Klick
- zwei Finger schoben sich durch die grauen Lamellen einer Jalousie, träge
folgte der Blick über die Straße in die schwankenden Fenster gegenüber.
Ein
obligatorischer Blick, der nichts - trotz aller Anstrengung - zu erkennen
vermochte; eher der Versuch, die Blicke aus den Fenstern gegenüber zu bannen. Im
gläsernen Aschenbecher qualmte eine Selbstgedrehte. Klack - die beiden Finger,
etwas rissig, müde wie der Rest, griffen die Nikotinierende, ein tiefer Zug:
Schluß jetzt, auf geht's! sprach es zu sich selbst. Hinaus, Tür abschließen,
durch den schmalen Gang - an der anonymen Nachbarschaft vorbei - die Treppe
hinunter. Die rechte Hand faßte das Kindergeländer, die Doppelung des Handlaufs
war monatelang gar nicht aufgefallen, aber wieso fand der Griff dort seinen Halt
- kleiner geworden? Wirklich, der Mantelsaum klopfte im Rhythmus der Schritte an
die Fersen, ob das noch schlimmer wird? Lovecrafts 'Ding auf der Schwelle' fiel
augenblickshaft durch den schmalen Schacht der Aufmerksamkeit und fiel - G'tt
sei Dank - hindurch.
Trapp, trapp, trapp! die Holztreppe macht so schön
Krach, noch durch die schwere, quietschende, von einer Feder
gehemmte Eingangstür: draußen. Elsa, eine Riesenmotte
und Hanibal, die Fledermaus hockten ziemlich
übernächtigt auf dem Geländer, nahmen die
Störung zum Anlaß, sich zu verabschieden: "man piept
sich, tschüß!"
Irgendetwas stimmte nicht. Das Schulterhalfter
saß zu locker, schlackerte fast am Oberschenkel. Wo kamen
nur die Kinderschuhe her, die paßten ausgezeichnet. In die
Verwunderung hinein grüßte eine Patientin, einen
Regiesessel hinter sich her ziehend.Ihr bandagiertes linkes Bein
- größer als sie selbst - drängelte zur
Therapiestunde, andererseits humpelte sie nicht - noch waren drei
Beine unterwegs. Tief durchatmen, Augen zu - auf, ein
verstohlener Blick in die Gegend: Villa 'Vue sauvage'
unverändert, wirkte nur irgendwie größer,
mächtiger als sonst. Wieso waren eigentlich die
Mantelärmel umgenäht?
Weiter. Post holen. "Mahlzeit" - "Mojn!" Unappetitlich,
dieses Mahlzeit, hörte sich nach undefinierbarer,
bindemittelgesättigter Kantinensoße an, der Klang des
Wortes weckte Geruchsassoziationen: Sparkasse. Hauptgebäude,
enger Fahrstuhl, einer dieser großen, aufgeschwemmten,
Anzug und Krawatte wie ein Fell tragenden Abteilungsleiter trat
hinzu, füllte den allzu engen Raum mit seiner
Selbstgefälligkeit und dann "Ma....". Da war es mit dem
'Mojn' doch viel einfacher, morgens, mittags, abends, kurz und
knapp - einfach mojn.
Hoppla, die Glastür war ja schon erreicht - gut, daß
sie offen stand. "Schirme, bitte im Ständer abstellen",
erste Tür: plexibeglastes Telefon und der scharfe Geruch aus
dem Kaffeeautomaten. Ein mausgrauer Läufer lockte mit einer
umgeknickten Kante die Eintretenden zum Sturze. Links über
der Heizung, auf einem Bord, saß eine Katze:
grün-weiß gestreift, mit zwei Köpfen sich
gegenseitig den Bart und über die Augenlider
leckend.
Ordnungsheischender Diensteifer rührte sich: die
Katz' unten in der Ambulanz abgeben? Doch warum soll man den
Psychotikern immer ihre wahnhaften Projektionen hinterhertragen?
Langsam, das leise Geräusch gegenseitigen Leckens
zurücklassend, löste sich die Katze auf - na also,
anscheinend hatte ein Patient gerade seine Medikation
erhalten.
Pforte verschlossen. Wo war bloß der
Schlüssel - es klappert doch unten am Fußgelenk?
Klickklack. Rechts die Postfächer, zweites von oben -
'oben'?!, ein Enterseil war wieder nicht zur Verfügung. Was
tun? Um sich schauend fiel der Blick auf die andere Seite des,
durch ein tischhohes Bord geteilten, Pfortenhäuschens. Ein
großer Felsblock lag, kaum atmend, auf einem
formschönen Sitzmöbel: Petrifizierte Depression, von
der keine Hilfe zu erwarten war. Freundliche Augen hinter einer
Goldrandbrille, den Postkorb am Arm, betraten den Raum - endlich
die Post. Reklame, Reklame, Prospekte, der "Night Mirror of the
Cats" nebst einer Mausefalle - immer diese Werbegeschenke.
Letztes Jahr gab's den Dosenöffner für die
vernachlässigte Katz, mit der Aufforderung mitzuteilen, ob
er sich links- und rechtspfötig gleich gut bedienen
ließe. Ein Brief noch, aber bevor sich die Adresse
entdeckte, wurde es eng in der Pforte: Vermeintlich
leichtfüßig rollte ein Brummkreisel heran, farblich
fein daneben abgestimmt, stimmlich eher kreischend als sonor
summend - drei Kinder in der Eingangshalle nahmen umgehend -
Erdbeereisflecken zurücklassend - reiß aus. Der
Kreisel griff mißtrauisch nach seiner Post und verschwand.
Die Differenz im Modus des Verschwindens - zwischen ihm und der
Katz' vom Eingang - könnte nicht größer gewesen
sein.
R.
betrat den Raum, verteilte eilig ein paar Kopien, hatte ihn gar
die 'schwere Not' erwischt, er wirkte so gehetzt. Heimlicher
Blickkontakt und ebensolcher Austausch eines Briefchens. Schon
war er weg. Briefchen? Pustekuchen - nur ein Stück
abgerissenes Packpapier - hatte wohl wieder eine
Büchersendung bekommen, die er nicht bezahlen kann. "Sei in
zwei Stunden im Tunnel, pünktlich! R."
Es
ging wieder los! Gedankenversunken entging der Aufmerksamkeit,
wie sich Hänsel und Gretel, ein
abgerissen-häßlicher Troll sowie eine
schal-schöne Prinzessin in Richtung Keller bewegten.
