katze hinein und ward verwandelt. Eine Verwandlung, die nicht ganz beständig scheint, sonst wären die unterschiedlichen Angaben über Hörner und Hufe nicht erklärlich. 'Notre Chat' klagte also Miou Vert - genau so hieß sie - an, hinter die Delphischen Spiegel gesprungen zu sein und verbannte sie auf ewige Zeiten - ich weiß, was das heißt - auf die Rückseite des Mondes. Ihr damaliger Verteidiger, ein Prager Kater mit Monokel und Stöckchen - nicht sehr intelligent - gab sich alle Mühe, aber gegen die elitäre Voreingenommenheit des Gerichts, dessen Mitglieder sich den alleinigen Zugang sichern wollten, vermochte er nichts auszurichten. Vert wurde also auf die Rückseite des Mondes verbannt, wo es keine Spiegel gibt. Hier unten auf der Karte, da müßte es sein, eine Höhle im Krater 7/13a. Anscheinend fand sie einen Weg zur Erde zurück und hat - wie die kreisenden Salemer träumen - die Delphischen Spiegel verhängt.

"Davon hab' ich nie gehört!" wunderte sich Oblomow.
"Muß ich, der in der transsylvanischen Verbannung lebt, Dir erzählen, was die Spiegel für uns bedeuten?" - Zebulon wurde fuchtig.

"Hört mal auf" warf Murpel 2 ein: "Wenn die Vert das Opfer eines Justizskandals ist, warum dann die Schreckensandeutungen im Brief aus Burghölzli und die Panik unter den Märchenfiguren?" Oblomow 2: "Ich kann da ja nicht wirklich mitreden, aber stell' Dir einen tumben schweizer Paranoiker vor, der auf die Rückseite des Mondes fliegt. Vert hat sich da den Falschen mitgenommen, wozu auch immer. Die Märchenfiguren - bei der heutigen Phantasie ihrer Leser - leben in einer ewigen Wiederkehr desselben. Immer frißt der Wolf die Großmutter, auch wenn er Vegetarier sein möchte. Kennst Du des grauen Alltag eines Froschkönigs: rein in den Brunnen, raus aus dem Brunnen, klatsch an die Wand. Wichtiger scheint mir aber die Ineinanderschiebung von Katz' und den 'schwarzen Augen'..........

Murpel träumte sich Gehör: "Das heißt also, Rs. Verschwinden hat entweder nichts mit der Katz' zu tun bzw, wenn doch, so droht ihm wahrscheinlich von ihr keine unmittelbare Gefahr". Zustimmendes Geraune. "Wir sollten uns deshalb auf diesen Troll, diesen Kobold aus dem Café konzentrieren. Beim nächsten Treffen bitten wir Hanibal hinzu, der kennt sich auf Friedhöfen ganz gut aus, ich sag' nur Eastend. Die Geschichte mit den Spiegeln scheint mir ebenfalls nicht ganz durchsichtig. Morgen forschen wir weiter. Träumen wir noch einen schönen Traum, Elsa wird uns wecken, an der traholovalischen Wolke klopfen und Oblomow holt zum Frühstück frische Brötchen".

 

Anm. der Redaktion:Zur besseren Orientierung

 

Glossar und Literatur:

Biblio-Enzyclopädia-Murpelpotania,
Bd. IX und XXII Enigmata Civitas,
5856 m. Zr. (13.Aufl.)

 

Dialation: eine spezifische Weise des 'Doppelns' (s. dort), die drei Einschränkungen unterworfen ist: a) sie kann nur mit technisch-sensynischer Hilfe vorgenommen werden. Hierzu dient das 'Traholoval' (s. dort), deren Herkunft und Aufenthalt ungeklärt ist. b) D. ermöglicht das Träumen im 'kosmos koinos' einer einzelnen Person sowie durch T. multipersonale Zwieträume unter Einbeziehung von 'Schatten' (s. dort). c) Doppelungen erfolgen monomorph, d.h. Murpel (u.a. dopplungsfähige Wesen) verkörpern sich materiell in identischer Weise, Psyche und Sensyne dagegen doppeln in resonanz-expotentiellen Spiralen (vgl. Albertus Minimus: Sensyne und Psyche in dogmen- und dopplungsgeschichtlicher Perspektive mit besonderer Berücksichtigung einer verschollenen plotinischen Handschrift, Corpus esoterica Bd.XXXV).

Doppeln: Fähigkeit dividuidischer Wesen, auch Zwielinge (s. dort) genannt: Murpel, präägyptische Katzen, Trolobolde, weitere Spezies unbekannt. Das D. erfolgt in zwei polymorphe Dividuen, die selbst einer weiteren Doppelung nicht mehr fähig sind, wohl einer Dialation (s.o.). Die Einzelwesen stehen in telepathischer Verbindung, ohne ihren psychisch-sensynischen Eigensinn zu verlieren. D. geschieht nur in eingeschränkter Hinsicht willentlich, taucht besonders in Entspannungs- und Konflikt- bzw. Spannungssitua.
Eine abschließende Erklärung dieses Phänomens konnte bislang nicht gefunden werden: vgl. Eisenbügel, F.: Biomorphogenetische Forschungen zum D.phänomen, Den Haag 1949; Binsschwengel, A.: Existentialanalytische Interpretation des D., Freiburg 1956; zusammenfassend: Schimmelgroschen, R.: Diesseits von Natur und Existenz. Das D. in der Murpel-Mystik und neueren Forschung, S'Gravenhaage 1975. In jüngerer Zeit sind grundsätzliche Zweifel an der Existenz des Doppelns laut geworden:
Haupthammer, E.: Autopoiesis und die Illusion des D., Frkf. 1980; Müllernacken, H.. Gab es eine Murpel-Mystik? Albertus Minimus als Satiriker, Neunkirchen 1982 (Auswahl).

Traholoval: Technisch-sensynische Einrichtung zum Zwieträumen und Dialation (s. dort). Der etymologische Ursprung liegt im Dunkeln. 'Tra' deutet auf Traum, 'oval' auf die Form des Gerätes, von dem sich aber keines derzeit auffinden läßt. Ob sich 'ho' oder 'holo' auf Hologramm bezieht, muß bezweifelt werden, da die These 'Schatten' (s.d.) seien Hologramme, nach den Untersuchungen von Eisenbügel und Zaumleisten (unveröff.) fehl geht. Ofenholz zufolge war es Murpel Oblomow, der dieses Gerät unter Mithilfe eines gewissen Sebulin oder Zebulon (Herkunft unbekannt) erträumte, Ofenholz konnte seine Forschungen nicht zu Ende bringen. Ein funktionsuntüchtiges Gerät steht im 'Britischen Museum' in London, bewirkt aber nur schwere Träume, in denen übersignifikant Katzen auftauchen. Es dient derzeit einem bekannten Pharmakonzern zur Kontrolle von Traumphobiemedikamenten. Lit.: Enger, D.: Dysfunktionananlyse und Modellkonstruktion des T., Braunschweig 1967; Everdung,I.: Heraklit als Ingenieur. Das antike T., München 1954.

 

Erstveröffentlichung in: 
ENTWURF Bd.1
(Edition Delta Tau - Schriftenreihe zur Psychoanalyse und ihrem Verhältnis zu
Wissenschaft und Kunst) Frankf./M.1995
 
(überarbeitete Fassung 6/99 )