Gleichermaßen blieb unbemerkt, wie Schwester Sabine von
'oben' einen großen Bogen um den Troll schlug - die letzten
Püffe hatten ihr gereicht - während eine
Weißgekleidete von 'unten' mitten durch den hageren
Hänsel hindurchging. Seitdem es die Märchenstunde gab,
lag ein mittelalterlicher Zug über dem Haus. 'Zug über
dem Haus?' - genau: unsere Technofreaks wollten ja einen
Magnetschienenbahn- Anschluß zum Speisesaal. Da könnte
R. direkt - mit einem Patientenfrühstück in der Hand -
bis zur Philharmonie in Berlin düsen. Nur Hanibal und Elsa,
nacht-grüne Landbewohner, hatten Einspruch
eingelegt.
Oh
je, muß das sein? Dr. Alfred Anankastus kam direkt auf ihn
zu (ihn? um wen geht es hier eigentlich): weißer,
hochgeschlossener Kittel, den nackten Schädel etwas schief;
das bekannte, maskenhafte Lächeln schob sich langsam ins
Gesicht. 'Guten Morgen' - 'guten Morgen', geschafft, das Ritual
war beendet. Hatte er nicht die Veränderungen an der Gestalt
vor ihm gesehen? Umso besser. Im Weggang zeigten sich im
Kittelrücken des Doks zwei fast symmetrische Risse, durch
die sich, im Einklang mit der Schrittfolge, Lederjacke und
Netzstrümpfe zeigten - schwarze Netzstrümpfe auf
grauer, spärlich behaarter Beinhaut. Muß das sein? Das
angedeutete Kopfschütteln erstarb, da war sie wieder: die
grün-weißlich gestreifte Katze mit den zwei
Köpfen, etwas größer vielleicht und... an den
Hinterläufen zierliche Hufe und... Ziegenhörner! Wie
war das nochmal mit der "Gestalt eines mannigfaltig
zusammengesetzten und vielköpfigen Tieres, das ringsherum
Köpfe von zahmen und wilden Tieren trägt und imstande
ist, sich zu verwandeln". (Er sollte sich doch wieder mal den
alten Griechen unters Kopfkissen legen.) Immer noch besser eine
solche Chimäre als die feucht klebrigen, unförmigen
Tonklumpen, die sich damals über die Treppen, aus dem Keller
der BT kommend, nach oben ins Stationszimmer schleppten, um
dorten über phantasielose Patienten Klage zu führen:
Schwester Adelheit stellte gerade Tabletten. Nach der 'Begegnung'
nahm sie ihren Jahresurlaub, es ging ihr dann wieder besser, sie
meidet Keller, lehmige Wege, kleine schmutzige Kinder und einiges
andere. Sie war noch lange im Hause... stationär.
An
dieser Stelle eine Bemerkung aus dem Off: um wen geht es hier
eigentlich? Die Herausgeber von 'The Private Eye' haben keine
Kosten und Mühen gescheut - sich nur die
Veröffentlichungsrechte gesichert - um die Identität
des Protagonisten vorliegenden Berichtes herauszubekommen. Es ist
oder war, sein jetziger Aufenthalt liegt im Dunkeln, Murpel
Oblomow. Er gehört zur seltenen Spezies der Zwielinge, nicht
mit dem Sternkreiszeichen Zwilling zu verwechseln. Die Frage nach
seiner Identität scheint von vornherein falsch gestellt,
denn er ist ein 'achtes Dividuum': mal existiert er einfach, dann
wieder in zwei Personen, Murpel und Oblomow. Über die
Herkunft wissen wir wenig: irgendeine Ofenbank unter dem
Sternzeichen der Kassiopeia zwischen Transsylvanien und
Murpelpotanien. Prof. Siegfried Ofenholz hatte
bekanntermaßen über diese untergegangene Kultur der
Murpel geforscht, seine Funde aber nicht veröffentlicht, so
daß außer dem legendären Interview im
italienischen Fernsehen (RAI 1976) nichts bekannt wurde. Von
seiner letzten Forschungsreise im Frühjahr 1977 kehrte er
nicht mehr zurück. Schuhe und seine heißgeliebte
Zahnspange fanden sich in der Nähe einer verschütteten
Erdhöhle auf einem tellerähnlichen Gebilde, dessen
eingravierte Zeichen sich einer Deutung bis heute entziehen;
ebenso versagte die C 14 Archäologie.
Charles Dexter Ward behauptet felsenfest, in Neuengland eine
verwandte Kultur entdeckt zu haben. Nur wissen wir aber, was wir
von diesem 'Wissenschaftler' zu halten haben, dem es bislang
nicht einmal gelang, den Vorwurf, er sei nur eine Romanfigur, zu
entkräften.
Wie dem auch sei, verläßlichere Spuren finden sich
von Murpel in den achtziger Jahren in Berlin (damals noch
Berlin-West). Eine gewisse Frau Schneg hält Briefe von M.Os.
eigener Hand unter Verschluß, zu einem Interview war sie
bislang nicht bereit. Ende 1990 schleuste R. den Zwieling in Q
ein, aus dieser Zeit stammen wohl auch die vorliegenden
Aufzeichnungen. Q muß nach unseren Recherchen eine
Millionenstadt in Norddeutschland sein, ein Kino mit gut
abgehangenen Filmen und als Sehenswürdigkeit, eine
periodisch brennende Fahradfabrik.
Murpel bewegte sich nach draußen. Durch den am
Boden schleifenden Mantel schien er zu schweben oder trug er
Rollschuhe? Strahlendes Licht einer weißen Sonne am klaren
violetten Himmel, er nahm auf dem Regiesessel, den ihm die
bereits erwähnte Hysterikerin überlassen hatte - ihr
Bein war schon kleiner geworden - platz. Langweilige Artikel im
'Mirror', ein Blick auf die schuhkartongroße
Küchenuhr: noch 50 Minuten bis zum Treffen im Tunnel. Aus
der nahen Krankenpflegeschule stolzierte, tippelte oder
watschelte - je nach dem - junges Geflügel heran, unter den
Federn die Kolleghefte, sie verteilten sich nun auf die
Stationen, um Patienten zu ärgern.
Prof. Tegaip - Mongole mit schweizer Paß - machte
seine Runde, an der Leine zerrten Assi und Akko: ersterer warf
Förmchen über Büsche, Bänke und Passanten,
die zweiterer wieder zurückholen mußte, wobei er
häufig verprügelt und die Förmchen demoliert
wurden. Die vermeintliche Unsinnigkeit dieser Szenerie
gründet in einem sogenannten rethelschen Theorieunfall, als
die sprechenden Hunde des frankfurter Grafen Wiesengrund sich in
der Beschwörung einer Realabstraktion versuchten. Fast
wäre Tegaip mit Dr. Petrus Vischer - mit V, wie er immer
betonte - zusammengestoßen. Dieser meinte nur: "Gut so,
weitermachen! und nicht die Bilder vergessen, schön raufen,
Himbeermarmelade! Tschüß." Schon war er weg, jedoch
nicht, ohne einen kräftigen Klaps auf Murpels Rücken zu
hinterlassen - ein dritter Modus des Entschwindens.
Auf dem Sessel engte es, Murpel doppelte: Oblomow, sich
den Schlaf aus den Augen reibend, begrüßt mit einem
unmäßigen Gähnen den jungen Tag - es war Mittag.
Aus den Untiefen seines Trenchcoats zog er eine halbleere
Weinflasche - Chatêau sowieso vom Rücken schnallte er
ein Klapptischchen, auf dem dann das restliche
Frühstück angerichtet ward: Schwarzbrot, Butter,
Pilzpastete, Gürkchen, etwas Käse und ein paar Scheiben
Marmorkuchen, eine Kleinigkeit halt. Murpel trank bereits den
dritten Espresso, leider zu kalt. Das Café war vier
Minuten entfernt, die Bedienung nicht nur groß-, sondern
auch schwerfüßig. Nervöses Trommeln auf die
Eieruhr, die nunmehr die Größe eines Hydranten
erreicht hatte. Time!: Stuhl, Uhr, Rollschuhe (also doch)
wanderten auf die Müllkippe neben dem Eingang, Oblomow
packte mürrisch sein Frühstück ein. Von der Kippe
vernahmen sie ein helles, gellendes Fiepen. - "Wir sind Rattus
Rex noch zwei Flaschen schuldig". Murpel antwortete nur ein
abwesendes "Hm", war mit den Gedanken schon weit
voraus.
Wieder durch die beiden Eingangstüren, rechts,
links um einen Tisch herum (zwei Psychotiker kommunizierten - mit
ihren Tonpfeifen Rauchzeichen gebend - zufrieden aneinander
vorbei) ... die Treppe hinunter dem Keller zu: Die große,
schwere, grüne Tür - wär's doch schon vorbei.
Murpel rutschte selbst in seinen Kinderschuhen, der
Bogard-Browning im Halfter vermittelte ihm kaum Sicherheit. Angst
mäanderte, sich vergrößernd durch die kleinen
grauen Zellen. Wieder ein Federzug, feuchter, sickigwarmer Dampf
schlug ihnen übelriechend entgegen. Oblomow kämpfte mit
seinem Magen und gewann. Zweimal links, dann rechts oder
umgekehrt, gut einen Meter vor dem Gitter hing ein zerfranstes
Hanfseil von der Decke herab, Murpel kletterte auf Oblomows
Rücken und zog. Unwillig quietschend bewegte sich das
rostige Gitter aufwärts, noch einen Schluck aus der Flasche
und hindurch. Zwei graugekittelte, blasse,
bölkstoffgetränkte Arbeiter schoben mäßigen
Tempos Mineralwasserflaschen und unruhige Straußeneier auf
kleinen Wagen vor sich her. "Mojn" - "mojn". Ziemlich viel los,
hier unter der Erde. Bleuler zitierend hüpfte ein
netzbestrumpftes Männerbein auf sie zu, irgendetwas von
abgebrochenem Absatz, kätzischem Mistvieh und schwarzen
Augen plappernd. Dann Stille - bis auf das weiße Rauschen
der frei verlegten Versorgungsleitungen.
Flackernd änderte sich die Farbe des Neonlichtes
in ein blutentleerendes Grün, Linolium ging in Parkett und
dann in Kopfsteinpflaster über. "Mir ist kalt." - "Mach den
Mantel zu!" Es roch modrig, Boden und Wände, von denen das
Wasser herunterlief, schienen uneben. Da war was: zwei
weiße Laborratten, gerade noch Freunde auf der Flucht,
prügelten sich nun um ein Straußenei, unsere beiden
Freunde nicht beachtend. Andersens Tannenbaum delierte
nadelwerfend in einer Ecke: "Kerzen, wo sind die Kerzen und meine
schöne goldene Spitze?" Kaum zu glauben, Hannibal hatte hier
unten seine Zweitwohnung, bot sich Ruhe aus, ohne aber selbst
genau zu wissen, an wen er seine Tirade richtete. Oblomows
großes, durchnäßtes Schuhwerk quatschte, wollte
zurück in der Kinderabteilung von 'Salamander', Sandkasten,
Weinkeller, das ging ja noch, aber dies hier...
Fünf Minuten waren erst vergangen, es kam ihnen
viel länger vor. Oblomow wollte gerade halbverdautes Wissen
über die Lorentzsche Zeitdilatation vom Stapel lassen
(gegenüber Murpel beschlich ihn häufig ein
kompensations-heischendes Minderwertigkeitsgefühl) da
öffnete sich rechts ein dämmrig beleuchteter Gang.
Mitten auf der Weggabelung lagen Rs. Schuhe, seine Brille und
etwas entfernt, ein abgerissener Ärmel seiner Lederjacke.
Diese zu befragen, schien sinnlos, sie hatte bereits das Ledrige
gesegnet. Murpels Kehlkopf gab ein gequältes Geräusch
von sich, Oblomow versuchte zu scherzen: "Gut, daß er keine
Zahnspange trägt". Ein Windzug, Hanibal gesellte sich zu
ihnen, ohne irgendetwas sagen zu können. Kam gerade vom
Frühstück, Dosennahrung B, Rhesus negativ. Wollte seine
Ohren offenhalten, flog von dannen, während Murpel und
Oblomow dem geheimnisvollen Gang weiter folgten...
Café
'Prosatal'
Sie saßen an einem abgestoßenen, ovalen
Tisch, auf einem Fetzen Wachstuch zwei riesige Biergläser.
Immer noch wunderten sie sich darüber, wie sie wenige Meter
innerhalb des dämmrigen Ganges vor einem Schild 'Café
Prosatal' standen - nie davon gehört. Kurz darauf eine
gläserne Drehtür, hinter der ihnen Lärm
sogenannter Musik und der Qualm diverser Tabakwaren
betäubend entgegenschlug. Verstohlene Blicke in die Runde.
Schon näherte sich ein Kellner, das Schmerzen seiner
Füße stand ihm ins Gesicht geschrieben, Chatêau
sowieso hatten sie nicht, also zwei Bier, schlurfend schlich das
hagere Wesen von dannen.
Da
saßen sie also, von R. keine Spur, nur am Tisch
gegenüber Prof. Tegaip mit etlichen Glasbehältern
hantierend - hohe schmale, flache breite und einer Karaffe
Waldmeister. Schon wieder grün, Oblomow schüttelte
sich. Anscheinend versuchte Tegaip etwas zu erklären,
schüttete dauernd die Flüssigkeit um. An seiner Seite
hockte ein Kind, nicht gerade sehr aufmerksam, wie es Murpel
vorkam. Dieser wollte sich schon abwenden, da stutzte er: Kind?
Nun ja, es hatte einen olivfarbenen Strampelanzug an,
darüber eine schwarze, halblange Jacke mit großen,
abgegriffenen Messingknöpfen, aber dieses Gesicht...: hell
und rundlich, aber nicht mit der Haut der üblichen
frittengemästeten kleinen, halslosen Ungeheuer, sondern
durch und durch haarig, feines goldblondes Haar an allen -
zumindest slchtbaren Hautpartien. Ein Fellchen, eigentlich zum
Streicheln einladend, doch zögerte die imaginierte
Handbewegung beim Anblick dieser Augen: schwarzumrändert,
aber ebenso geädert, riesige fast spiegelgleiche Pupillen,
das ganze Café war darin zu sehen, eins schien grün,
das andere wasserblau. Lange Wimpern umrahmten einen stechenden,
bösen Blick. Die Nase, klein mit länglich offenen,
schnuppernden Nüstern, links ein schmaler Ring, von dem eine
feingliedrige, rotgoldene Kette, lose hängend zum Ohr
führte. Dieses unverhältnismäßig groß,
oben schwärzlich und spitz zulaufend, aber mit großer
Beweglichkeit, lauschte ständig kreisend an dem Gerede von
Tegaip vorbei in die Runde. Der Mund war breit, sehr breit,
violett schmallippig, ab und an zeigten sich - in Korrespondenz
mit dem Blitzen der Augen - zwei Reihen blendend weißer,
spitzer Zähne. Murpel blickte unwillkürlich auf seinen
Zeigefinger ... er kannte dieses Gesicht, wenn auch nur als
momenthaften Schatten.
Damals befand er sich mit R. in London, den Fall der
plötzlich ergrauten Bärenfellmützen hatten sie
abgeschlossen. Oblomows Weinfahne brachte die Queen einem
Ohnmachtsanfall nahe, was sich dann im Honorar schmerzhaft
niederschlug. Eine Bruchbude in Eastend war deshalb ihr Domizil.
Eines nachts, man hatte sich über die Bedeutung englischer
'gothic novels' zerstritten, nahm Murpel verärgert seinen
Mantel und spazierte im Viertel umher. Wie er auf den Friedhof
kam, wußte er bis heute nicht, jedenfalls fand er sich dort
auf einer Bank, im zerfledderten Exemplar seines 'Melmoth'
lesend, wieder. Da vernahm er das Geräusch eines
Zwiegesprächs. Geräusch, weil er kein Wort verstand:
gutturale Kehllaute mit schmatzenden Unterbrechungen und ein
leises Wispern, das sich mit höhnischem Gekichere ab und an
selbst unterbrach. Vorsichtig näherte er sich der
Lautquelle, stolperte dabei jedoch über eine listig liegende
Baumwurzel, die sich sofort wieder zurückzog, und fiel einem
grabsteinernden Engel fast in die Arme. Dann ging alles sehr
schnell: ein Stein wurde gewälzt, unter dem - nur als
Schatten erkennbar - ein Pferdekopf verschwand; für den
Bruchteil einer Sekunde sah er aber - im vollen Licht des Mondes
- zwei schwarze Augen, die ihm einen mitleidig-bösen Blick
entgegenschleuderten, die beiden Zahnreihen entblößten
sich und schon war das Wesen verschwunden, hatte sich in einem
mächtigen Satz auf die Friedhofsmauer katapultiert. Ein
schweres Motorrad war das letzte, das er vernahm.
Nur verspürte Murpel im kurzen Blickkontakt mit
dem vermeintlichen Kind vom Nebentisch kein Wiedererkennen. Hatte
er damals vielleicht nur geträumt, war dies hier nur ein
Traum - 'dies hier': Leser/in träumst Du?
Wie zur Selbstvergewisserung stieß er Oblomow mit
der Schulter an "He, schau mal.." Der Angesprochene gewahrte im
flüchtigen Blick nur die Hände des 'Kindes' und
verschluckte sich fast an seinem halbleeren Bierglas. Prof.
Tegaip schien das alles nicht zu irritieren.
Murpoblomow nahm(en) jetzt die Spelunke genauer in
Augenschein. Es war ein quadratischer Raum, etwa achtzig mal
achtzig Pfoten (ein altes murpel-potanisches
Längenmaß, ca.0,876 Fuß).
Ein casablancinischer Deckenventilator durchpflügte in
kierkegaardscher Verzweiflung die rauchgeschwängerte Luft,
die ab und an phantastische Pareidolien gebar. Links von ihnen
eine Theke mit verschiedenen Alkoholika in Flaschen, eine
dampflokähnliche Espressomaschine und fünf große
Kaffeekannen - von Kaiser - nebst weißen Porzellanfiltern.
In der Ecke, kaum sichtbar, saßen drei alte, runzlige
Weiblein, deren graues, ineinander verfilztes Haar eine gemeinsam
erstarrte Turbulenz bildete. Auf ihren Knien hielten sie
hölzerne Kaffeemühlen, die sie schicksalsergeben in
ewiger Wiederkehr drehten.
Auf einer Anrichte gab es belegte Brötchen, die ihren
Bäcker längst vergessen hatten; diverse Frösche,
Salamander und Lurche in köstlicher Marinade, knusprige
spider-chips sowie Bärentatzen, die Old Shatterhand noch
lebend begegnet waren. Erheblich einladender wirkten drei
große Bier- und fünf kleine
Likörfäßchen. Merkwürdigerweise gab es Wein
nur in Pappschachteln, was Oblomow einen Schauer über den
Rücken rieseln ließ.
Diagonal gegenüber ein langer, leerer Tisch,
weißgedeckt, mit 'reserviert: Vischer-Chöre'
gekennzeichnet. Ansonsten waren noch vier oder fünf runde
Tische über den Raum verteilt, spärlich
besetzt.
Fast unbemerkt lehnte sich nun an oder auf einen
Thekenhocker ein netzbestrumpftes Bein, roter Stöckelschuh.
Die große Arterie mit einem Strohhalm verlängert,
schlürfte eine 'Bloody Mary', ab und an rülpste die
Vene.
"Das ist doch vorhin an uns vorbeigekommen". - "Nein, das war
das andere", antwortete Murpel, der wieder vom Anblick des
'kindlichen Wesens' gefangen genommen ward. Ohne in seiner
Aufmerksamkeit nachzulassen, kramte er aus seinen Taschen Tabak,
Blättchen und ein Feuerzeug, die Finger hantierten in voller
Selbständigkeit. Kurz vor dem leckenden Verschließen
noch ein paar Körnchen guten Afgans, dann fauchte das
voluminöse Benzinfeuerzeug, Marke 'Pyromania'. Murpel nahm
hörbar einen kräftigen Zug und gab ihn in kleinen
wirbelnden Stößen durch die Nase wieder von sich.
Oblomow hatte schon sein Pfeifchen aus dem Bild genommen -
praktisch: unbenutzt ganz flach - das Geschenk eines belgischen
Freundes, der meinte jedoch, es sei keine Pfeife. Entspannung
breitete sich aus, Oblomow nickte mit dem langsam erkaltenden
Tabakkocher ein, während Murpel weiter in seinen Taschen
grub: Notizblock, einige Stifte, Patronen, drei Pässe, ein
Korkenzieher und... ach ja, der Brief aus dem Postfach. Die
Erinnerung an die mittägliche Szene kam ihm wie aus einer
längst vergangenen Zeit vor. Auf dem Umschlag Ms. Adresse,
kein Absender, vorsichtiges Öffnen - man weiß ja nie.
Ein weiterer Umschlag, festes bräunliches, ehemals
weißes, Bütten, darin ebensolches Briefpapier, drei
Seiten krakelig beschrieben. Oblomow begann im Schlaf zu murmeln,
was sich angestoßen, in ein näselnden Schnarchen
verwandelte.
"An
die... Nachwelt" (rechts am Rand): "Burghölzli, den 1.
Jänner 1914".
"Werther Leser, es mag Dir jaa nicht wichtich erscheinen, soll
ja Krieg geben, wie's unten im Dorffe heisst..."
Murpel mußte sich erst an die eigenwillige
Orthographie gewöhnen, er las mit wachsendem Interesse
weiter:
"... im Dorfe heißt. Der Professor sagt ja, ich
wäre verrückt - dementia praecox - verrückt,
verrückt? ...wär er doch verrückt, auf meinen
Platz gerückt als dieses Vieh durchs Fenster schaute ...
durchs Fenster genau in seinem Rücken, dieses Vieh mit zwei
Köpfen, weiß und grün ...hätte er doch
hingehört, anstatt mich nach Datum und anderen
Nebensächlichkeiten zu fragen, von flüchtigen Ideen,
Wahngebilden und Halluzinationen zu faseln. Ich, ich, ich
hörte doch diese hellen Stimmen, fühlte den Blick -
einen Blick aus vier Augen der mich erzittern ließ, ich
hörte den Blick und fühlte die Stimmen, welche ich
nicht verstand, biß mir in den Handrücken, auf dem
sich ein Flaum weiß-grüner Härchen bildete. Was
dann geschah, weiß ich nicht mehr, erwachte nur frierend im
Wannenbad. Ochsenknecht - der Pfleger - starrte mich mit seinen
roten Jägermeisteraugen an, aber er sah mich nicht. Den Mund
geöffnet, ein erstarrter, stummer Schrei, vom Kragen liefen
zwei, drei rote Fäden über den grauen Kittel, die unten
am Boden sich zu einem feuchten Gewebe verstrickten.
Und plötzlich hörte ich diese Stimme, es war wie:
'Medardos, komm!' Zwei Wannen weiter kreischte Erwin auf, er der
seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesprochen, rief nach seiner
Mutter. Der Schrei kam aber nicht gegen die
lüstern-flüsternde Aufforderung an, wenn ich ihr doch
nicht gefolgt wäre, das Versprechen war zu verlockend. Diese
schwarzen Augen! Wer sprach, wer schaute - zwei oder vier Augen?
Ich schau aber nicht in den Spiegel. Da werd' ich immer so
beobachtet. Beobachter sind immer unterwegs, schlafen nie"
(unleserlich) 11... nieder mit ihnen, aber ich kenn sie: die
grünen, weißen und schwarzen. Ludwig fragt immer, wer
beobachtet die Beobachter? - Ich, ich, ich..?..hci, hci ebierhcs"
(Es folgte eine halbe Seite unleserliches Gekrakel).
"Burghölzli, du Paradies, angesichts dessen, was ich
erleben mußte und vor dem ich Dich - lieber Leser - warnen
möchte. Achte der Zeichen....."
Mit einem lauten Krachen fiel Oblomow vom Stuhl. Bevor
noch Murpel ihm aufhelfen konnte, wuselten der Kellner und das
Trollwesen vom Nebentisch heran, zerbrachen die Biergläser
und verbreiteten ein absolutes Chaos. Ein neuer Stuhl, Ruhe
kehrte ein. Oblomow sah etwas verdattert seinen Partner an, der
gerade wütend losschimpfen wollte, als er, von einer
unheimlichen Ahnung gepackt, den Brief suchte - er war
verschwunden, ebenso wie das 'koboldhafte Kind' von nebenan.
Ärger verwandelte sich in Zorn, ein Grasbüschel lugte
durch die Diele, ein falscher Schritt und Murpel lag zu
Füßen Prof. Tegaips. Bebendes Tremolo in der Stimme:
"Wo ist es .. wo ist er hin?" Der Prof. schien einer Antwort
nicht mächtig, glasigen Blickes gab er nur
Unverständliches von sich. Die Karaffe leer - von wegen
Waldmeister, grüner mongolischer
Frühlingswodka!
Außer sich über den verschwundenen Troll,
den Brief, über sein Mißgeschick und die ganze
vertrackte Situation schnaubte Murpel, sich aufraffend, seinem
anderen Ich zu, packte Oblomow am Kragen, wollte schon
losbrüllen, da fiel sein Blick, mit wenigen Resten dem
Realitätsprinzip gehorchend, auf den zerbrochenen Stuhl.
"Angesägt!.." flüsterte er dem immer noch sprachlosen
Partner zu. Beide nahmen visuelle Witterung auf, nichts schien
verändert, keiner beachtete sie und doch... die Drehtür
war verschwunden, es gab weder Ein- noch Ausgang. Ruhe bewahren,
erst 'mal eine drehen, G'tt sei Dank, der Tabak samt Utensilien
lag noch auf dem Tisch, nur etwas klebrig vom verschütteten
Bier.
Sie beäugten die Gäste genauer, biedere
Leute, etwas feist und teigig vielleicht, vereinzelt fisch- oder
triefäugig, kein junges Volk. Alle löffelten in ihren
Schüsseln, vorhin auch schon? Sicher nicht! Jetzt jedoch
löffelten sie gelblichen Brei aus grauen,
gratiggeränderten Schüsseln, ihre Gesichter wandelten
sich unvermerkt: spitzbübisches bis höhnisches
Lächeln auf zahnlosen Greisengesichtern. Einige erhoben
sich, kugelten über den Boden, leises, dann immer lauter
werdendes, rhythmisches Löffelschlagen - ein
Höllengetöse. Die Situation wurde kritisch. Wie auf ein
Kommando holten die Greise große, weiße Gebisse aus
ihren Taschen... starke Gebisse. Der Raum verlor seine Konturen,
pulsierte fast. Murpel rückte ganz nah an Oblomow, der
murmelte noch ein "die brauchen keine Zahnspan...", der Rest war
nicht mehr zu vernehmen, die 'Entdoppelung' trat ein. Das
Mauerwerk an der Wand gegenüber, von dem lose Tapetenfetzen
herabhingen, vibrierte, aber nicht durch den Ventilator, der
ebenfalls seinen Rhythmus verloren hatte und nun wie wahnsinnig
in seinen Kugellagern kochte. "Da muß ich durch!" Murpel
riß seinen Browning aus dem Halfter, gab zwei
Warnschüsse ab und raste mit einem Skateboard auf die Mauer
zu. Das kreischend greinende Geschrei schwoll an, Hände
wollten ihn greifen ...noch drei Meter, dem Mantel entriß
die tobende Masse ein paar Fetzen, die Erfindung der
Sollrißstellen bewährte sich. Ohne die Empfindung
eines Widerstandes raste Murpel Oblomow durch die Mauer. Wenig
später - wo auch immer das war - stürzte er, fiel und
fiel.
Ratschlag im
'Traholoval'
Nach ihrem traumhaften Fluchtstart realisierten Murpel
& Oblomow in einer Bushaltestelle. (Anm. der Redaktion 'The
Private Eye': Dortige Erlebnisse mit einem explodierenden
Laserkocher und einem Angriff roter Stöckelschuh erscheinen
in einer der nächsten Nummern) Später fanden sich
M&0 in Rs. Zimmer, etwas euphemistisch Appartement genannt,
wieder. Schreibtisch, Bett, Kochnische und Naßzelle,
etliche Papiere und Bücher - ein Chaos. - "Ist hier
eingebrochen worden?" murmelte Oblomow.
"Nein, hier sieht es immer so aus. Wir müssen
rüber, mal sehen was auf Station los ist."
Es
war noch nicht 21 Uhr, unbehindert gelangten sie nach oben. Sie
lugten ins Zimmer der kleinen Bärin, die Tür war kaum
zu öffnen, sie war im Gespräch, kämpfte sich
gerade durch das zähe, weiße Gespinst feiner
Lügen und Selbsttäuschungen ihrer, sie umgarnenden
Patientin.
Dr. Vischer stand zwischen Tür und Angel in einem
Trigespräch, blätterte in den Haaren und raufte sich
den Terminkalender, vergaß dabei aber nicht, unsere beiden
Freunde zu grüßen. Im Stationszimmer hektisches
Treiben, eine Axt lag in der Ecke, Die Märchenfiguren - so
erfuhren sie - hatte sich in eine Wäschekammer verkrochen.
Selbst Dr. Grimm bekam nur unzusammenhängendes Gefasel von
Katz' und schwarzen Augen aus ihnen heraus.
Balintgemäß arbeitete das Team ihre
Gegenübertragungen durch und griff zur Axt. Die
Wäschezimmertür splitterte - herrliches
Geräusch!
Ein sonst zu allerlei Schabernack aufgelegter Troll hockte
winselnd in der Ecke, der 'mutige Jüngling' schien durchaus
das Fürchten gelernt zu haben. Selbst Hänsel und Gretel
versteckten sich unter dem Rock der Hexe und das will schon etwas
heißen.
Auf der anderen Station ebenfalls nichts Neues
über R. Oblomow stibitzte sich noch einen Negerkuß,
knapp verfehlte ihn ein präpharmakologischer
Beruhigungshammer. In Rs. Klause zurückgekehrt,
öffneten Murpel & Oblomow den Kleiderschrank, schoben
die Anzüge beiseite und betraten durch einen schmalen
Durchgang ihr eigenes Reich.
Es
hatte die Ausmaße einer großen Scheune, durch die
Aufteilung in verschiedene Ebenen, diverse Schränke, Regale,
Spiegel und Geräte schien der Raum fürchterlich
unübersichtlich. Von der Decke hingen Schnüre, zog man
an ihnen, so polterten gebündelte Akten, Zeitungsausschnitte
und Manuskripte herab. Viele kleine Tischlampen erzeugten ein
diffus gelbes Licht. Oblomow ging in die hinterste rechte Ecke zu
einem voluminösen Kühlschrank, natürlich mit
Karabinerverschluß, hatte er aus einer amerikanischen
Familienserie der fünfziger Jahre geklaut. Mit einem
großen Glas Milch und einem Stück Marmorkuchen kam er
zurück. - "Mußt Du immer fressen?" muffte ihn Murpel
an, der sich gerade an einem präzusischen Computer zu
schaffen machte. "Ich geh' mal unsere letzten Fälle durch,
vielleicht finde ich da etwas, woran R. gearbeitet haben
könnte. Setz' Du das Traholoval in Gang, Zebulon könnte
uns auch helfen."
Oblomow nickte, stellte seinen Teller beiseite und räumte
in der Mitte des Raumes ein Oval frei, im Parkett zeigte sich nun
eine solchermaßen verlaufende Schiene. Er trat beiseite,
schloß die Augen, legte die rechte Hand an den Hinterkopf
und gab einen leisen Singsang von sich. Das Oval versank, wenig
später kehrte der Boden zurück: zwei Meter über
der Mitte schwebte eine kleine blaue, selbstleuchtende Wolke. Um
diese herum standen fünf Schaukelstühle und ein Kissen
- irgendwie orientalisch und nicht ganz real. Ein sonores
Schnurren erfüllte den Raum. Murpel wandte sich um: "Du
sollst noch nicht schlafen". Das Schnurren verschwand. Oblomow
rekelte sich behaglich in einem Schaukelstuhl, die weiße
Nachtbrille bereits auf der Nase. Murpel nahm zwei Sessel weiter
platz. "Wir werden erst dialieren und dann Zebulon treffen, der
weiß ja schon bescheid." Wieder ein leiser Singsang, Murpel
und Oblomow doppelten jeweils, aber monomorph. Das sonore
Schnurren erklang erneut, Zebulons Schatten ruhte auf dem
Kissen.
Ihm selbst - noch als Schatten wirkte dieser angegraute
schwarze Kater mächtig und unnahbar - war es ja nicht
vergönnt, den Büchersaal in Murpelpotanien zu
verlassen. Damals als das große Erdbeben diese friedliche,
aber nicht streitunlustige Kultur zerstörte, befand er sich
allein im 'Saal'. Dieser stammt aus der Zeit als es auf der Erde
noch Riesen gab; einer blies das letzte Ei des Phönix aus,
die Murpel errichteten daraus ihre 'Heilige Bibliothek', sie war
unzerstörbar. Bis ins 15. Jh. wußten nur einige
Bergschäfer um dieses Ei in den Höhen der
transsylvanischen Karpaten. Später dann kamen immer mehr
Neugierige, Zebulon gingen fast die Veitstanzpastillen aus. Mit
einigen Tricks, über die er selbst heute noch nicht spricht,
gelang es ihm, den Saal in die Schattscheidersche Zeitschneise zu
bringen, eine halbe Minute vor die menschliche Weltzeit. Murpel
träumte einige Jahrzehnte später von diesem Ereignis
und erreichte es sogar, mit Zebulon einen Zwietraum zu
träumen. Um mit Oblomow und anderen Personen einen
gemeinsamen Traumdialog führen zu können, entwarf er
dann das Traholoval. Heute waren sie aber nur zu fünft, der
sechste Stuhl blieb leer.
"Grüß Dich Zebulon, alter Kater, haben wir
Dich sehr in Deinen kabbalistischen Studien gestört?" frug
Murpel wortlos in die Schläferrunde.
"Aber nein, die Sefirot können warten."
Bekanntermaßen arbeitete er an einer Theorie der 'elften
Sefira'. Chaim Ben Chatol, kätzischer Begleiter von Isaak
Luria, hinterließ ein lange verschollenes Manuskript ('Das
Buch vom Thronkissen'), welches der Kater bereits edierte und zur
Grundlage seiner Studien nahm (vgl. 'Cats Research', 3/1967,
p.125-238).
"Ich habe Euch etwas mitgebracht". Vor aller Augen im
Nirgendwo entfaltete sich eine pergamentene Landkarte, eine
Mondlandschaft, über und über mit kleinen Kratzzeichen
versehen. Das war die Schrift der Uslarschen Katzenmütter,
die außer Zebulon und einer grauen Zenkatze aus Kyoto - Mia
Tschu-Lai - niemand mehr entziffern konnte. Murpel hatte sie
nicht mehr gelernt.
"Die großen Pagodenkrater brauchen uns nicht zu
interessieren", begann schweratmig Zebulon seinen Vortrag. "Die
sind längst von Meteoriten zerstört. Nachdem Armstrong
seinen Fuß auf den Mond gesetzt hat, ein 'großer
Schritt für die Menschheit, aber eine Katastrophe für
die Gemeinschaft der Kätzischen, war es uns unmöglich,
bei Vollmond auf die Rückseite des Mondes zu springen, die
übermütigen Katzen von Salem ziehen heute noch ihre
Bahn um den Mars." Dicke Tränen rollten dem alten Kater
über den Bart. "Um die Jahrhundertwende, ich springe einmal
zurück, fand vor dem Obersten Katzengericht 'Notre Chat de
Paris' ein geheimer Prozeß statt. Angeklagt war, soweit mir
bekannt, die Hauskatze von Xantippe, bekanntermaßen die
Frau des Sokrates. Weniger bekannt: sie hatte ein Verhältnis
mit Glaukon, dieser wiederum wurde seinem Lehrmeister
abtrünnig ...
"Zebulon, keine genealogischen Eskapaden!" warf Oblomow
in die sich ereifernde Traumrede. "Bin ja gleich soweit",
schnurrte es zurück. "Glaukon jedenfalls ließ sich mit
magischen Praktiken ein, wollte eine Realchimäre fertigen,
seinen Meister übertrumpfen. Mitten in den Zauber sprang die
oben erwähnte Katze hinein und ward verwandelt. Eine
Verwandlung, die nicht ganz beständig scheint, sonst
wären die unterschiedlichen Angaben über Hörner
und Hufe nicht erklärlich. 'Notre Chat' klagte also Miou
Vert - genau so hieß sie - an, hinter die Delphischen
Spiegel gesprungen zu sein und verbannte sie auf ewige Zeiten -
ich weiß, was das heißt - auf die Rückseite des
Mondes. Ihr damaliger Verteidiger, ein Prager Kater mit Monokel
und Stöckchen - nicht sehr intelligent - gab sich alle
Mühe, aber gegen die elitäre Voreingenommenheit des
Gerichts, dessen Mitglieder sich den alleinigen Zugang sichern
wollten, vermochte er nichts auszurichten. Vert wurde also auf
die Rückseite des Mondes verbannt, wo es keine Spiegel gibt.
Hier unten auf der Karte, da müßte es sein, eine
Höhle im Krater 7/13a. Anscheinend fand sie einen Weg zur
Erde zurück und hat - wie die kreisenden Salemer
träumen - die Delphischen Spiegel verhängt.
"Davon hab' ich nie gehört!" wunderte sich
Oblomow.
"Muß ich, der in der transsylvanischen Verbannung lebt,
Dir erzählen, was die Spiegel für uns bedeuten?" -
Zebulon wurde fuchtig.
"Hört mal auf" warf Murpel 2 ein: "Wenn die Vert
das Opfer eines Justizskandals ist, warum dann die
Schreckensandeutungen im Brief aus Burghölzli und die Panik
unter den Märchenfiguren?" Oblomow 2: "Ich kann da ja nicht
wirklich mitreden, aber stell' Dir einen tumben schweizer
Paranoiker vor, der auf die Rückseite des Mondes fliegt.
Vert hat sich da den Falschen mitgenommen, wozu auch immer. Die
Märchenfiguren - bei der heutigen Phantasie ihrer Leser -
leben in einer ewigen Wiederkehr desselben. Immer frißt der
Wolf die Großmutter, auch wenn er Vegetarier sein
möchte. Kennst Du des grauen Alltag eines Froschkönigs:
rein in den Brunnen, raus aus dem Brunnen, klatsch an die Wand.
Wichtiger scheint mir aber die Ineinanderschiebung von Katz' und
den 'schwarzen Augen'..........
Murpel träumte sich Gehör: "Das heißt
also, Rs. Verschwinden hat entweder nichts mit der Katz' zu tun
bzw, wenn doch, so droht ihm wahrscheinlich von ihr keine
unmittelbare Gefahr". Zustimmendes Geraune. "Wir sollten uns
deshalb auf diesen Troll, diesen Kobold aus dem Café
konzentrieren. Beim nächsten Treffen bitten wir Hanibal
hinzu, der kennt sich auf Friedhöfen ganz gut aus, ich sag'
nur Eastend. Die Geschichte mit den Spiegeln scheint mir
ebenfalls nicht ganz durchsichtig. Morgen forschen wir weiter.
Träumen wir noch einen schönen Traum, Elsa wird uns
wecken, an der traholovalischen Wolke klopfen und Oblomow holt
zum Frühstück frische Brötchen".
Anm. der Redaktion:Zur besseren
Orientierung
Glossar und Literatur:
Biblio-Enzyclopädia-Murpelpotania,
Bd. IX und XXII Enigmata Civitas,
5856 m. Zr. (13.Aufl.)
Dialation: eine spezifische Weise des 'Doppelns' (s. dort),
die drei Einschränkungen unterworfen ist: a) sie kann nur
mit technisch-sensynischer Hilfe vorgenommen werden. Hierzu dient
das 'Traholoval' (s. dort), deren Herkunft und Aufenthalt
ungeklärt ist. b) D. ermöglicht das Träumen im
'kosmos koinos' einer einzelnen Person sowie durch T.
multipersonale Zwieträume unter Einbeziehung von 'Schatten'
(s. dort). c) Doppelungen erfolgen monomorph, d.h. Murpel (u.a.
dopplungsfähige Wesen) verkörpern sich materiell in
identischer Weise, Psyche und Sensyne dagegen doppeln in
resonanz-expotentiellen Spiralen (vgl. Albertus Minimus: Sensyne
und Psyche in dogmen- und dopplungsgeschichtlicher Perspektive
mit besonderer Berücksichtigung einer verschollenen
plotinischen Handschrift, Corpus esoterica Bd.XXXV).
Doppeln: Fähigkeit dividuidischer Wesen, auch Zwielinge
(s. dort) genannt: Murpel, präägyptische Katzen,
Trolobolde, weitere Spezies unbekannt. Das D. erfolgt in zwei
polymorphe Dividuen, die selbst einer weiteren Doppelung nicht
mehr fähig sind, wohl einer Dialation (s.o.). Die
Einzelwesen stehen in telepathischer Verbindung, ohne ihren
psychisch-sensynischen Eigensinn zu verlieren. D. geschieht nur
in eingeschränkter Hinsicht willentlich, taucht besonders in
Entspannungs- und Konflikt- bzw. Spannungssitua.
Eine abschließende Erklärung dieses Phänomens
konnte bislang nicht gefunden werden: vgl. Eisenbügel, F.:
Biomorphogenetische Forschungen zum D.phänomen, Den Haag
1949; Binsschwengel, A.: Existentialanalytische Interpretation
des D., Freiburg 1956; zusammenfassend: Schimmelgroschen, R.:
Diesseits von Natur und Existenz. Das D. in der Murpel-Mystik und
neueren Forschung, S'Gravenhaage 1975. In jüngerer Zeit sind
grundsätzliche Zweifel an der Existenz des Doppelns laut
geworden:
Haupthammer, E.: Autopoiesis und die Illusion des D., Frkf.
1980; Müllernacken, H.. Gab es eine Murpel-Mystik? Albertus
Minimus als Satiriker, Neunkirchen 1982 (Auswahl).
Traholoval: Technisch-sensynische Einrichtung zum
Zwieträumen und Dialation (s. dort). Der etymologische
Ursprung liegt im Dunkeln. 'Tra' deutet auf Traum, 'oval' auf die
Form des Gerätes, von dem sich aber keines derzeit auffinden
läßt. Ob sich 'ho' oder 'holo' auf Hologramm bezieht,
muß bezweifelt werden, da die These 'Schatten' (s.d.) seien
Hologramme, nach den Untersuchungen von Eisenbügel und
Zaumleisten (unveröff.) fehl geht. Ofenholz zufolge war es
Murpel Oblomow, der dieses Gerät unter Mithilfe eines
gewissen Sebulin oder Zebulon (Herkunft unbekannt)
erträumte, Ofenholz konnte seine Forschungen nicht zu Ende
bringen. Ein funktionsuntüchtiges Gerät steht im
'Britischen Museum' in London, bewirkt aber nur schwere
Träume, in denen übersignifikant Katzen auftauchen. Es
dient derzeit einem bekannten Pharmakonzern zur Kontrolle von
Traumphobiemedikamenten. Lit.: Enger, D.: Dysfunktionananlyse und
Modellkonstruktion des T., Braunschweig 1967; Everdung,I.:
Heraklit als Ingenieur. Das antike T., München
1954.
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